Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.76/2020
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

6B_76/2020, 6B_122/2020

Urteil vom 10. März 2020

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Denys, Präsident,

Bundesrichterin van de Graaf,

Bundesrichterin Koch,

Gerichtsschreiber Reut.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

6B_76/2020

Rückzug der Berufung,

6B_122/2020

Gesuch um Wechsel der amtlichen Verteidigung,

Beschwerden gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, I.
Strafkammer, vom 16. Dezember 2019 (SB190271-O/U/jv) und die Präsidialverfügung
des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 9. Januar 2020

(SB190271-O/Z5/tm).

Sachverhalt:

A. 

Das Bezirksgericht Uster sprach A.________ am 4. April 2019 der mehrfachen
sexuellen Handlungen mit Kindern, der mehrfachen Pornografie sowie der
mehrfachen sexuellen Handlungen mit Minderjährigen gegen Entgelt schuldig und
verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 32 Monaten. Den Vollzug der
Freiheitsstrafe schob es zugunsten einer stationären therapeutischen Massnahme
auf.

Gegen diesen Entscheid liess A.________ am 27. Mai 2019 durch seinen amtlichen
Verteidiger, Rechtsanwalt B.________, Berufung beim Obergericht des Kantons
Zürich erklären. Er beschränkte seine Berufung auf den Antrag einer milderen
Strafe, die Anordnung einer ambulanten statt der ausgesprochenen stationären
Massnahme sowie die Liquidation der Kosten.

B. 

Nachdem am 14. November 2019 der zwischenzeitlich vom Obergericht angeforderte
Therapiebericht der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich über den
Behandlungsverlauf von A.________ eingegangen war, zog der amtliche Verteidiger
die Berufung unter Beilage eines persönlichen Schreibens an A.________ am 18.
November 2019 zurück. Das Obergericht nahm den Parteien darauf die Ladung für
die auf den 21. November 2019 anberaumte Berufungsverhandlung ab. Am 19.
November 2019 kontaktierte A.________ das Obergericht telefonisch und liess
verlauten, er sei weder mit der erfolgten Ladungsabnahme für die
Berufungsverhandlung noch mit dem Rückzug der Berufung einverstanden. Der
amtliche Verteidiger nahm am 9. Dezember 2019 zur Frage des Zustandekommens des
Berufungsrückzugs schriftlich Stellung, woraufhin das Obergericht das Verfahren
am 16. Dezember 2019 als erledigt abschrieb.

C. 

Am 23. Dezember 2019 ersuchte A.________ um Wechsel der amtlichen Verteidigung.
Nach Eingang der diesbezüglichen Stellungnahme des amtlichen Verteidigers wies
das Obergericht das Gesuch mit Präsidalverfügung vom 9. Januar 2020 ab.

D. 

A.________ führt sowohl gegen den Abschreibungsbeschluss als auch gegen die
Präsidialverfügung Beschwerde (in Strafsachen). Er beantragt sinngemäss die
Rückweisung der Angelegenheit an das Obergericht zur Durchführung einer
Berufungsverhandlung und die Bestellung eines neuen amtlichen Verteidigers. Das
Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft haben auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerden betreffen denselben Lebenssachverhalt, die gleichen
Parteien sowie ähnliche oder gleiche Rechtsfragen, weshalb sie zu vereinigen
und gemeinsam zu beurteilen sind (Art. 71 BGG i.V.m. Art. 24 Abs. 2 lit. b BZP;
vgl. BGE 133 IV 215 E. 1).

1.2. Der Beschwerdeführer ist als beschuldigte Person zur Beschwerde
legitimiert (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 1 BGG). Auf seine frist- und
formgerecht eingereichten Rechtsmittel ist unabhängig der
Begründungsanforderungen (vgl. Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG)
einzutreten, da die rechtlichen Mängel geradezu auf der Hand liegen (BGE 142 I
99 E. 1.7.1 mit Hinweis).

2.

2.1. Der Beschwerdeführer bringt vor, sein Anwalt habe gegen seinen Willen die
Verhandlung (gemeint: Berufung) zurückgezogen. Er verlange, dass der Fall vor
Vorinstanz verhandelt und ihm ein neuer Anwalt zur Verfügung gestellt werde. Er
beantrage eine ambulante statt einer stationären Massnahmen und erachte die
diesbezüglichen Chancen als gut. Zudem müssten die Kosten des Verfahrens durch
die Staatskasse übernommen und ihm der PC und sein Handy zurückgegeben werden.
Sein Anwalt habe das Mandat niedergelegt und reagiere weder auf Anrufe noch auf
briefliche Kontaktversuche.

2.2. Der amtliche Verteidiger machte vor Vorinstanz geltend, er und der
Beschwerdeführer hätten bereits am 4. April 2019 eine Vereinbarung getroffen,
wonach eine Berufung nur Sinn ergebe, sofern inskünftig signifikante
Behandlungserfolge vorgewiesen werden könnten. Diese Vereinbarung sei später
seitens des Beschwerdeführers auch nicht in Abrede gestellt worden. Die
Vorinstanz gelangt zum Schluss, es sei nicht ersichtlich, dass der Rückzug der
Berufung entgegen dem ausdrücklichen Willen des Beschwerdeführers erfolgt sein
soll. Zudem äussere sich der eingeholte Verlaufsbericht im Hinblick auf die
Erlangung einer ambulanten Therapie negativ und wenig erfolgsversprechend,
mithin würden die Voraussetzungen hierfür im Ergebnis klar verneint. Es könne
somit auch nicht gesagt werden, dass die Verteidigung fehlerhaft gehandelt
habe. Der Rechtsmittelrückzug sei ohne Willensmängel und damit endgültig
erfolgt (angefochtener Beschluss vom 16. Dezember 2019 S. 3 f.).

3.

3.1. Nach der zu Art. 29 Abs. 3 und Art. 32 Abs. 2 BV ergangenen Rechtsprechung
hat die amtlich verteidigte beschuldigte Person einen grundrechtlichen Anspruch
auf sachkundige, engagierte und effektive Wahrnehmung ihrer Parteiinteressen
(BGE 138 IV 161 E. 2.4 mit Hinweis). Art. 129 StPO kodifiziert als
bundesrechtliche Verfahrensvorschrift den im Übrigen auch in Art. 6 Abs. 3 EMRK
garantierten fundamentalen Grundsatz eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens.
Die von der beschuldigten Person beigezogene (Wahlverteidigung; Art. 127 Abs. 1
und Art. 129 Abs. 1 StPO) oder amtlich bestellte Verteidigung
(Offizialverteidigung; Art. 130 ff. StPO) ist in den Schranken von Gesetz und
Standesregeln allein der beschuldigten Person verpflichtet (Art. 128 StPO). Sie
vertritt somit ausschliesslich private Interessen und hat sich, sofern sie
nicht bereits eine Anklage verhindern kann, für den Freispruch der
beschuldigten Person oder zumindest deren möglichst milde Bestrafung
einzusetzen (BGE 138 IV 161 E. 2.5.4; 106 Ia 100 E. 6b; Urteil 1C_340/2018 vom
7. März 2019 E. 5.5; je mit Hinweisen).

Die Verteidigung kann für die beschuldigte Person gültig Verfahrenshandlungen
vornehmen. Dazu zählt das Ergreifen von Rechtsmitteln wie auch deren Rückzug
(Art. 386 Abs. 2 StPO). In den Grenzen einer sorgfältigen und effizienten
Ausübung des Mandats ist die Wahl der Verteidigungsstrategie zwar grundsätzlich
Aufgabe der Verteidigung, sie hat jedoch die objektiven Interessen der
beschuldigten Person möglichst im gegenseitigen Einvernehmen und in Absprache
mit dieser zu wahren (BGE 138 IV 161 E. 2.4; Urteil 1B_110/2013 vom 22. Juli
2013 E. 4.3; je mit Hinweisen; dazu differenzierend WALTER HAEFELIN, Die
amtliche Verteidigung im schweizerischen Strafprozess, 2010, S. 58 ff.).

3.2. Der amtliche Verteidiger zog die Berufung des Beschwerdeführers am 18.
November 2019, mithin drei Tage vor der Berufungsverhandlung zurück.
Gleichzeitig empfahl er sich gegenüber der Vorinstanz als Strafverteidiger für
künftige Fälle. Dem Rückzug legte er ein an den Beschwerdeführer gerichtetes
Schreiben bei ("Rückzug der Berufung"), in welchem er - insbesondere unter
Bezugnahme auf den zwischenzeitlich erstellten Therapiebericht - im Detail
darlegte, weshalb er eine Berufung in Bezug auf die Massnahme wie auch auf die
(nicht angefochtenen) Schuldsprüche als "aussichtslos" bzw. "chancenlos"
erachte. Einzig im Strafpunkt räumte der Verteidiger der Berufung gewisse
Chancen ein. Die Freiheitsstrafe von 32 Monaten bezeichnete er als "streng",
zumal es sich um "Hands-Off-Taten" bzw. "Cam-Sex"-Handlungen mit einem
minderjährigen jungen Mann handle. Die Erfolgsaussichten seien allerdings
derart marginal, "dass sich die Bemühung des Obergerichts für einen weiteren
Prozesstag [...] nicht rechtfertigen würde" (kant. Akten act. 58 und 60).
Soweit aus den Akten ersichtlich, liess der Verteidiger den Therapiebericht
seinem Klienten erst nach dem erfolgten Berufungsrückzug zukommen. Die letzte
Besprechung fand am 30. Oktober 2019 statt (kant. Akten act. 54 und 60).

3.3. Vorliegend sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass der Beschwerdeführer
den Berufungsrückzug nach autonomer Entschliessung abgegeben hätte, nämlich auf
der Grundlage eines allein gebildeten verbindlichen Verzichtswillens. Soweit
sich die Vorinstanz dabei auf eine mehrere Monate zurückliegende Vereinbarung
zwischen Verteidigung und Beschwerdeführer stützt, ist ihr nicht zu folgen.
Denn der vom Verteidiger behaupteten synallagmatischen Verknüpfung von
Berufungsrückzug und Therapiebericht kann keinerlei Bindungswirkung zukommen.
Zunächst übersehen die Vorinstanz wie auch der amtliche Verteidiger, dass sich
die Berufung nicht bloss auf die Frage der Massnahme beschränkte, sondern auch
der Strafpunkt sowie die Kosten angefochten waren. Zudem wäre der Verteidiger
im Sinne einer gewissenhaften Berufsausübung verpflichtet gewesen, den
negativen Therapiebericht vor dem Rückzug der Berufung mit dem Beschwerdeführer
zu besprechen, um anschliessend die Verteidigungsstrategie der veränderten
Ausgangslage anzupassen. Dies drängte sich umso mehr auf, als der
Therapiebericht den vom Beschwerdeführer instruktionsweise berichteten
Fortschritten entgegenstand. Obschon die Verteidigung nicht als blosses
unkritisches "Sprachrohr" ihres Klienten agiert, kann ihr angesichts der im
Berufungsverfahren geltenden Dispositionsmaxime und der Unwiderruflichkeit
eines Berufungsrückzugs abverlangt werden, dass sie sich bei der beschuldigten
Person vergewissert, ob der Rückzug ihrem Willen entspricht. Ein gegen den
ausdrücklichen Willen der beschuldigten Person vorgenommener Rückzug ist a
posteriori aufzuheben (MAURICE HARARI, in: Commentaire romand, Code de
procédure pénale, 2019, N. 14 zu Art. 128 StPO). Der Pflicht zur Information
und Instruktion ist der Verteidiger erst nach erfolgtem Rückzug der Berufung
nachgekommen. Es liegt daher kein wirksamer Berufungsrückzug vor.

4.

4.1. An die vorstehenden Ausführungen geknüpft ist die Frage des Wechsels der
amtlichen Verteidigung. Die Vorinstanz hat unter Hinweis auf die Stellungnahme
des Verteidigers und gestützt auf die Tatsache, dass der Beschwerdeführer
seinen amtlichen Verteidiger noch am 24. Dezember 2019 in anderer Sache
bevollmächtigt hatte, ein erheblich gestörtes Vertrauensverhältnis im Sinne von
Art. 134 Abs. 2 StPO verneint und das Gesuch um Wechsel der amtlichen
Verteidigung abgewiesen (angefochtene Verfügung S. 2).

4.2. Unabhängig von der Frage, ob die Vorinstanz nach erfolgter Abschreibung
des Berufungsverfahrens noch für das Gesuch über den Wechsel der amtlichen
Verteidigung überhaupt zuständig war, ruft das Vorgehen des Verteidigers
erhebliche Bedenken hervor. Denn der Verteidiger legte gegenüber der Vorinstanz
nicht nur die Verteidigungsstrategie offen, sondern äusserte klare Zweifel an
den Erfolgsaussichten der Berufung. Beides entsprach offensichtlich nicht den
Interessen des Beschwerdeführers wie auch dessen Vertrauen auf Diskretion des
ihm bestellten Verteidigers (vgl. BGE 138 IV 161 E. 2.5.4; 117 Ia 341 E. 6a; je
mit Hinweisen). Bereits aus diesem Grund muss davon ausgegangen werden, dass
der Verteidiger mit dem Berufungsrückzug primär nicht die Interessen seines
Mandanten vertrat, sondern vielmehr darum besorgt war, durch eine Berufung
etwaigen Erwartungen nicht gerecht zu werden. Wäre es dem Verteidiger
unzumutbar gewesen, unter den gegebenen Umständen den Standpunkt des
Beschwerdeführers vor der Berufungsinstanz zu vertreten, hätte er die
Verfahrensleitung um Entlassung aus dem amtlichen Mandat ersuchen können, wobei
er sich aufgrund der Treue- und Geheimhaltungspflichten der für den
Beschwerdeführer belastenden Umstände zu enthalten gehabt hätte (vgl. HAEFELIN,
a.a.O., S. 170).

4.3. Integrität und Zuverlässigkeit des Verteidigers sowie die Pflicht zur
Verschwiegenheit sind die Grundbedingungen für eine wirksame Wahrnehmung der
Parteiinteressen. Nach dem oben Dargelegten ist erstellt, dass der Verteidiger
mit seiner Vorgehensweise den Beschwerdeführer nicht angemessen verteidigt hat.
Eine wirksame Verteidigung ist nicht mehr gewährleistet. Die Verfahrensleitung
der Vorinstanz wird daher im Hinblick auf die Weiterführung des
Berufungsverfahrens die amtliche Verteidigung einer anderen Person übertragen
müssen.

5. 

Die Beschwerden sind gutzuheissen. Die Sache ist zur Neubestellung einer
amtlichen Verteidigung und zur Durchführung des Berufungsverfahrens an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (Art. 66 Abs. 4
BGG). Dem nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer ist keine
Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 68 BGG; BGE 133 III 439 E. 4).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Verfahren 6B_76/2020 und 6B_122/2020 werden vereinigt.

2. 

Die Beschwerden werden gutgeheissen. Die Entscheide des Obergerichts des
Kantons Zürich vom 16. Dezember 2019 und vom 9. Januar 2020 werden aufgehoben
und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

3. 

Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4. 

Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 10. März 2020

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: Reut