Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.19/2020
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

1B_19/2020

Urteil vom 27. Januar 2020

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Chaix, Präsident,

Bundesrichter Kneubühler, Bundesrichterin Jametti,

Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

Beschwerdeführer,

vertreten durch Advokat Dr. Nicolas Roulet,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt,

Binningerstrasse 21, Postfach 1348, 4001 Basel.

Gegenstand

Untersuchungshaft,

Beschwerde gegen den Entscheid des

Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt,

Einzelgericht, vom 3. Dezember 2019 (HB.2019.69).

Sachverhalt:

A. 

Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt führt gegen A.________ wegen eines Vorfalls
vom 27. Mai 2018 im "Club X.________" in Basel eine Strafuntersuchung wegen
versuchter vorsätzlicher Tötung und Raufhandels. A.________ wurde am 27. Mai
2018 festgenommen, am 29. Mai 2018 in Untersuchungshaft versetzt und am 31. Mai
2018 aus der Haft entlassen.

Wegen eines Vorfalls vom 13. Oktober 2018 im "Club Y.________" in Oberentfelden
/AG eröffnete die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau ein Strafverfahren gegen
A.________ wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und Raufhandels. A.________
wurde am 31. Oktober 2018 verhaftet und anschliessend in Untersuchungshaft
versetzt.

Am 28. Juni 2019 übernahm die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt das Aargauer
Verfahren und vereinigte es mit dem bei ihr hängigen Verfahren.

Am 13. November 2019 stellte A.________ ein Haftentlassungsgesuch. Die
Staatsanwaltschaft beantragte, es abzuweisen. Am 26. November 2019 wies das
Zwangsmassnahmengericht des Kantons Basel-Stadt den Antrag der
Staatsanwaltschaft ab und ordnete an, A.________ sei aus der Haft zu entlassen,
sobald er seinen türkischen Reisepass und seine schweizerische
Aufenthaltsgenehmigung bei der Staatsanwaltschaft hinterlegt sowie eine Kaution
von Fr. 10'000.-- geleistet habe.

Am 3. Dezember 2019 hiess das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt die
Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen diese Verfügung des
Zwangsmassnahmengerichts gut, hob sie auf und stellte fest, dass gegen
A.________ bis zum 20. Dezember 2019 Untersuchungshaft angeordnet sei. Sie
wurde zwischenzeitlich weiter verlängert.

B. 

Mit Beschwerde vom 9. Januar 2020 beantragt A.________, diesen Entscheid
aufzuheben und ihn, eventuell unter Auferlegung von Ersatzmassnahmen, aus der
Haft zu entlassen. Subeventuell sei die Sache ans Appellationsgericht
zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung.

C. 

Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde und das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege abzuweisen.

Der Beschwerdeführer hält in seiner Replik an der Beschwerde fest.

Erwägungen:

1. 

Angefochten ist der kantonal letztinstanzliche Haftentscheid des
Appellationsgerichts. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach den Art.
78 ff. BGG gegeben. Der Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids und
Haftentlassung ist zulässig (BGE 132 I 21 E. 1). Der Beschwerdeführer ist durch
die Verweigerung der Haftentlassung in seinen rechtlich geschützten Interessen
betroffen und damit zur Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 BGG). Er macht die
Verletzung von Bundesrecht geltend, was zulässig ist (Art. 95 lit. a BGG). Die
weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass
auf die Beschwerde eingetreten werden kann.

2. 

Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Es ergebe
sich aus den Ausführungen des Vorderrichters nicht, auf welche Aktenstellen er
seine Vorwürfe stütze, es fänden sich kaum Hinweise auf solche. Der Einwand ist
unbegründet, aus den Ausführungen des angefochtenen Entscheids ergibt sich mit
ausreichender Klarheit, aus welchen Gründen die Untersuchungshaft fortzusetzen
ist. Dass der im Strafverfahren von einem amtlichen Verteidiger und einem
Privatverteidiger vertretene Beschwerdeführer für die Beschwerdeerhebung ans
Bundesgericht einen neuen Rechtsvertreter beizieht, ist zwar sein gutes Recht.
Es ist dann aber dessen Sache, sich die dafür erforderlichen Aktenkenntnisse
anzueignen, selbst wenn die Staatsanwaltschaft die Akten noch nicht
abschliessend geordnet haben sollte.

An Trölerei grenzen die Vorwürfe, aus einzelnen, vor Monaten ergangenen,
angeblich fragwürdigen Verfahrenshandlungen der Kantonspolizei Aargau ergäbe
sich eine Verletzung des Fairnessgebotes, da sich die Vorinstanz auf daraus
gewonnene Erkenntnisse stütze. Der Beschwerdeführer hat diese
Verfahrenshandlungen nicht angefochten, obwohl er dies hätte tun können (Art.
393 Abs. 1 lit. a BGG); er kann sie daher im Haftprüfungsverfahren nicht neu in
Frage stellen. Dazu kommt, dass sie für den Ausgang des bundesgerichtlichen
Verfahrens auch nicht erheblich sind.

3. 

Untersuchungshaft kann unter anderem angeordnet werden, wenn ein dringender
Tatverdacht in Bezug auf ein Verbrechen oder Vergehen sowie Fluchtgefahr
besteht (Art. 221 Abs. 1 StPO).

3.1. Der Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer bezieht sich auf folgende zwei
Vorfälle:

In der Nacht vom 26. auf den 27. Mai 2018 feierten mehrere Personen mit
dominikanischen Wurzeln im vom Beschwerdeführer geführten "Club X.________" in
Basel einen dominikanischen Feiertag. In den frühen Morgenstunden kam es zu
einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen dem Beschwerdeführer und einem
Gast. Dieser Auseinandersetzung schlossen sich mehrere Besucher und Bekannte
des Beschwerdeführers an, wobei auf beiden Seiten Messer eingesetzt wurden. Bei
der Messerstecherei wurden mehrere Personen teils lebensgefährlich verletzt.
Nach den Aussagen von B.________, der lebensgefährlich verletzt wurde, wurden
ihm die Stichverletzungen vom Beschwerdeführer zugefügt. An zwei
sichergestellten Küchenmessern wurde an den Klingen Blutspuren von B.________
und an den Griffen DNA-Spuren des Beschwerdeführers sichergestellt. Damit ist
der Beschwerdeführer offenkundig dringend verdächtig, sich am Raufhandel
beteiligt und auf B.________ eingestochen zu haben. Der Beschwerdeführer
bestreitet das nicht substantiiert, sondern hält einen Schuldspruch wegen
versuchter Tötung immerhin für möglich.

Beim zweiten Vorfall kam es am 13. Oktober 2018 kurz vor Mitternacht im
kurdischen "Club Y.________" in Oberentfelden zu einer tätlichen
Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen. Dabei wurden mehrere Schüsse
abgegeben, wobei drei Personen durch Schussverletzungen lebensgefährlich
verletzt wurden.C.________, D.________ und E.________ bestätigten, dass der
Beschwerdeführer entgegen seiner Aussage zur Tatzeit am Tatort war. Letzterer
sah zudem eine Waffe in seiner Hand. E.________ bestätigte, dass der
Beschwerdeführer während der Auseinandersetzung geschossen habe, zog diese
Aussage später wieder zurück, wobei er allerdings nicht erklärte, weshalb er
zunächst falsch ausgesagt haben soll und wer für ihn das nicht von ihm selber
stammende Widerrufsschreiben verfasst hatte. Damit haben fünf Personen die
Anwesenheit des Beschwerdeführers zur Tatzeit am Tatort bestätigt, einer hat
eine Waffe in seiner Hand gesehen und einer bezeichnete ihn als Schützen. Auch
wenn letzterer seine Aussagen widerrufen hat und die übrigen Aussagen nicht
völlig widerspruchsfrei sein mögen, so konnte das Appellationsgericht ohne
Verletzung von Bundesrecht davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer dringend
verdächtig ist, sich an der Auseinandersetzung beteiligt und dabei geschossen
zu haben.

Der dringende Tatverdacht bezieht sich auf (versuchte) vorsätzliche Tötungen,
mithin Verbrechen (Art. 111 Abs. 2 StGB i.V.m. Art. 10 Abs. 2 StGB), womit der
allgemeine Haftgrund erfüllt ist.

3.2. Für die Annahme von Fluchtgefahr genügt nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichts die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe für sich allein
nicht. Eine solche darf nicht schon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der
Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen konkrete Gründe dargetan
werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich
erscheinen lassen. Die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe kann immer nur
neben anderen, eine Flucht begünstigenden Tatsachen herangezogen werden (BGE
125 I 60 E. 3a; 117 Ia 69 E. 4a; 108 Ia 64 E. 3; 107 Ia 3 E. 6).

Der Beschwerdeführer hat für den Fall einer Verurteilung mit einer
empfindlichen, mehrjährigen Freiheitsstrafe zu rechnen, was einen starken
Fluchtanreiz darstellt. Er ist Staatsangehöriger der Türkei und auch dort
aufgewachsen. Viele seiner Verwandten, mit denen er regen Austausch pflegt,
wohnen dort. In der Schweiz hat er keine familiären Bindungen, und über die
GmbH, deren alleiniger Geschäftsführer er war, ist der Konkurs eröffnet worden.
Er verkehrt offenbar vor allem im Kreis seiner kurdischen Landsleute. Er hat
sich früher auch schon in Zypern oder Griechenland aufgehalten. Es ist unter
diesen Umständen schlechterdings nicht ersichtlich, was ihn von einer Flucht
abhalten könnte, zumal ihm im Fall einer Verurteilung ohnehin eine
obligatorische Landesverweisung droht (Art. 66a Abs. 1 lit. a StGB). Daran
vermag der Umstand nichts zu ändern, dass er nach seiner ersten Haftentlassung
nicht floh. Möglicherweise hat er damals den Ernst der Lage nicht erkannt, weil
er trotz des schwerwiegenden Vorwurfs bereits nach wenigen Tagen wieder aus der
Untersuchungshaft entlassen worden war. Das Appellationsgericht hat
Fluchtgefahr zu Recht bejaht.

3.3. Der Beschwerdeführer macht geltend, selbst wenn man von Fluchtgefahr
ausgehen wolle, könne diese durch eine Schriftensperre und eine Kaution gebannt
werden, weshalb die Fortsetzung der Untersuchungshaft unverhältnismässig sei.
Dem kann nicht gefolgt werden. Innerhalb Europas ist ein Grenzübertritt ohne
Ausweispapiere leicht möglich, und zur Vermeidung einer mehrjährigen
Freiheitsstrafe könnte der Beschwerdeführer durchaus geneigt sein, eine Kaution
verfallen zu lassen. Ersatzmassnahmen im Sinn von Art. 237 Abs. 1 und 2 StPO
sind daher vorliegend nicht geeignet, den Beschwerdeführer von einer Flucht
abzuhalten.

Dass die Fortsetzung der Haft in zeitlicher Hinsicht unverhältnismässig wäre,
macht der Beschwerdeführer zu Recht nicht geltend. Deren Dauer von bisher rund
15 Monaten kommt nicht in die Nähe der für den Fall einer Verurteilung zu
erwartenden Strafe, und es ist auch nicht ersichtlich, dass die Untersuchung
nicht mit der gebotenen Beschleunigung vorangetrieben worden wäre; sie steht
vielmehr kurz vor dem Abschluss.

4. 

Die Beschwerde erweist sich somit als unbegründet und ist abzuweisen. Damit
wird an sich der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat
indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt,
welches gutzuheissen ist, da die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos
war und die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers ausgewiesen scheint (Art. 64
Abs. 1 und 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 

Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen:

2.1. Es werden keine Kosten erhoben.

2.2. Advokat Nicolas Roulet wird für das bundesgerichtliche Verfahren als
amtlicher Verteidiger eingesetzt und mit Fr. 1'500.-- aus der
Bundesgerichtskasse entschädigt.

3. 

Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Basel-Stadt und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. Januar 2020

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Chaix

Der Gerichtsschreiber: Störi