Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.792/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

8C_792/2019

Urteil vom 28. Februar 2020

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichterin Heine, präsidierendes Mitglied,

Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,

Gerichtsschreiber Nabold.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ronald E. Pedergnana,

Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen,

Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Invalidenversicherung (Massnahme beruflicher Art),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 22. Oktober 2019 (IV 2018/266).

Sachverhalt:

A. 

Der 1958 geborene A.________ war zuletzt als Kaminbauer erwerbstätig gewesen,
als er sich am 5. Mai 2014 unter Hinweis auf einen am 4. November 2013
erlittenen Unfall bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug anmeldete.
Die IV-Stelle gewährte dem Versicherten zunächst Eingliederungsmassnahmen in
Form einer Arbeitsvermittlung, verneinte aber mit Mitteilung vom 10. November
2015 einen Anspruch auf weitere berufliche Massnahmen. Am 5. Juni 2016 machte
der Versicherte erneut einen Anspruch auf Umschulung geltend. Nach Durchführung
des Vorbescheidverfahrens lehnte die IV-Stelle mit Verfügung vom 17. Februar
2017 einen solchen Anspruch ab. Eine vom Versicherten hiegegen erhobene
Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid
vom 26. Juli 2017 gut und wies die Sache zu weiteren Abklärungen an die
IV-Stelle zurück. Nach Vorliegen des Gutachtens der SMAB AG vom 26. Februar
2018 lehnte die IV-Stelle mit Verfügung vom 20. Juni 2018 das Begehren des
Versicherten um berufliche Massnahmen ab.

B. 

Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht
das Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 22. Oktober 2019 gut, soweit sie einen
Anspruch auf Arbeitsvermittlung betraf. In Bezug auf einen Umschulungsanspruch
wies das kantonale Gericht die Beschwerde ab.

C. 

Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
die IV-Stelle sei zu verpflichten, ihn umzuschulen; eventuell sei die Sache an
die Vorinstanz zu weiteren Abklärungen zurückzuweisen oder es sei gerichtlich
festzustellen, dass das Beschleunigungsgebot nicht eingehalten worden sei, was
bei der Verteilung der vorinstanzlichen Prozesskosten zu berücksichtigen sei.

Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen und das Bundesamt für Sozialversicherungen
verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 

1.1. Die Voraussetzungen der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten sind grundsätzlich gegeben (Art. 82 lit. a, Art. 83 e contrario
, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2, Art. 89 Abs. 1, Art. 90 und Art. 100 Abs. 1
BGG). 

1.2. Das Bundesgericht wendet das (Bundes-) recht von Amtes wegen (Art. 106
Abs. 1 BGG; BGE 143 V 19 E. 2.3 S. 23 f.) und mit uneingeschränkter (voller)
Kognition an (Art. 95 lit. a BGG; BGE 141 V 234 E. 2 S. 236). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).

1.3. Das Bundesgericht kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
Überdies muss die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG).

Die beschwerdeführende Partei, welche die Sachverhaltsfeststellungen der
Vorinstanz anfechten will, muss substanziiert darlegen, inwiefern die
Voraussetzungen einer Ausnahme gemäss Art. 105 Abs. 2 BGG gegeben sind und das
Verfahren bei rechtskonformer Ermittlung des Sachverhalts anders ausgegangen
wäre; andernfalls kann ein Sachverhalt, der vom im angefochtenen Entscheid
festgestellten abweicht, nicht berücksichtigt werden (BGE 140 III 16 E. 1.3.1
S. 18 mit Hinweisen).

2. 

Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt hat,
als es - wie von der IV-Stelle verfügt - einen Anspruch auf Umschulung
verneinte.

3. 

3.1. Der Versicherte hat gemäss Art. 17 Abs. 1 IVG Anspruch auf Umschulung auf
eine neue Erwerbstätigkeit, wenn die Umschulung infolge Invalidität notwendig
ist und dadurch die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten oder verbessert
werden kann. Unter Umschulung ist dabei rechtsprechungsgemäss grundsätzlich die
Summe der Eingliederungsmassnahmen berufsbildender Art zu verstehen, die
notwendig und geeignet sind, der vor Eintritt der Invalidität bereits
erwerbstätig gewesenen versicherten Person eine ihrer früheren annähernd
gleichwertige Erwerbsmöglichkeit zu vermitteln. Dabei bezieht sich der Begriff
der "annähernden Gleichwertigkeit" nicht in erster Linie auf das
Ausbildungsniveau als solches, sondern auf die nach erfolgter Eingliederung zu
erwartende Verdienstmöglichkeit. In der Regel besteht nur ein Anspruch auf die
dem jeweiligen Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen, nicht
aber auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen Vorkehren. Denn das
Gesetz will die Eingliederung lediglich so weit sicherstellen, als diese im
Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist (BGE 130 V 488 E. 4.2 S. 489 f.;
Urteil 8C_808/2017 vom 11. Januar 2018 E. 3). Dabei setzt der
Umschulungsanspruch grundsätzlich eine Mindesterwerbseinbusse von rund 20 % in
den für die versicherte Person ohne zusätzliche Ausbildung offenstehenden, noch
zumutbaren Erwerbstätigkeiten voraus (BGE 130 V 488 E. 4.2 S. 489 f., 124 V 108
E. 3 S. 111).

3.2. Der Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen besteht gemäss Art. 8 Abs. 1bis
IVG unabhängig von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vor Eintritt der
Invalidität. Bei der Festlegung der Massnahmen ist die gesamte noch zu
erwartende Dauer des Erwerbslebens zu berücksichtigen. Darunter ist die
verbleibende Zeitspanne zwischen der Anmeldung zum Leistungsbezug bis zum
ordentlichen Pensionierungsalter gemäss Art. 21 Abs. 1 AHVG zu verstehen (vgl.
BGE 143 V 190 E. 7.4 S. 199)

4.

4.1. Das kantonale Gericht hat in seiner Hauptbegründung erwogen, eine
Umschulung des Versicherten wäre zeitlich nicht mehr angemessen, da dieser im
Zeitpunkt der angefochtenen Verfügung, mithin am 20. Juni 2018, bereits 60
Jahre alt gewesen sei. Wie der Beschwerdeführer indessen zu Recht geltend
macht, verstösst diese Argumentation gegen Bundesrecht: Massgebender Zeitpunkt
für die Beurteilung der zeitlichen Angemessenheit im Sinne von Art. 8 Abs. 1bis
Satz 2 IVG ist nicht der Verfügungszeitpunkt, sondern das Datum der
Gesuchstellung (vgl. 3.2 hievor). Der Versicherte meldete sich am 5. Mai 2014
bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an; damals war er noch nicht
ganz 56 Jahre alt und hatte damit noch eine Aktivitätsdauer von etwas über neun
Jahren vor sich.

4.2. Im Sinne einer Eventualbegründung hat die Vorinstanz weiter erwogen,
selbst bei einem hypothetischen Beginn der Umschulung im Zeitpunkt des Unfalls
wäre eine solche, da mindestens vier Jahre in Anspruch nehmend, nicht mehr
verhältnismässig gewesen. Wie der Versicherte dagegen zutreffend einwendet, ist
indessen nicht nachvollziehbar, weshalb die Vorinstanz zwingend von einer
dermassen langen Umschulung ausgeht. Bereits aufgrund des allgemeinen
Verhältnismässigkeitsprinzips wäre vor Inangriffnahme einer Massnahme von
dieser Dauer zu prüfen, ob das Eingliederungsziel nicht auch mit einer kürzeren
Umschulung erreicht werden könnte. Dabei bietet es sich an, wenn immer möglich
von einer Umschulung in ein völlig neues Berufsfeld abzusehen und an die
bereits vorhandenen Kenntnisse und Erfahrungen anzuknüpfen. Eine solche, bloss
ein- oder zweijährige, Umschulung wäre aber - jedenfalls wenn man von den in
der Beschwerde geltend gemachten Ausbildungskosten ausgeht - auch bei einem
56-jährigen Versicherten noch ohne weiteres angemessen.

4.3. Damit hat das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt, als es jeglichen
Umschulungsanspruch des Versicherten aufgrund zeitlicher Unangemessenheit
verneinte. Die Beschwerde ist demgemäss teilweise gutzuheissen und die Sache an
die IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese einen Umschulungsanspruch -
insbesondere einen Anspruch auf eine weniger als vier Jahre dauernde Massnahme
- des Versicherten neu prüfe. Dabei wird sie zu beachten haben, dass es
einerseits in der Tat zu kurz greift, einen solchen Anspruch einzig mit dem
Hinweis auf die volle Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit zu
verneinen. Andererseits ist aber entgegen den bundesrechtswidrigen Erwägungen
der Vorinstanz auch daran zu erinnern, dass der Umschulungsanspruch
grundsätzlich eine Mindesterwerbseinbusse von rund 20 % in den für die
versicherte Person ohne zusätzliche Ausbildung offenstehenden, noch zumutbaren
Erwerbstätigkeiten voraussetzt (vgl. E. 3.1 hievor). Soweit weitergehend ist
die Beschwerde abzuweisen.

5. 

Die Rückweisung der Sache zu erneutem Entscheid gilt für die Frage der
Auferlegung der Gerichtskosten sowie der Parteientschädigung als vollständiges
Obsiegen im Sinn von Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (BGE 141 V 281
E. 11.1 S. 312). Mithin hat die unterliegende IV-Stelle die Gerichtskosten zu
tragen und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung auszurichten.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Dispositivziffern 4, 5 und 6 des
Entscheids des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 22. Oktober
2019 und - soweit den Umschulungsanspruch betreffend - die Verfügung der
IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 20. Juni 2018 werden aufgehoben. Die Sache
wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons St. Gallen zurückgewiesen.
Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 

Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 

Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4. 

Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
zurückgewiesen.

5. 

Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 28. Februar 2020

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Heine

Der Gerichtsschreiber: Nabold