Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.776/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

8C_776/2019

Urteil vom 25. Februar 2020

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Maillard, Präsident,

Bundesrichterinnen Heine, Viscione,

Gerichtsschreiber Jancar.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Rainer Deecke,

Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle für Versicherte im Ausland IVSTA, Avenue Edmond-Vaucher 18, 1203
Genf,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Invalidenversicherung (Verwaltungsverfahren; Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. September
2019

(C-1106/2017, C-757/2019).

Sachverhalt:

A.

A.a. Der 1964 geborene A.________ war seit 1. März 2002 Bauarbeiter bei der
Firma B.________ & Co. Am 17. Januar 2005 erlitt er bei einem Unfall einen
offenen Unterschenkelbruch. Am 28. Juli 2006 meldete er sich bei der IV-Stelle
Zug zum Leistungsbezug an. Am 20. Februar 2008 zeigte er ihr an, er werde von
Rechtsanwalt C.________ vertreten. Am 22. August 2008 stellte die IV-Stelle dem
Versicherten vorbescheidweise die Abweisung seines Leistungsbegehrens in
Aussicht. Diesen Vorbescheid sandte sie uneingeschrieben nur dem Versicherten
an seine Adresse in U.________. Er wurde der IV-Stelle von der Post mit dem
Vermerk "weggezogen" retourniert. Am 4. September 2008 schickte die IV-Stelle
den Vorbescheid uneingeschrieben an die Wohnadresse des Versicherten in
Portugal. Gleiches tat sie mit ihrer diesen Vorbescheid bestätigenden Verfügung
vom 21. Oktober 2008.

A.b. Am 3. Februar 2016 ersuchte der nunmehr durch Rechtsanwalt Deecke
vertretene Versicherte die IV-Stelle Zug, die ihm zustehende Rente zu berechnen
und auszurichten. Er berief sich auf die Verfügung der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (Suva) vom 13. Januar 2016, womit diese ihm ab 1.
Juli 2007 eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 53 % zugesprochen
hatte. Am 9. Februar 2016 überwies die IV-Stelle Zug die Akten der IV-Stelle
für Versicherte im Ausland (IVSTA). Mit Schreiben an Rechtsanwalt Deecke vom
10. März 2016 vertrat die IVSTA die Auffassung, das frühere Gesuch sei mit in
Rechtskraft erwachsener Verfügung vom 21. Oktober 2008 abgewiesen worden. Er
müsse ein neues Gesuch einreichen. Am 6. Januar 2017 erkundigte sich der
Versicherte bei der IVSTA nach dem Verfahrensstand und verlangte Akteneinsicht.
Diese schickte ihm am 16. Januar 2017 die Akten zu. Am 26. Januar 2017 stellte
der Versicherte bei der IV-Stelle Zug das Gesuch um Wiedererwägung ihrer
Verfügung vom 21. Oktober 2008. Sie überwies dieses Gesuch am 7. Februar 2017
der IVSTA.

B.

B.a. Mit Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht vom 20. Februar 2017
beantragte der Versicherte, die Verfügung der IV-Stelle Zug vom 21. Oktober
2008 sei aufzuheben und es seien ihm die Leistungen nach Gesetz, insbesondere
eine Rente, auszurichten (Verfahren C-1106/2017). Am 27. März 2017 sistierte
die Vorinstanz das Verfahren bis zum Entscheid der IVSTA über das
Wiedererwägungsgesuch des Versicherten vom 26. Januar 2017. Am 10. Januar 2019
stellte die IVSTA der Vorinstanz ihre Verfügung vom 4. Januar 2019 zu, womit
sie dem Versicherten ab 1. Februar 2017 eine halbe Invalidenrente zusprach. Am
16. Januar 2019 hob die Vorinstanz die Verfahrenssistierung auf.

B.b. Mit Beschwerde vom 13. Februar 2019 beantragte der Versicherte beim
Bundesverwaltungsgericht die Ausrichtung einer halben Invalidenrente ab 17.
Januar 2006 (Verfahren C-757/2019). Zudem verlangte er die Vereinigung dieses
Verfahrens mit dem Verfahren C-1106/2017, was die Vorinstanz am 18. Februar
2019 tat. Mit Verfügung vom 5. Juni 2019 forderte sie die IVSTA auf, den
Zustellnachweis für die Verfügung der IV-Stelle Zug vom 21. Oktober 2008 und
den dazugehörigen Vorbescheid vorzulegen. Am 1. Juli 2019 teilte die IVSTA mit,
der Zustellnachweis könne nicht erbracht werden. Mit Entscheid vom 23.
September 2019 hiess das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde - soweit es
sie nicht als gegenstandslos abschrieb - insoweit gut, als es die Verfügung der
IVSTA vom 4. Januar 2019 hinsichtlich des Zeitpunkts des Rentenbeginns aufhob
und feststellte, der Versicherte habe ab 1. Februar 2011 Anspruch auf eine
halbe Invalidenrente. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab.

C. 

Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt der
Versicherte, in Aufhebung des Entscheides des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.
September 2019 sei ihm ab 1. Januar 2006 eine halbe Invalidenrente
zuzusprechen.

Die IV-Stelle schliesst auf Beschwerdeabweisung. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 

Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine
Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet
das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es -
offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten
Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung
von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn
die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art.
97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 

Die Vorinstanz legte richtig dar, dass der betroffenen Person aus einer
mangelhaften Eröffnung einer Verfügung kein Nachteil erwachsen darf (Art. 49
Abs. 3 ATSG; BGE 139 IV 228 E. 1.3 S. 232, 134 V 306 E. 4.2 S. 312).
Beizupflichten ist ihr auch, dass der Anspruch auf ausstehende Leistungen oder
Beiträge fünf Jahre nach dem Ende des Monats, für welchen die Leistung, und
fünf Jahre nach dem Ende des Kalenderjahres, für welches der Beitrag geschuldet
war, erlischt (Art. 24 Abs. 1 ATSG; vgl. auch BGE 139 V 244 E. 3.1 S. 246 f.).
Die Frist gemäss Art. 24 Abs. 1 ATSG wird durch eine rechtzeitige Anmeldung im
Sinne von Art. 29 ATSG gewahrt (BGE 133 V 579 E. 4.3.1 S. 583 f.). Zutreffend
wiedergegeben hat die Vorinstanz auch die Rechtsprechung, wonach die
Nachzahlung von Leistungen, auch wenn die Verwaltung fehlerhaft einem bereits
früher hinreichend substanziierten Leistungsbegehren nicht entsprochen hat,
einer absoluten Verwirkungsfrist von fünf Jahren unterliegt, welche rückwärts
ab dem Zeitpunkt der Neuanmeldung berechnet wird (BGE 121 V 195). Darauf wird
verwiesen.

3. 

Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie
den Rentenbeginn auf den 1. Februar 2011 und nicht schon auf den 1. Januar 2006
festsetzte.

Das Bundesverwaltungsgericht erwog im Wesentlichen, der Versicherte habe den
rentenablehnenden Vorbescheid vom 22. August 2008 und die ihn bestätigende
Verfügung der IV-Stelle Zug vom 21. Oktober 2008 nie erhalten bzw. seien nie in
seinen Machtbereich gelangt. Auch die Mitteilung der IVSTA vom 10. März 2016,
sein früher eingereichtes Gesuch sei mit dieser in Rechtskraft erwachsenen
Verfügung abgewiesen worden, sei weder dem Versicherten noch seinem
Rechtsvertreter zugegangen. Die Verfügung der IV-Stelle Zug vom 21. Oktober
2008 habe somiterst mit der Akteneinsicht des Versicherten vom 23. Januar 2017
Wirksamkeit erlangen können. Folglich habe er mit der Beschwerde vom 20.
Februar 2017 die 30-tägige Beschwerdefrist (Art. 60 i.V.m. Art. 38 Abs. 1 ATSG)
gewahrt, weshalb darauf einzutreten sei. Da die Verfügung der IV-Stelle Zug vom
21. Oktober 2008 nie in Rechtskraft erwachsen sei, sei nach wie vor über die
Leistungsanmeldung des Versicherten vom 28. Juli 2006 zu befinden. Somit handle
es sich bei der diese Verfügung ersetzenden Verfügung der IVSTA vom 4. Januar
2019 um eine Wiedererwägung lite pendente (Art. 53 Abs. 3 ATSG bzw. Art. 58
VwVG). Nach seinem Akteneinsichtsgesuch vom 20. Februar 2008 habe sich der
Versicherte erst wieder am 3. Februar 2016 bei der IV-Stelle Zug gemeldet,
nachdem das unfallversicherungsrechtliche Verfahren mit der Suva-Verfügung vom
13. Januar 2016 abgeschlossen worden sei. Er berufe sich auf Vertrauensschutz,
da er davon habe ausgehen dürfen, dass die IV-Stelle Zug bis zu dieser
Suva-Verfügung keine Verfügung erlassen habe bzw. das IV-Verfahren
stillgestanden sei. Diese Auffassung gehe fehl, da es an der Voraussetzung
einer vorbehaltlosen Auskunft der IV-Stelle Zug mangele. Den im Rahmen der
Akteneinsichtsgewährung vom 27. Februar 2008 vorhandenen IV-Akten könne
höchstens entnommen werden, die IV-Stelle Zug habe vor ihrer Verfügung offenbar
den Suva-Entscheid abwarten wollen. Dies genüge aber nicht für die Bejahung des
Vertrauensschutzes, da diese Notizen nicht an den Versicherten gerichtet
gewesen seien. Er hätte sich vielmehr bei der IV-Stelle Zug vergewissern
müssen, dass sie mit ihrer Verfügung bis zum Abschluss des
unfallversicherungsrechtlichen Verfahrens zuwarten würde. Dies gelte umso mehr,
als für die IV ein einfaches und rasches Verfahren vorgesehen sei. Zwischen dem
Akteneinsichtsgesuch vom 20. Februar 2008 und dem Rentengesuch vom 3. Februar
2016 fehle es jedoch an einer fristwahrenden Handlung des Versicherten
gegenüber der IV-Stelle Zug, die als unmissverständliches Beharren auf der
Rente bzw. als Neuanmeldung interpretiert werden könnte. Da die rückwirkende
Leistungsausrichtung der Verwirkungsfrist nach Art. 24 Abs. 1 ATSG unterstehe,
seien alle Ansprüche des Versicherten, die mehr als fünf Jahre vor dem Gesuch
vom 3. Februar 2016 entstanden seien, verwirkt. Somit habe er ab 1. Februar
2011 Anspruch auf eine halbe Invalidenrente.

4.

4.1.

4.1.1. Unbestritten ist die vorinstanzliche Feststellung, die rentenverneinende
Verfügung vom 21. Oktober 2008 sei nie in Rechtskraft erwachsen, weshalb nach
wie vor über die Leistungsanmeldung des Beschwerdeführers vom 28. Juli 2006 zu
befinden sei. Entgegen der Vorinstanz kann somit sein Gesuch vom 3. Februar
2016 um Berechnung und Ausrichtung der Rente nicht im Sinne von BGE 121 V 195
als Neuanmeldung angesehen werden mit der Folge der Verwirkung von
Rentenleistungen, die mehr als fünf Jahre davor entstanden sind (vgl. E. 3
hiervor). Vielmehr ist der Sichtweise des Beschwerdeführers beizupflichten,
dass das von ihm am 28. Juli 2006 angehobene ursprüngliche Verwaltungsverfahren
im Zeitpunkt seines Gesuchs vom 3. Februar 2016 nicht rechtswirksam
abgeschlossen, sondern bis zur lite pendente erlassenen Rentenverfügung der
IVSTA vom 4. Januar 2019 im Gange war. Somit hat er - wie er zu Recht geltend
macht - mit der Leistungsanmeldung vom 28. Juli 2006 die fünfjährige
Verwirkungsfrist nach Art. 24 Abs. 1 ATSG gewahrt (BGE 133 V 579 E. 4.3.1 S.
583 f.; UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, N. 30 f. zu Art. 24 ATSG).

4.1.2. Nichts zu Ungunsten des Beschwerdeführers folgt entgegen der Vorinstanz
aus der Tatsache, dass er sich seit dem Akteneinsichtsgesuch vom 20. Februar
2008 bis zum Rentenbegehren vom 3. Februar 2016 bei der IV-Stelle Zug nicht
gemeldet hat. Dieser Umstand wäre relevant, wenn zu prüfen wäre, ob die
mangelhaft eröffnete rentenverneinende Verfügung der IV-Stelle Zug vom 21.
Oktober 2008 rechtsbeständig wurde, weil es der Versicherte unterlassen hat,
sich bei ihr innert vernünftiger Frist nach dem Verfahrensstand zu erkundigen
(vgl. BGE 111 V 149 E. 4c S. 150; Urteil 9C_656/2012 vom 22. Mai 2013 E. 5).
Diese Frage stellt sich hier aber nicht, weil das Bundesverwaltungsgericht
letztlich selber davon ausgeht, diese Verfügung sei nie in Rechtskraft
erwachsen (vgl. E. 3 hiervor).

4.2. Der Anspruch des Beschwerdeführers auf eine halbe Invalidenrente ist nicht
strittig.

Nach der im Zeitpunkt seiner Anmeldung zum Leitungsbezug vom 28. Juli 2006
gültig gewesenen (altrechtlichen) Fassung des Art. 29 IVG (ersetzt im Rahmen
der 5. IV-Revision auf den 1. Januar 2008) begann der Rentenanspruch noch ohne
die inzwischen eingeführte Wartezeit nach Geltendmachung des Anspruchs (vgl.
Art. 29 Abs. 1 IVG; siehe auch Urteil 9C_730/2012 vom 4. Juni 2013 E. 4.2). Der
vom Beschwerdeführer bei Ausserachtlassung der Verwirkungsfrist nach Art. 24
Abs. 1 ATSG (vgl. E. 4.1.1 hiervor) beantragte Rentenbeginn ab 1. Januar 2006
ist unbestritten und nicht zu beanstanden.

5. 

Die unterliegende Beschwerdegegnerin trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs.
1, Art. 68 Abs. 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts,
Abteilung III, vom 23. September 2019 und die Verfügung der IV-Stelle für
Versicherte im Ausland vom 4. Januar 2019 werden aufgehoben. Es wird
festgestellt, dass der Beschwerdeführer ab 1. Januar 2006 Anspruch auf eine
halbe Invalidenrente hat.

2. 

Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 

Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4. 

Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Bundesverwaltungsgericht, Abteilung III, zurückgewiesen.

5. 

Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesverwaltungsgericht, Abteilung III,
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 25. Februar 2020

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Jancar