Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.757/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

8C_757/2019

Urteil vom 24. Januar 2020

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Maillard, Präsident,

Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,

Gerichtsschreiber Wüest.

Verfahrensbeteiligte

A.A.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Barmettler,

Beschwerdeführerin,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Unfallversicherung (vorinstanzliches Verfahren),

Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 8.
Oktober 2019 (62/2019/16).

Sachverhalt:

A. 

Mit Verfügung vom 19. Februar 2019 sprach die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (Suva) A.A.________, geboren 1948, eine
Hinterlassenenrente (Witwenrente) zu. Die dagegen erhobene Einsprache, mit
welcher die der Rentenberechnung zu Grunde liegende Höhe des versicherten
Verdienstes beanstandet wurde, wies sie ab (Einspracheentscheid vom 12. Juni
2019). Mit Schreiben vom 13. Juni 2019 liess A.A.________ der Suva durch ihren
Treuhänder unter Bezugnahme auf den Einspracheentscheid mitteilen, im
Zusammenzug der AHV-pflichtigen Löhne fehle für das Jahr 2012 das Einkommen des
verstorbenen B.A.________ aus selbstständiger Erwerbstätigkeit. Dieses
Einkommen müsse für die Bemessung des versicherten Verdienstes mitberechnet
werden. Der Treuhänder hielt weiter fest, das Schreiben sei "nicht als
Beschwerde im Sinne vom Absatz "Rechtsmittel" aus dem Einsprache-Entscheid" zu
betrachten. Vorerst werde um eine Stellungnahme zum Einkommen aus dem Jahr 2012
gebeten. Im Schreiben wurde ausserdem um eine kurze Empfangsbestätigung
ersucht, damit eine allfällige Beschwerde gegen den Entscheid beim zuständigen
kantonalen Versicherungsgericht rechtzeitig innert 30 Tagen seit Zustellung
eingereicht werden könne. Am 10. September 2019 fragte der Treuhänder bei der
Suva per E-Mail bezüglich des Schreibens vom 13. Juni 2019 nach. Dabei monierte
er, dass er nach beinahe drei Monaten noch keine Antwort erhalten habe. In
ihrer Antwort vom 11. September 2019 räumte die Suva ein, dass das erwähnte
Schreiben versehentlich nicht an die zuständige Person weitergeleitet worden
sei. Sie wies darauf hin, dass Einwände gegen den Einspracheentscheid direkt an
das kantonale Versicherungsgericht weitergeleitet würden. Ohne anderslautenden
Gegenbericht werde auch im vorliegenden Fall so verfahren. Nachdem der
Treuhänder sein Einverständnis mit dem vorgeschlagenen Vorgehen erklärt hatte,
leitete die Suva das Schreiben vom 13. Juni 2019 am 17. September 2019 dem
Obergericht des Kantons Schaffhausen mit dem Hinweis weiter, die Beschwerde sei
fälschlicherweise bei der Suva eingereicht worden.

B. 

Das Obergericht gab A.A.________ am 24. September 2019 Gelegenheit, sich zum im
Raum stehenden Erlass eines Nichteintretensentscheids wegen verpasster
Beschwerdefrist zu äussern. Mit Schreiben vom 25. September 2019 erklärte der
Treuhänder namens und im Auftrag von A.A.________, Beschwerde gegen den
Einspracheentscheid vom 12. Juni 2019 zu erheben. Mit Verfügung vom 8. Oktober
2019 trat das Obergericht auf die Beschwerde wegen verpasster Beschwerdefrist
nicht ein.

C. 

Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.A.________
beantragen, die Verfügung des Obergerichts vom 8. Oktober 2019 sei aufzuheben
und die Sache an dieses zurückzuweisen, damit es auf die Beschwerde eintrete.
Eventualiter sei die Sache zur materiellen Bearbeitung an die Suva
zurückzuweisen. Zudem ersucht sie um Sistierung des Beschwerdeverfahrens bis
zum Entscheid der Suva über das Gesuch um Wiedererwägung oder Revision vom 8.
November 2019.

Während die Vorinstanz auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf eine Vernehmlassung. Die Suva hält in ihrer
Stellungnahme fest, sie habe das Begehren um Wiedererwägung oder Revision mit
Schreiben vom 20. November 2019 dahingehend beantwortet, dass sie das Gesuch
derzeit nicht behandeln könne, weil nur formell rechtskräftige Verfügungen
Gegenstand von Revision und Wiedererwägung sein könnten. Betreffend
Nichteintretensentscheid der Vorinstanz verzichte sie auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 

Die Suva hat das Gesuch um Wiedererwägung oder Revision der Beschwerdeführerin
mit Schreiben vom 20. November 2019 beantwortet und darauf hingewiesen, dass
sie es derzeit nicht behandeln könne. Der Sistierungsantrag der
Beschwerdeführerin ist damit gegenstandslos geworden.

2. 

Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist (Art. 97 Abs.
1 BGG) oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht.

3. 

Streitig ist, ob der vorinstanzliche Nichteintretensentscheid wegen
Fristversäumnis vor Bundesrecht standhält. Es stellt sich dabei die Frage, ob
die Beschwerdeführerin mit dem Schreiben vom 13. Juni 2019 einen
Beschwerdewillen bekundete.

4. 

Die Beschwerde muss eine gedrängte Darstellung des Sachverhaltes, ein
Rechtsbegehren und eine kurze Begründung enthalten. Genügt sie diesen
Anforderungen nicht, so setzt das Versicherungsgericht der Beschwerde führenden
Person eine angemessene Frist zur Verbesserung und verbindet damit die
Androhung, dass sonst auf die Beschwerde nicht eingetreten wird (Art. 61 lit. b
ATSG). Dabei wird vorausgesetzt, dass ein Beschwerdeverfahren überhaupt
anhängig gemacht wurde (vgl. BGE 116 V 353 E. 2b S. 356). Die betreffende
Person hat erkennbar zum Ausdruck zu bringen, dass sie mit der erlassenen
Verfügung nicht einverstanden ist und diese durch die Rechtsmittelinstanz
überprüft haben will (vgl. BGE 117 Ia 126 E. 5c S. 131; Urteil 9C_211/2015 vom
21. September 2015 E. 2.2 mit Hinweisen). Gelangt eine rechtzeitig erhobene
Beschwerde an eine unzuständige Behörde, ist sie von dieser ohne Verzug dem
zuständigen Versicherungsgericht zu überweisen (Art. 58 Abs. 3 ATSG) und die
Beschwerdefrist gilt als gewahrt (Art. 60 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 39 Abs.
2 ATSG). Die unzuständige Behörde ist auch bei zweifelhaftem Anfechtungswillen
grundsätzlich zur Weiterleitung der Eingabe verpflichtet, denn es ist Sache des
zuständigen Gerichts zu entscheiden, ob eine Eingabe den rechtlichen
Anforderungen an eine Beschwerde entspricht (Urteil 8C_442/2007 vom 5. Mai 2008
E. 2.3). Die Verletzung der Weiterleitungspflicht ändert - bei gegebenem
Anfechtungswillen - nichts an der fristwahrenden Wirkung der rechtzeitig
erhobenen Beschwerde.

5. 

Die Vorinstanz stellte fest, dem Schreiben vom 13. Juni 2019 sei angesichts der
Aufforderung an die Suva, dieses nicht als Beschwerde zu betrachten (vgl.
Sachverhalt A), kein Beschwerdewille zu entnehmen. Die Suva sei darin lediglich
um eine Stellungnahme gebeten worden. Erstmals ausdrücklich Beschwerde erhoben
worden sei mit Eingabe vom 25. September 2019. Unter Berücksichtigung des
Fristenstillstandes sei die Beschwerdefrist aber bereits am 16. August 2019
abgelaufen. Selbst wenn nicht erst die Eingabe vom 25. September 2019, sondern
bereits das E-Mail des Treuhänders vom 10. September 2019 als Beschwerde
aufgefasst würde, wäre diese demnach verspätet. Das kantonale Gericht verneinte
im Weiteren das Vorliegen von Gründen für eine Fristwiederherstellung. So sei
im Schreiben vom 13. Juni 2019 ein Beschwerdewille ausdrücklich in Abrede
gestellt worden. Mangels zweifelhaften Anfechtungswillens sei die Suva auch
nicht gehalten gewesen, das Schreiben dem Obergericht weiterzuleiten. Aus dem
Schreiben gehe zudem hervor, dass sich die Beschwerdeführerin über die laufende
Rechtsmittelfrist im Klaren gewesen sei, nehme sie doch auf eine rechtzeitige
Beschwerdeeinreichung innert 30 Tagen seit Entscheidzustellung Bezug. Auch wenn
sie von der Suva ausdrücklich eine Empfangsbestätigung ihres Schreibens
verlangt habe, habe sie bei deren Ausbleiben nicht einfach weiter zuwarten
dürfen. Vielmehr wäre sie angesichts der laufenden Beschwerdefrist nach Treu
und Glauben gehalten gewesen, vor Ablauf der Beschwerdefrist am 16. August 2019
bei der Suva nachzufragen und die notwendigen Vorkehrungen für eine
rechtzeitige Beschwerdeeinreichung zu treffen. Aktenkundig habe sich der
Treuhänder aber erst mit E-Mail vom 10. September 2019 nach dem aktuellen Stand
erkundigt. Dass er unverschuldet davon abgehalten worden sei, sich früher nach
der ausgebliebenen Empfangsbestätigung oder dem weiteren Verfahren zu
erkundigen, bringe er nicht vor. Das Verhalten des Treuhänders habe sich die
Beschwerdeführerin nach den Grundsätzen des Stellvertretungsrechts anrechnen zu
lassen.

6. 

Was die Beschwerdeführerin gegen die in allen Teilen überzeugende Beurteilung
des kantonalen Gerichts vorbringt, verfängt nicht.

6.1. Zunächst macht sie geltend, die Vorinstanz habe den Sachverhalt
offensichtlich unrichtig festgestellt, indem sie einzelne Aussagen des
Treuhänders im Schreiben vom 13. Juni 2019 aus dem Zusammenhang gerissen und
damit den eigentlichen Beschwerdewillen verkannt habe. Dieser Auffassung kann
nicht beigepflichtet werden. Wie die Vorinstanz zutreffend feststellte, hat der
Treuhänder der Beschwerdeführerin mit dem Satz "Bitte betrachten sie dieses
Schreiben nicht als Beschwerde im Sinne vom Absatz "Rechtsmittel" aus dem
Einsprache-Entscheid" einen Beschwerdewillen ausdrücklich verneint.
Entsprechend wird im Schreiben vom 13. Juni 2019 die Suva lediglich darum
gebeten, dass sie - unter Berücksichtigung der geltend gemachten Korrekturen -
zum Einkommen aus dem Jahr 2012 Stellung nimmt. Zwar hat die Beschwerdeführerin
damit ihren Änderungswunsch in Bezug auf den Einspracheentscheid dargetan.
Gleichzeitig hat sie aber auch unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass
sie (noch) keine gerichtliche Überprüfung des Entscheids anstrebte (vgl. E. 4
hiervor), woran auch der übrige Verfahrensablauf nichts ändert. Es verletzt
daher kein Bundesrecht, wenn die Vorinstanz bei der vorliegenden Konstellation
von einem fehlenden Anfechtungswillen ausgegangen ist. Folglich hat es auch zu
Recht erkannt, dass die Suva nicht gehalten war, das Schreiben vom 13. Juni
2019 dem Obergericht weiterzuleiten.

6.2. Fehl geht auch die Rüge des überspitzten Formalismus. Ein solcher liegt
als eine besondere Form der Rechtsverweigerung vor, wenn für ein Verfahren
rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich
gerechtfertigt wäre, oder wenn die Behörde formelle Vorschriften mit
übertriebener Schärfe handhabt. Prozessuale Formen sind jedoch unerlässlich, um
die ordnungsgemässe Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des
materiellen Rechts zu gewährleisten (BGE 118 V 311 E. 4 S. 315; 114 Ia 34 E. 3
S. 40). Überspitzter Formalismus ist daher nur gegeben, wenn die strikte
Anwendung der Formvorschriften durch keine schutzwürdigen Interessen
gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des
materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder verhindert (BGE 142 V
152 E 4.2 S. 158 mit Hinweisen; Urteile 6B_51/2015 vom 28. Oktober 2015 E. 2.1;
9C_525/2013 vom 23. September 2013 E. 3). Dies ist vorliegend mit Blick auf den
Inhalt des Schreibens vom 13. Juni 2019 und den darin klar zum Ausdruck
gebrachten fehlenden Beschwerdewillen nicht der Fall. Es kann keine Rede davon
sein, dass die Vorinstanz der Beschwerdeführerin den Rechtsweg in unzulässiger
Weise versperrt hätte.

6.3. An diesem Ergebnis ändert auch der Umstand nichts, dass die Suva das
erwähnte Schreiben später als Beschwerde bezeichnete und dem Obergericht
weiterleitete. Denn wie die Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung richtig
festhält, ist es Sache des Versicherungsgerichts, darüber zu entscheiden, ob
eine Beschwerde den Formerfordernissen genügt, insbesondere ob ein
Anfechtungswille gegeben ist (vgl. Urteile 9C_211/2015 vom 21. September 2015
E. 2.1; 9C_758/2014 vom 26. November 2014 E. 2).

6.4. Sodann ist zwar bedauerlich, dass die Suva auf das Schreiben vom 13. Juni
2019 hin nicht reagierte. Daraus vermag die Beschwerdeführerin aber nichts für
sich abzuleiten, wäre es doch an ihr gelegen, zur Einhaltung der
Beschwerdefrist rechtzeitig die notwendigen Vorkehrungen zu treffen. Dies gilt
umso mehr, als ihr Treuhänder um die 30tägige Beschwerdefrist wusste. Gründe
für eine Wiederherstellung der Frist (Art. 41 ATSG i.V.m. Art. 60 Abs. 2 ATSG)
sind weder rechtsgenüglich dargetan noch ersichtlich. Der angefochtene
Entscheid hält auch in diesem Punkt stand.

6.5. Inwiefern die Vorinstanz gegen Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns (Art.
5 BV) oder das Willkürverbot (Art. 9 BV) verstossen haben soll, ist ebenfalls
weder rechtsgenüglich dargetan (vgl. Art. 106 Abs. 2 BGG) noch ersichtlich.

7. 

Nach dem Gesagten hält der angefochtene Nichteintretensentscheid vor
Bundesrecht stand.

8. 

Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 

Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 

Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Schaffhausen und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 24. Januar 2020

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Wüest