Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.582/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

8C_582/2019

Urteil vom 5. November 2019

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Maillard, Präsident,

Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Abrecht,

Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Markus Zimmermann,

Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,

Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Invalidenversicherung (Invalidenrente, berufliche Massnahmen),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
5. August 2019 (VBE.2018.767).

Sachverhalt:

A. 

Der 1993 geborene A.________ meldete sich am 24. Oktober 2008 erstmals unter
Angabe einer Hörstörung (Hörgeräteversorgung seit 2006) und von Schwierigkeiten
im kognitiven Bereich zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Die
IV-Stelle des Kantons Aargau gewährte ihm unter anderem Leistungen im
Zusammenhang mit einer erstmaligen beruflichen Ausbildung zum Logistiker EBA.
Aufgrund sehr hoher Absenzen wurde diese abgebrochen und A.________
psychiatrisch und neuropsychologisch begutachtet. In seiner Expertise vom 30.
Dezember 2014 diagnostizierte Dr. med. B.________, Facharzt für Kinder- und
Jugendpsychiatrie und -psychotherapie FMH, eine niedrige bzw.
unterdurchschnittliche Intelligenz (Gesamt-Intelligenzquotient 79 beim
SON-R-Test). Die Ausbildung auf Niveau Attestlehre erachtete er als der
kognitiven Leistungsfähigkeit entsprechend, unter Vorbehalt der Ergebnisse
eines audiologischen Gutachtens. Nach einem weiteren Abbruch der
zwischenzeitlich wieder aufgenommenen Ausbildung schloss der Versicherte diese
am 4. Juli 2017 mit dem eidgenössischen Berufsattest als Logistiker Lager ab.
Im Wesentlichen gestützt auf eine Beurteilung des Dr. med. C.________, Facharzt
für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Regionaler Ärztlicher Dienst (RAD), vom
28. März 2018 verneinte die IV-Stelle in der Folge einen Anspruch auf
Invalidenrente des A.________ (Verfügung vom 30. August 2018).

B. 

Die dagegen geführte Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 5. August 2019 ab.

C. 

A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 5. August 2019 seien ihm die
gesetzlichen Leistungen, insbesondere berufliche Massnahmen und eine
Invalidenrente, zuzusprechen. Eventualiter seien weitere
Sachverhaltsabklärungen vorzunehmen. Ferner wird um unentgeltliche Rechtspflege
ersucht.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine
Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet
das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es -
offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten
Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und
Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2. Eine Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich
unrichtig, wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und
augenfällig unzutreffend ist. Eine offensichtlich unrichtige
Sachverhaltsfeststellung weist damit die Tragweite von Willkür auf. Es liegt
noch keine offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine andere Lösung
ebenfalls in Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erscheint.
Eine Sachverhaltsfeststellung ist etwa dann offensichtlich unrichtig, wenn das
kantonale Gericht den Sinn und die Tragweite eines Beweismittels offensichtlich
falsch eingeschätzt, ohne sachlichen Grund ein wichtiges und für den Ausgang
des Verfahrens entscheidendes Beweismittel nicht beachtet oder aus den
abgenommenen Beweisen unhaltbare Schlüsse gezogen hat. Solche Mängel sind in
der Beschwerde aufgrund des strengen Rügeprinzips (vgl. Art. 106 Abs. 2 BGG)
klar und detailliert aufzuzeigen (BGE 144 V 50 E. 4.2 S. 53 mit Hinweisen;
Urteil 9C_752/2018 vom 12. April 2019 E. 1.2).

2.

2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die vorinstanzliche Verneinung eines
Anspruchs auf Invalidenrente vor Bundesrecht standhält, wobei der
Beschwerdeführer insbesondere die Beweiskraft der Einschätzungen des RAD-Arztes
Dr. med. C.________ in Abrede stellt.

2.2. Soweit der Beschwerdeführer berufliche Massnahmen beantragt, ist
festzuhalten, dass ein solcher Anspruch nicht Gegenstand der Verfügung vom 30.
August 2018 bildete, weshalb in diesem Punkt auf die Beschwerde nicht
einzutreten ist. Der Antrag ist ohnehin nicht begründet (Art. 42 Abs. 1 und 2
BGG; vgl. auch BGE 125 V 413 E. 1 S. 414).

3. 

Das kantonale Gericht hat der RAD-Aktenbeurteilung des Dr. med. C.________ vom
28. März 2018 Beweiskraft beigemessen und gestützt darauf festgestellt, dass
nach Abschluss der erstmaligen beruflichen Ausbildung kein Anspruch auf eine
Invalidenrente bestehe. Es führte insbesondere aus, die Beurteilung des RAD
basiere im Wesentlichen auf dem Gutachten des Dr. med. B.________ vom 30.
Dezember 2014. Diesem könne keine psychiatrische Diagnose mit Auswirkung auf
die Arbeitsfähigkeit entnommen werden, was in Einklang stehe mit den
Ausführungen des behandelnden Psychiaters Dr. med. D.________, Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie, in seinem Verlaufsbericht vom 15. Dezember
2017. Der darin nicht näher erläuterten Diagnose einer Anpassungsstörung mit
depressiver und psychosomatischer Symptomatik bei transkultureller und
innerfamiliärer Problematik (ICD-10 F43.2) habe Dr. med. D.________ keine
Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit beigemessen. Diese Diagnose habe er in
seinem Bericht vom 4. Juli 2018 wiederholt, wobei er die erwähnte Verzögerung
der Persönlichkeitsentwicklung nicht begründet oder nach einem wissenschaftlich
anerkannten Klasssifikationssystem diagnostiziert habe. Ferner, so das
kantonale Gericht, könne den Akten diverse Anhaltspunkte für erhebliche
soziokulturelle und psychosoziale Belastungsfaktoren (u.a. ein schwieriges
familiäres Umfeld) entnommen werden. Insgesamt bestünden aufgrund der
medizinischen Unterlagen keine auch nur geringe Zweifel an der Schlüssigkeit
der Beurteilung des Dr. med. C.________ vom 28. März 2018.

4.

4.1. Bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit stützt sich die Verwaltung und im
Beschwerdefall das Gericht auf Unterlagen, die von ärztlichen und
gegebenenfalls auch anderen Fachleuten zur Verfügung zu stellen sind. Ärztliche
Aufgabe ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu
nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte
Person arbeitsunfähig ist. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes
ist entscheidend, ob dieser für die streitigen Belange umfassend ist, auf
allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden
berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in
der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen
Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen der Experten begründet sind
(BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis). Soll ein
Versicherungsfall ohne Einholung eines externen Gutachtens entschieden werden,
sind an die Beweiswürdigung strenge Anforderungen zu stellen. Bestehen auch nur
geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der
versicherungsinternen ärztlichen Feststellungen, sind ergänzende Abklärungen
vorzunehmen (BGE 142 V 58 E. 5.1 S. 65; 139 V 225 E. 5.2 S. 229; 135 V 465 E.
4.4 S. 470).

4.2. Es liegen zwar aktenkundige Probleme des Versicherten in Kindheit und
Jugend vor. Mit Blick auf den gesundheitlichen Verlauf und die damit
zusammenhängende berufliche Entwicklung führte Dr. med. B.________ aber in
seinem Gutachten aus, dass invaliditätsfremde Faktoren, insbesondere
motivationeller Art, bei den Schwierigkeiten im Ausbildungsverlauf überwögen,
wie die Vorinstanz bereits festhielt. Dass diese als Ausdruck einer psychischen
Problematik mit beeinträchtigter Leistungsfähigkeit angesehen werden müssten,
lässt sich den vorliegenden Akten nicht entnehmen. Der aktuell behandelnde Dr.
med. D.________ führte die Anpassungsstörung im Bericht vom 15. Dezember 2017
als Diagnose ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit auf. Er bestätigte darin
motivationelle Probleme und führte unter Punkt "1.4 Anamnese" aus, dass nur
drei Konsultationen bei ihm stattgefunden hätten, bei denen deutlich geworden
sei, dass der Versicherte erhebliche Probleme in seiner Ausbildung, in der
Familie und im transkulturellen Sinne habe. Eine Therapie habe nicht
durchgeführt werden können, weil der Versicherte die Termine nicht eingehalten
bzw. kurzfristig abgesagt habe. Weiter hielt der Psychiater im Bericht vom 4.
Juli 2018 an seiner bisher gestellten Diagnose fest und gab an, seit 29. Mai
2018 komme der Versicherte nun wöchentlich zur Therapie. Im Spannungsfeld der
kulturellen Problematik sei es zu psychosomatischen Symptomen wie gehäuft
auftretenden Migräneschüben, zu Absentismus und pseudologistischem
Zurechtstutzen der Wahrheit gekommen, was sich indes nun geändert habe. Die
Situation habe sich mittlerweile deutlich entschärft. Eine Auswirkung der
psychosomatischen Symptomatik auf die Leistungs- und Erwerbsfähigkeit erwähnte
der Psychiater in diesem Bericht ebenso wenig. Er benannte auch keine Aspekte,
die bei der damaligen Begutachtung durch Dr. med. B.________ oder bei der
Beurteilung des RAD-Arztes unerkannt oder ungewürdigt geblieben sind.

4.3. Wenn die Vorinstanz in Würdigung der gesamten Aktenlage, mithin unter
Einbezug des aktuellsten Berichts des behandelnden Psychiaters vom 4. Juli
2018, das Vorliegen einer psychiatrischen Krankheit mit Beeinträchtigung der
Erwerbsfähigkeit verneinte, hat sie weder den Sachverhalt willkürlich
festgestellt noch dadurch den Untersuchungsgrundsatz verletzt. Es kann demnach
nicht die Rede davon sein, die medizinische Aktenlage sei im Zeitpunkt der
Verfügung vom 30. August 2018 veraltet gewesen und trage der gesundheitlichen
Entwicklung seit der Begutachtung im Dezember 2014 nicht Rechnung, zumal Dr.
med. D.________ im Juli 2018 eine deutlich entschärfte Situation festhielt.
Nach dem Gesagten lassen die Vorbringen des Beschwerdeführers auch nicht
geringe Zweifel an der Schlüssigkeit der Ausführungen des RAD-Arztes aufkommen
(E. 4.1).

Damit erübrigen sich auch die eventualiter beantragten weiteren medizinischen
Abklärungen. Dass die abgeschlossene berufliche Ausbildung nicht zu einer
Eingliederung ins Erwerbsleben führte, lässt sich ausweislich der Akten nicht
durch einen invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschaden
begründen. Im Übrigen betrifft der Umstand, dass die Sozialen Dienste der
Gemeinde Neuenhof die Vermittelbarkeit des Versicherten in den ersten
Arbeitsmarkt als nicht gegeben erachten, nicht die medizinische
Arbeitsfähigkeitsschätzung, sondern die Verwertbarkeit der ärztlich
attestierten Restarbeitsfähigkeit. Es bestehen jedoch keine Hinweise, dass es
auf dem - hier massgeblichen - ausgeglichenen Arbeitsmarkt nicht genügend
realistische Betätigungsmöglichkeiten bestehen würden (Urteil 9C_941/2012 vom
20. März 2013 E. 4.1.1 mit Hinweis). Mit Blick auf das Leistungsvermögen des
Beschwerdeführers ist die Vorinstanz zu Recht davon ausgegangen, dass eine
wirtschaftlich verwertbare Resterwerbsfähigkeit gegeben ist (BGE 138 V 457 E.
3.1 S. 460). Die Beschwerde ist unbegründet.

5. 

Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die Kosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege kann ihm gewährt
werden (Art. 64 BGG). Er hat der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn er
später dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 

Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwalt Markus Zimmermann wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 

Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 

Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.

5. 

Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
4. Kammer, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 5. November 2019

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Polla