Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.408/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

8C_408/2019

Urteil vom 26. August 2019

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Maillard, Präsident,

Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Abrecht,

Gerichtsschreiberin Elmiger-Necipoglu.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

vertreten durch Rechtsanwältin Dina Raewel,

Beschwerdeführer,

gegen

SWICA Versicherungen AG,

Römerstrasse 37, 8400 Winterthur,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Unfallversicherung (natürlicher Kausalzusammenhang),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 23. April 2019 (UV.2017.00224).

Sachverhalt:

A. 

Der 1977 geborene A.________ ist seit dem 8. Mai 2014 als Backwarenverkäufer
bei der B.________ GmbH angestellt und damit bei der SWICA Versicherungen AG
(nachfolgend SWICA) obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen versichert. Am
22. Juni 2016 war er in eine Auffahrkollision verwickelt. Aufgrund von Kopf-
und Nackenschmerzen sowie Schwindel konsultierte er am Folgetag seinen
Hausarzt, Dr. med. C.________, FMH Facharzt Allgemeine Innere Medizin, der ihn
an die Klinik D.________ für weitere Abklärungen überwies. Am 29. Juni 2016
wurde eine MRI-Untersuchung der Halswirbelsäule veranlasst, die auf Höhe C5/C6
eine mediolinkslaterale Diskushernie mit Eindellung des Myelons sowie
Kompression der Nervenwurzel C6 links darstellte. Die SWICA tätigte ihrerseits
medizinische Abklärungen und beauftragte namentlich Dr. med. E.________, FMH
Facharzt für Allgemein- und Unfallchirurgie, mit einer Aktenbeurteilung, die am
7. November 2016 erstattet wurde. Darauf gestützt teilte sie dem Versicherten
am      17. November 2016 mit, dass ab dem 7. November 2016 infolge Erreichens
des Status quo sine vel ante kein Leistungsanspruch mehr aus der
Unfallversicherung bestehe. Mit Verfügung vom 15. Dezember 2016 und
Einspracheentscheid vom 17. August 2017 hielt sie daran fest.

B. 

Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das
Sozialverischerungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom   23. April
2019 insofern gut, als es die SWICA verpflichtete, die gesetzlichen Leistungen
bis zum 22. Dezember 2016 zu erbringen.

C. 

Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________
beantragen, unter Aufhebung des kantonalen Entscheids seien die gesetzlichen
Leistungen auch nach dem 22. Dezember 2016 zu erbringen. Eventualiter sei ein
Gutachten durch einen unabhängigen Facharzt (Neurochirurgie und/oder
Wirbelsäulen-Chirurgie) zu erstellen. Zudem beantragt er die Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege.

Die vorinstanzlichen Akten wurden eingeholt. Ein Schriftenwechsel wurde nicht
durchgeführt.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an   (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 145 V 57 E. 4.2 S. 61 mit Hinweis).

1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2. 

Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzte,
indem es einen über den 22. Dezember 2016 hinausgehenden Leistungsanspruch
verneinte.

3. 

3.1. Der Unfallversicherer haftet für einen Gesundheitsschaden nur insoweit,
als dieser in einem natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang zum
versicherten Ereignis steht (BGE 129 V 177 E. 3         S. 181). Dabei spielt
die Adäquanz als rechtliche Eingrenzung der sich aus dem natürlichen
Kausalzusammenhang ergebenden Haftung des Unfallversicherers im Bereich
organisch objektiv ausgewiesener Unfallfolgen praktisch keine Rolle, da sich
hier die adäquate weitgehend mit der natürlichen Kausalität deckt (BGE 134 V
109 E. 2      S. 111 f.; 127 V 102 E. 5b/bb S. 103).

3.2. Das Vorliegen eines natürlichen Kausalzusammenhanges ist eine Tatfrage und
muss daher mit dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden. Dasselbe gilt für den vom
Unfallversicherer zu beweisenden Wegfall des Kausalzusammenhanges (RKUV 2000
Nr. U 363   S. 46 E. 2). Während bei der Frage, ob ein Kausalzusammenhang
überhaupt jemals gegeben ist, die versicherte Person beweisbelastet ist, trägt
die Unfallversicherung die Beweislast für einen behaupteten Wegfall der
Kausalität aufgrund des Erreichens des Zustands, wie er vor dem Unfall bestand
oder sich ohne diesen ergeben hätte (Status quo sine vel ante; SVR 2019 UV Nr.
9 S. 26; 8C_421/2018 E. 3.2; SVR 2016 UV Nr. 18 S. 55, 8C_331/2015 E. 2.1.1).

3.3. Es entspricht einer medizinischen Erfahrungstatsache im Bereich des
Unfallversicherungsrechts, dass praktisch alle Diskushernien bei Vorliegen
degenerativer Bandscheibenveränderungen entstehen und ein Unfallereignis nur
ausnahmsweise, unter besonderen Voraussetzungen, als eigentliche Ursache in
Betracht fällt. Als weitgehend unfallbedingt kann eine Diskushernie betrachtet
werden, wenn das Unfallereignis von besonderer Schwere und geeignet war, eine
Schädigung der Bandscheibe herbeizuführen, und die Symptome der Diskushernie
(vertebrales oder radikuläres Syndrom) unverzüglich und mit sofortiger
Arbeitsunfähigkeit auftreten. So muss eine entsprechende richtunggebende
Verschlimmerung insbesondere auch röntgenologisch (rasche Höhenverminderung der
betroffenen Bandscheibe und das Auftreten oder die Vergrösserung von
Randzacken, vgl. Urteile des Eidgenössischen Versicherungsgerichts U 45/95 vom
4. September 1995 E. 4a und U 58/06 vom 2. August 2006 E. 4.3.1) ausgewiesen
sein und sich von der altersüblichen Progression abheben. In diesen äusserst
seltenen Fällen hat die Unfallversicherung auch für Rezidive und allfällige
Operationen aufzukommen. Ist hingegen die Diskushernie bei (stummen)
degenerativem Vorzustand durch den Unfall nur aktiviert, nicht aber verursacht
worden, liegt eine vorübergehende Verschlimmerung vor. Diesfalls hat die
Unfallversicherung nur Leistungen für das unmittelbar im Zusammenhang mit dem
Unfall stehende Schmerzsyndrom zu erbringen. Nach derzeitigem medizinischem
Wissensstand kann in solchen Fällen das Erreichen des Status quo sine bei
posttraumatischen Lumbalgien und Lumboischialgien nach drei bis vier Monaten
erwartet werden. Im Allgemeinen ist bei einer Prellung, Verstauchung oder
Zerrung der Wirbelsäule die vorübergehende Verschlimmerung in der Regel nach
sechs bis neun Monaten, und bei Vorliegen eines erheblich degenerativen
Vorzustandes spätestens nach einem Jahr, als abgeschlossen zu betrachten (vgl.
Urteile 8C_834/2018 vom 19. März E. 3.3; 8C_17/2017 vom      4. April 2017 E.
2.3; SVR 2009 UV Nr. 1 S. 1, 8C_677/2007 E. 2.3 und 2.3.2 mit Hinweisen).

4. 

4.1. Die Vorinstanz hat im Wesentlichen unter Hinweis auf die massgebliche
Rechtsprechung erwogen, dass die Diskushernie auf Höhe C5/C6 nicht
traumatischer Natur sei, zumal es sich nicht um ein Unfallereignis von
besonderer Schwere handle. Zudem hätten die kurze Zeit nach dem Unfall
durchgeführten Untersuchungen keine Anzeichen einer unfallbedingten
strukturellen Verletzung ergeben. Vor diesem Hintergrund sei im Einklang mit
Dr. med. E.________ davon auszugehen, die Bandscheibenproblematik sei bei
degenerativem Vorzustand im Sinne einer vorübergehenden Verschlimmerung
symptomatisch geworden. Hingegen könne ihm nicht gefolgt werden, wenn er das
Erreichen eines Status quo sine bereits 4.5 Monate nach dem Unfallereignis
annehme. Es bestehe aufgrund der medizinischen Aktenlage kein Anlass von den
dargelegten medizinischen Erkenntnissen abzuweichen. Damit sei, auch aufgrund
des Unfallgeschehens, anzunehmen, dass sechs Monate nach dem Unfall der Status
quo sine für die durch den Unfall ausgelöste Bandscheibenproblematik erreicht
gewesen sei. In diesem Sinne verpflichtete die Vorinstanz die SWICA die
gesetzlichen Versicherungsleistungen bis zum 22. Dezember 2016 zu erbringen.

4.2. Der Beschwerdeführer wendet hiergegen ein, die Vorinstanz habe den
Sachverhalt unrichtig festgestellt, als sie davon ausging, dass keine Anzeichen
einer durch den Unfall bedingten strukturellen Verletzung, insbesondere keine
frischen Läsionen, nachzuweisen seien. Mit Hinweis auf die Bildgebung vom 29.
Juni 2016 sei erstellt, dass frische Läsionen an der Halswirbelsäule bestünden.
Im MRI-Befundbericht vom 29. Juni 2016 des Medizinisch Radiologischen Instituts
hielt der Radiologe zwar fest, dass Anteile der Segment-Degeneration C5/C6 mit
grosser mediolinkslateraler Diskushernie mit Eindellung des Myelons auf diesem
Niveau bei gegebenem Signalverhalten "frischer" zu sein scheinen. Mit der
Vorinstanz ist damit aber auch erstellt, dass aufgrund der Untersuchungsbefunde
bereits vor dem Unfall degenerative Veränderungen an der Halswirbelsäule
bestanden. Folglich kann daraus nicht direkt geschlossen werden, dass die
Diskushernie im Sinne der Rechtsprechung unfallbedingt ist. Damit
übereinstimmend präzisierte Dr. med. F.________, FMH Facharzt in Radiologie und
Oberarzt an der Klinik D.________, den MRI-Befund vom 29. Juni 2016 und hielt
fest, die winzigen Verkalkungen ventral am Zwischenwirbelraum C4/C5 und C5/C6
seien nicht posttraumatisch, sondern degenerativer Natur. Daran vermag auch der
Bericht des Operateurs, Prof. Dr. med. G.________, FMH Facharzt für Chirurgie,
vom 30. April 2018 nichts zu ändern, in dem er festhielt, es sei von einer
traumatischen Diskushernie auszugehen. Wie die Vorinstanz richtig erwog, blieb
diese Kausalitätsbeurteilung ohne jegliche Begründung, so dass darauf nicht
abgestellt werden kann. Mit Blick auf den weiteren Umstand, dass die
Auffahrkollision vom 22. Juni 2016 weder von besonderer Schwere noch sonst von
den biomechanischen Kräften her geeignet war, eine dauerhafte Schädigung der
Bandscheibe herbeizuführen, ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz
lediglich von einer unfallbedingten Aktivierung der Diskushernie ausging.

4.3. Soweit der Beschwerdeführer den vorinstanzlich definierten Zeitpunkt des
Status quo sine (22. Dezember 2016) als willkürlich rügt, vermag er ebensowenig
durchzudringen. Denn gemäss dem in der Rechtsprechung dargelegten medizinischen
Wissensstand wird bei einer vorübergehenden Verschlimmerung einer
vorgeschädigten Wirbelsäule angenommen, dass diese in der Regel nach sechs bis
neun Monaten, und nur bei Vorliegen eines erheblich degenerativen Vorzustandes
spätestens nach einem Jahr, abgeklungen ist (vgl. E. 3.3 hiervor). Der
Beschwerdeführer legt denn auch nicht dar, weshalb von diesem zeitlichen Rahmen
abzuweichen wäre. Eine längere Zeitspanne bis zum Erreichen des Status quo sine
ist nicht gerechtfertigt, da die medizinischen Akten keine Hinweise enthalten,
wonach die Wirbelsäule bereits vor dem Unfall vom 22. Juni 2016 massiv
vorgeschädigt gewesen wäre. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der
Beschwerdeführer mittlerweile an der lädierten zervikalen Bandscheibe operiert
worden ist. Aufgrund dieser Rechtslage durfte die Vorinstanz schliesslich auch
auf weitere Beweismassnahmen verzichten, von denen kein entscheidrelevanter
neuer Aufschluss zu erwarten gewesen wäre (antizipierte Beweiswürdigung; BGE
144 II 427 E. 3.1.3 S. 435 mit Hinweis).

4.4. Zusammenfassend verletzte die Vorinstanz kein Bundesrecht, indem sie die
Leistungseinstellung der SWICA auf den 22. Dezember 2016 festsetzte. Die
Beschwerde ist unbegründet und deshalb abzuweisen.

5. 

Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem
unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66   Abs. 1 BGG). Die
unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der vorläufigen Befreiung von den
Gerichtskosten und der unentgeltlichen Verbeiständung, Art. 64 Abs. 1 und Abs.
2 BGG) kann gewährt werden. Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4
BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse
Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 

Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwältin Dina Raewel wird als unentgeltliche Anwältin bestellt.

3. 

Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 

Der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 

Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 26. August 2019

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Elmiger-Necipoglu