Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.319/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

8C_319/2019

Urteil vom 29. August 2019

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Maillard, Präsident,

Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,

Gerichtsschreiberin Berger Götz.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

vertreten durch Rechtsanwalt George Hunziker,

Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,

Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Invalidenversicherung

(Invalidenrente; berufliche Massnahmen),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
26. März 2019 (VBE.2018.426).

Sachverhalt:

A.

A.a. Der 1956 geborene A.________ hatte sich am 25. September 2012 unter
Hinweis auf Panikattacken und Angstzustände erstmals bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Da er vor Ablauf des
Wartejahres wieder vollständig arbeitsfähig war, verneinte die IV-Stelle des
Kantons Aargau den Anspruch auf eine Invalidenrente und stellte dabei auf einen
Invaliditätsgrad von 32 % ab (Verfügung vom 28. Januar 2013).

A.b. Am 11. Juni 2013 meldete sich A.________ wegen Depressionen sowie Angst-
und Panikattacken erneut bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an.
Die IV-Stelle gewährte gemäss Mitteilung vom 16. Mai 2014 berufliche Massnahmen
in Form eines Aufbautrainings und holte nach deren Abbruch ein Gutachten bei
Dr. med. B.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, spez.
Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie FMH, vom 9. Juli 2015 ein. Am 15. Dezember
2015 forderte sie A.________ auf, sich einer regelmässigen
psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung (inklusive medikamentöser
Therapie mit Antidepressiva) zu unterziehen. In der Folge lehnte sie eine Rente
ab, da keine gesundheitliche Beeinträchtigung vorliege, welche die
Arbeitsfähigkeit dauerhaft einschränken würde (Verfügung vom 8. Juli 2016), und
verneinte einen Anspruch auf berufliche Massnahmen (Verfügung vom 26. September
2016). In teilweiser Gutheissung der Beschwerden gegen die zwei Verfügungen hob
das Versicherungsgericht des Kantons Aargau beide Verwaltungsakte auf und wies
die Sache je zur Vornahme weiterer Abklärungen im Sinne der Erwägungen sowie
zum anschliessenden Erlass einer Verfügung an die IV-Stelle zurück (Entscheide
vom 5. Januar und 16. Februar 2017).

Nach zusätzlichen Abklärungen, insbesondere Veranlassung eines weiteren
psychiatrischen Gutachtens des Dr. med. B.________ vom 8. Dezember 2017, sowie
nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens lehnte die IV-Stelle einen Anspruch
auf Rente und berufliche Massnahmen wiederum ab (Verfügung vom 30. April 2018).

B. 

Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die von A.________ dagegen
erhobene Beschwerde ab (Dispositiv-Ziffer 1) und auferlegte ihm die
Verfahrenskosten in der Höhe von Fr. 800.- (Dispositiv-Ziffer 2; Entscheid vom
26. März 2019).

C. 

A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung der Dispositiv-Ziffern 1 und 2 des
kantonalen Gerichtsentscheids vom 26. März 2019 seien ihm ab 10. Juni 2014 bis
mindestens Dezember 2017 eine ganze und ab Januar 2018 mindestens eine halbe
Rente zuzusprechen; eventuell sei die Sache zur Ergänzung des Sachverhalts und
neuer Entscheidfällung an das kantonale Gericht zurückzuweisen; zudem sei
festzustellen, dass ihm seit Anmeldung des Anspruchs, spätestens aber seit dem
ursprünglich positiven Leistungs-Vorbescheid vom 15. Dezember 2015 geeignete
berufliche Integrationsmassnahmen zustehen würden und es seien solche endlich
anzuordnen.

Die IV-Stelle schliesst ohne weitere Ausführungen auf Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 

Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine
Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet
das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es -
offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten
Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und
Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 

Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie
- mit der Verwaltung - einen Anspruch des Versicherten auf Rente und berufliche
Massnahmen verneinte.

3. 

Die für die Beurteilung massgeblichen Rechtsgrundlagen wurden im angefochtenen
Entscheid zutreffend wiedergegeben. Es betrifft dies namentlich die
Bestimmungen und Grundsätze zum Begriff der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG),
zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1
IVG) und auf Eingliederungsmassnahmen (Art. 8 Abs. 1 IVG), zur Beurteilung der
Invalidität bei psychischen Erkrankungen (BGE 141 V 281; 143 V 409 und 418),
zum massgebenden Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 138 V 218
E. 6 S. 221) und zum Beweiswert sowie zur Beweiswürdigung ärztlicher Berichte
und Gutachten (BGE 143 V 124 E. 2.2.2 S. 126 f.; 137 V 210 E. 6.2.2 S. 269; 134
V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3 S. 352 mit Hinweisen). Darauf wird
verwiesen.

4. 

Die Vorinstanz mass dem Gutachten des Dr. med. B.________ vom 8. Dezember 2017,
worin eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode
(bestehend seit Juli 2011, aktuelle Episode seit Januar 2014), und eine
Panikstörung (bestehend seit Juli 2011) diagnostiziert wird, volle Beweiskraft
bei. Gestützt auf die Standardindikatoren nach BGE 141 V 281 seien jedoch eine
gesundheitliche Beeinträchtigung von erheblichem Schweregrad und die geltend
gemachten funktionellen Auswirkungen der medizinisch festgestellten psychischen
Beeinträchtigungen nicht objektiv, kohärent und widerspruchsfrei mit dem
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Gestützt auf die
beweiskräftige Expertise, jedoch in Abweichung von deren
Arbeitsfähigkeitsbeurteilung (maximal 25%ige Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
spätestens ab Gutachtenszeitpunkt), sei von einer 100%igen Arbeitsfähigkeit
sowohl in der angestammten als auch in einer angepassten Beschäftigung
auszugehen. Da Dr. med. B.________ bereits seit Januar 2014 eine leichte
Episode der rezidivierenden depressiven Störung festgestellt habe, gelte diese
Einschätzung auch für die Zeit vor Ablauf des Wartejahres am 19. März 2014.
Mangels einer durchschnittlich mindestens 40%igen Arbeitsunfähigkeit während
eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch seien damit die materiellen
Rentenanspruchsvoraussetzungen nicht erfüllt. Da der Beschwerdeführer nicht in
seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sei, bestehe weder ein invalidisierender
Gesundheitsschaden noch eine drohende Invalidität. Ein Anspruch auf berufliche
Massnahmen sei folglich von der IV-Stelle ebenfalls zu Recht verneint worden.

5. 

Die vom Beschwerdeführer dagegen erhobenen Einwände führen zu keinem anderen
Ergebnis.

5.1. Soweit er rügt, Grundlage für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit bis
und mit Juli 2015 müsse das erste Gutachten des Dr. med. B.________ vom 9. Juli
2015 bilden, das fälschlicherweise von IV-Stelle und kantonalem Gericht
unerwähnt gelassen worden sei, kann ihm nicht gefolgt werden. Denn er
übersieht, dass das kantonale Gericht die Sache betreffend Rente (Entscheid vom
5. Januar 2017) und berufliche Massnahmen (Entscheid vom 16. Februar 2017) an
die Verwaltung zurückgewiesen hatte, da die medizinische Aktenlage - und damit
auch das Gutachten vom 9. Juli 2015 - eine abschliessende Beurteilung
hinsichtlich des Gesundheitszustandes und der Auswirkungen auf die
Erwerbsfähigkeit eben gerade nicht zugelassen hatte. Dass und weshalb diese
Beurteilung in tatsächlicher Hinsicht offensichtlich unrichtig oder aber
bundesrechtswidrig gewesen wäre, ist weder dargetan noch ohne Weiteres
ersichtlich.

5.2. Weiter bringt der Versicherte vor, das kantonale Gericht habe seine
Abklärungspflichten und die Beweiswürdigungsregeln verletzt. Es sei zwingend
zumindest der Schluss zu ziehen, dass sein erlebter Leidensdruck mindestens in
dem Mass bestehe, wie er im Gutachten quantifiziert werde. Eine zusätzliche
"Reduktion" (der gutachterlichen Arbeitsfähigkeitsschätzung) durch die
Gerichtsinstanz "über die Beurteilung des Arztes hinaus", ohne nachvollziehbare
Widerlegung der medizinischen Ausführungen, sei ausgeschlossen. Bis Dezember
2017 sei von einem 70%igen und ab Januar 2018 von einem über 45%igen
Invaliditätsgrad auszugehen.

5.2.1. Nach der Rechtsprechung ist bei psychischen Leiden unabhängig von der
diagnostischen Einordnung auf objektivierter Beurteilungsgrundlage zu prüfen,
ob eine rechtlich relevante Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit nachzuweisen ist
(BGE 143 V 409 E. 4.5.2 S. 416). Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers hat
die Vorinstanz weder den Untersuchungsgrundsatz noch die Beweiswürdigungsregeln
verletzt, indem sie nicht auf die Folgenabschätzung durch Dr. med. B.________
abgestellt hat. Da es in erster Linie auf den Schweregrad der psychischen
Symptomatik sowie die damit verbundenen Funktionseinschränkungen ankommt,
konnte das kantonale Gericht auf die vom Versicherten verlangte Einholung
ergänzender Angaben beim Gutachter verzichten. Denn bei der Frage der
funktionellen Auswirkungen einer Störung haben sich sowohl die medizinischen
Sachverständigen als auch die Organe der Rechtsanwendung bei ihrer Einschätzung
des Leistungsvermögens an den normativen Vorgaben zu orientieren. Nach BGE 141
V 281 kann der Beweis für eine lang andauernde und erhebliche
gesundheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit nur dann als geleistet betrachtet
werden, wenn die Prüfung der massgeblichen Beweisthemen im Rahmen einer
umfassenden Betrachtung ein stimmiges Gesamtbild einer Einschränkung in allen
Lebensbereichen (Konsistenz) für die Bejahung einer Arbeitsunfähigkeit zeigt.
Fehlt es daran, ist der Beweis nicht geleistet und nicht zu erbringen, was sich
nach den Regeln über die (materielle) Beweislast zuungunsten der
rentenansprechenden Person auswirkt (zum Ganzen vgl. BGE 144 V 50 E. 4.3 S. 53
f. mit Hinweis auf BGE 143 V 418 E. 6 S. 427; ferner bereits BGE 141 V 281 E.
5.2.2, 6 und 7 S. 307 ff. sowie 143 V 409 E. 4.5.2, je mit Hinweisen).

5.2.2. Der Beschwerdeführer vermag nicht darzulegen, inwiefern die Erwägungen
im angefochtenen Entscheid Bundesrecht verletzen. Das Bundesgericht hat den
angefochtenen Entscheid nur dahingehend zu prüfen, ob die Vorinstanz in
Anwendung der normativen Vorgaben die Rechtsprechung umgesetzt und im Rahmen
der Beweiswürdigung eine nicht offensichtlich unrichtige, unvollständige oder
bundesrechtswidrige Sachverhaltsfeststellung vorgenommen hat. In dieser
Hinsicht gibt der angefochtene Entscheid zu keinen Beanstandungen Anlass. Das
kantonale Gericht hat anhand der medizinischen Indikatorenprüfung schlüssig die
massgeblichen Beweisthemen im Rahmen einer umfassenden Betrachtung eines
stimmigen Gesamtbildes abgehandelt und geschlossen, dass aus juristischer Sicht
der medizinisch attestierten Arbeitsunfähigkeit nicht gefolgt werden kann (BGE
141 V 281 E. 5.2. S. 306 f. und BGE 140 V 193). Demnach stellt es keine
Rechtsverletzung dar, wenn es der vom psychiatrischen Gutachter festgestellten
(maximal) 25%igen Arbeitsunfähigkeit die rechtliche Relevanz abgesprochen und
festgestellt hat, es liege kein invalidisierender Gesundheitsschaden vor (vgl.
zum Ganzen BGE 144 V 50 E. 6.1      S. 57 f.).

5.3. Auf die übrige, vorwiegend appellatorische Kritik am angefochtenen
Entscheid ist nicht weiter einzugehen.

6. 

Nach dem Gesagten nahm die Vorinstanz die Indikatorenprüfung korrekt vor,
weshalb sie ohne Verletzung von Bundesrecht eine relevante psychisch bedingte
Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit im Rechtssinn verneinen durfte. Weiterungen zur
Invaliditätsbemessung und zur im angefochtenen Entscheid bestätigten Ablehnung
beruflicher Massnahmen erübrigen sich demnach.

7. 

Das Verfahren ist kostenpflichtig. Der unterliegende Beschwerdeführer hat die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 

Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 

Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
4. Kammer, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. August 2019

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz