Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.272/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

8C_272/2019

Urteil vom 4. Juli 2019

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Maillard, Präsident,

Bundesrichterinnen Heine, Viscione,

Gerichtsschreiber Nabold.

Verfahrensbeteiligte

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,

Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Christian Haag,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom

6. März 2019 (5V 18 93).

Sachverhalt:

A. 

Die 1994 geborene A.________ meldete sich am 30. August 2012 bei der IV-Stelle
Luzern unter Hinweis auf ein Chronic Fatigue Syndrom zum Leistungsbezug an. Die
IV-Stelle tätigte verschiedene Abklärungen, insbesondere holte sie bei der
medaffairs AG eine polydisziplinäre Expertise ein (Gutachten vom 13. Juni
2017). Nachdem die IV-Stelle aufgrund von Mängeln an diesem Gutachten zunächst
eine neue Begutachtung anordnete, nahm sie auf Einwand der Versicherten hin von
einer solchen Abstand und verfügte nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens
am 30. Januar 2018 die Ablehnung des Leistungsgesuchs der Versicherten.

B. 

Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Luzern
mit Entscheid vom 6. März 2019 in dem Sinn gut, als es die Sache zu weiteren
Abklärungen im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurückwies.

C. 

Mit Beschwerde beantragt die IV-Stelle, es sei unter Aufhebung des kantonalen
Gerichtsentscheides ihre Verfügung vom 30. Januar 2018 zu bestätigen.
Gleichzeitig stellt die IV-Stelle ein Gesuch um aufschiebende Wirkung der
Beschwerde.

Während A.________ beantragt, es sei auf die Beschwerde nicht einzutreten,
eventuell sei sie abzuweisen, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen
auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 

1.1. Das BGG unterscheidet in Art. 90 bis 93 zwischen End-, Teil- sowie Vor-
und Zwischenentscheiden und schafft damit eine für alle Verfahren einheitliche
Terminologie. Ein Endentscheid ist ein Entscheid, der das Verfahren prozessual
abschliesst (Art. 90 BGG), sei dies mit einem materiellen Entscheid oder
Nichteintreten, z.B. mangels Zuständigkeit. Der Teilentscheid ist eine Variante
des Endentscheids. Mit ihm wird über eines oder einige von mehreren
Rechtsbegehren (objektive und subjektive Klagehäufung) abschliessend befunden.
Es handelt sich dabei nicht um verschiedene materiellrechtliche Teilfragen
eines Rechtsbegehrens, sondern um verschiedene Rechtsbegehren. Vor- und
Zwischenentscheide sind alle Entscheide, die das Verfahren nicht abschliessen
und daher weder End- noch Teilentscheid sind; sie können formell- und
materiellrechtlicher Natur sein. Voraussetzung für die selbstständige
Anfechtbarkeit materiellrechtlicher Zwischenentscheide ist gemäss Art. 93 Abs.
1 BGG zunächst, dass sie selbstständig eröffnet worden sind. Erforderlich ist
sodann alternativ, dass der angefochtene Entscheid einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken kann (lit. a) oder dass die Gutheissung der
Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden
Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde
(lit. b; BGE 138 V 106 E. 1.1 S. 109).

1.2. Angefochten ist ein kantonaler Rückweisungsentscheid, mithin ein
Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 Abs. 1 BGG. Eine (vollständige)
Gutheissung der Beschwerde würde einen sofortigen Endentscheid herbeiführen.
Zwar stellen weitere medizinische Abklärungen in aller Regel keinen bedeutenden
Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren im Sinne von
Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG dar (vgl. etwa Urteil 8C_862/2017 vom 23. April 2018
E. 4.2 mit weiteren Hinweisen). Gemäss den vorinstanzlichen Erwägungen - auf
welche im Dispositiv verwiesen wird - haben die von ihr angeordneten
Abklärungen im Rahmen einer mehrjährigen stationären
psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung zu erfolgen. Damit geht der
Aufwand an Zeit und Kosten weit über das hinaus, was für eine polydisziplinäre
Begutachtung in einem invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren üblich ist.
Auf die Beschwerde ist somit einzutreten.

2.

2.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).

2.2. Das Bundesgericht kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
Überdies muss die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen
nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu
Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG).

Die beschwerdeführende Partei, welche die Sachverhaltsfeststellungen der
Vorinstanz anfechten will, muss substanziiert darlegen, inwiefern die
Voraussetzungen einer Ausnahme gemäss Art. 105 Abs. 2 BGG gegeben sind und das
Verfahren bei rechtskonformer Ermittlung des Sachverhalts anders ausgegangen
wäre; andernfalls kann ein Sachverhalt, der vom im angefochtenen Entscheid
festgestellten abweicht, nicht berücksichtigt werden (BGE 140 III 16 E. 1.3.1
S. 18 mit Hinweisen).

3. 

3.1. Der Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung setzt unter anderem
voraus, dass die versicherte Person invalid oder von Invalidität unmittelbar
bedroht ist. Invalidität ist gemäss Art. 8 Abs. 1 ATSG die voraussichtlich
bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit.

3.2. Der Sozialversicherungsprozess ist vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht.
Danach hat das Gericht von Amtes wegen für die richtige und vollständige
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts zu sorgen. Die Verwaltung als
verfügende Instanz und - im Beschwerdefall - das Gericht dürfen eine Tatsache
nur dann als bewiesen annehmen, wenn sie von ihrem Bestehen überzeugt sind. Im
Sozialversicherungsrecht hat das Gericht seinen Entscheid, sofern das Gesetz
nicht etwas Abweichendes vorsieht, nach dem Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit zu fällen. Die blosse Möglichkeit eines bestimmten
Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen nicht. Der Richter und die
Richterin haben vielmehr jener Sachverhaltsdarstellung zu folgen, die sie von
allen möglichen Geschehensabläufen als die wahrscheinlichste würdigen (BGE 144
V 427 E. 3.2 S. 429 mit diversen Hinweisen).

Der Untersuchungsgrundsatz schliesst die Beweislast im Sinne der
Beweisführungslast begriffsnotwendig aus, da es Sache des
Sozialversicherungsgerichts (oder der verfügenden Verwaltungsstelle) ist, für
die Zusammentragung des Beweismaterials besorgt zu sein. Im
Sozialversicherungsprozess tragen mithin die Parteien in der Regel eine
Beweislast nur insofern, als im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu
Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt
Rechte ableiten wollte. Diese Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es
sich als unmöglich erweist, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auf Grund
einer Beweiswürdigung einen Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die
Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 144 V 427
E. 3.2 S. 429 mit Hinweisen).

4.

4.1. Das kantonale Gericht hat erwogen, gestützt auf die aktuelle medizinische
Aktenlage könne nicht abschliessend über die Arbeitsfähigkeit der Versicherten
befunden werden. Dabei hat es die Vorinstanz abgelehnt, dem Entscheid in
psychiatrischer Hinsicht das Gutachten der medaffairs, Basel, vom 13. Juni 2017
zu Grunde zu legen. Dass auf die dort attestierte vollständige
Arbeitsunfähigkeit für sämtliche Tätigkeiten nicht abgestellt werden kann, wird
auch von der beschwerdeführenden IV-Stelle nicht bestritten. In der Tat ist es
nicht nachvollziehbar, wenn einerseits eine psychische Störung mit
Krankheitswert bejaht, gleichzeitig aber auf die Unmöglichkeit einer
abschliessenden Diagnostik hingewiesen wird. Damit mag zwar, wie die IV-Stelle
geltend macht, im jetzigen Zeitpunkt bezüglich der Frage eines
invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschaden ein Zustand der
Beweislosigkeit vorliegen; die Vorinstanz hat aber implizit festgestellt, dass
weiterhin eine reale Chance besteht, durch weitere Abklärungsmassnahmen einen
Sachverhalt zu ermitteln, welcher zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich
hat, der Wirklichkeit zu entsprechen. Die IV-Stelle legt nicht dar, inwiefern
diese Feststellung offensichtlich unrichtig sein sollte. Somit ist
grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz weitere
Abklärungsmassnahmen angeordnet hat.

4.2. Das kantonale Gericht hat festgelegt, die von ihm angeordneten Abklärungen
hätten im Rahmen einer mehrjährigen stationären
psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung zu erfolgen. Ob eine mehrjährige
stationäre Behandlung grundsätzlich noch als Abklärungsmassnahme im Sinne von
Art. 43 ATSG angeordnet werden kann, erscheint zweifelhaft, braucht vorliegend
jedoch nicht abschliessend geprüft zu werden. Staatliches Handeln hat gemäss
Art. 5 Abs. 2 BV verhältnismässig zu sein. Kann ein Ziel auf mehreren Wegen
erreicht werden, so gebietet der Verhältnismässigkeitsgrundsatz, den am
wenigsten aufwändigen zu wählen. Vorliegend mag eine mehrjährige stationäre
psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung angezeigt sein, um den
Gesundheitszustand der Versicherten zu verbessern; weshalb der Sachverhalt
allerdings nur durch eine solche geklärt werden könnte, wird vom kantonalen
Gericht nicht näher begründet. Insbesondere ist nicht ersichtlich, weshalb
nicht bereits durch das Einholen eines Gerichtsgutachtens ein Sachverhalt
ermittelt werden könnte, welcher zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat,
der Wirklichkeit zu entsprechen. Das Erstellen eines solchen ist zweifellos
weitaus weniger aufwändig als das Durchführen einer mehrjährigen stationären
psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung. Demnach hat das kantonale
Gericht gegen den Verhältnismässigkeitsgrundsatz und damit gegen Bundesrecht
verstossen, als es nicht ein Gerichtsgutachten, sondern eine Abklärung im
Rahmen einer mehrjährigen stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen
Behandlung anordnete. Entsprechend ist die Beschwerde der IV-Stelle in dem
Sinne teilweise gutzuheissen, dass die Sache unter Aufhebung des kantonalen
Entscheides an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit diese nach Einholen
eines Gerichtsgutachten über den Leistungsanspruch der Versicherten neu
entscheide.

5. 

5.1. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

5.2. Mit diesem Entscheid in der Sache wird das Gesuch der Beschwerdeführerin
um aufschiebende Wirkung der Beschwerde im bundesgerichtlichen Verfahren
gegenstandslos.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des
Kantonsgerichts Luzern vom 6. März 2019 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde
abgewiesen.

2. 

Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 

Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. Juli 2019

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Nabold