Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.247/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

8C_247/2019

Urteil vom 29. August 2019

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Maillard, Präsident,

Bundesrichterinnen Heine, Viscione,

Gerichtsschreiberin Riedi Hunold.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

vertreten durch Advokatin Monica Armesto,

Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,

Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Invalidenversicherung (Invalidenrente; Wiedererwägung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau

vom 14. Februar 2019 (VBE.2018.379).

Sachverhalt:

A.

A.a. A.________, geboren 1964, war ab 6. August 1990 in der Klinik B.________
als Kochhilfe angestellt und in dieser Eigenschaft bei der Allianz Suisse
Versicherungs-Gesellschaft (Allianz) für die Folgen von Unfällen versichert. Am
16. Oktober 1999 wurde A.________ in einen Verkehrsunfall verwickelt. Die
Allianz erbrachte die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung, Taggelder). Am
17. Juli 2002 stellte sie die Leistungen für die Folgen dieses Unfalles
gestützt auf das polydisziplinäre Gutachten der Klinik C.________ vom 11.
Februar 2002 per 30. April 2002 ein (letztinstanzlich bestätigt mit Urteil U
136/05 des Bundesgerichts vom 18. April 2007).

A.b. Am 26. Juni 2002 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau A.________
gestützt auf das Gutachten der Klinik C.________ vom 11. Februar 2002 ab 1.
Oktober 2000 eine ganze Invalidenrente zu. Mit Mitteilungen vom 2. November
2006, 23. November 2010 und 3. Dezember 2012 bestätigte sie die Rente.

A.c. Nachdem A.________ veränderte finanzielle Verhältnisse (Verlustschein
infolge des Todes ihres Ex-Ehemannes) und einen veränderten Gesundheitszustand
gemeldet hatte, holte die IV-Stelle das polydisziplinäre Gutachten vom 13.
Januar 2014 bei der Zentrum für Interdisziplinäre Medizinische Begutachtung AG
(ZIMB), Schwyz, und das rheumatologisch-psychiatrische Gutachten vom 19. Mai
2017 bei der D.________ GmbH ein. Mit Verfügung vom 16. April 2018 hob die
IV-Stelle die Invalidenrente auf.

B. 

Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die dagegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 14. Februar 2019 ab.

C. 

A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, es seien der vorinstanzliche Entscheid und die Verfügung vom
16. April 2018 aufzuheben und die IV-Stelle zu verpflichten, ihr weiterhin eine
ganze Invalidenrente auszurichten. Zudem ersucht sie um unentgeltliche
Rechtspflege.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde, eventualiter die
Rückweisung an sich zu weiteren Abklärungen. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).

1.2. Das Bundesgericht kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
Überdies muss die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen
nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu
Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG).

Die beschwerdeführende Partei, welche die Sachverhaltsfeststellungen der
Vorinstanz anfechten will, muss substanziiert darlegen, inwiefern die
Voraussetzungen einer Ausnahme gemäss Art. 105 Abs. 2 BGG gegeben sind und das
Verfahren bei rechtskonformer Ermittlung des Sachverhalts anders ausgegangen
wäre; andernfalls kann ein Sachverhalt, der vom im angefochtenen Entscheid
festgestellten abweicht, nicht berücksichtigt werden (BGE 140 III 16 E. 1.3.1
S. 18 mit Hinweisen).

2. 

Streitig ist, ob die Vorinstanz zu Recht die Aufhebung der Invalidenrente
bestätigt hat.

3. 

Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Begriffe der
Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG in
Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG) sowie die beweisrechtlichen Anforderungen an
einen ärztlichen Bericht (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352)
zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt für den Anspruch auf eine Invalidenrente
(Art. 28 IVG) und die Modalitäten der Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG; BGE
140 V 77 E. 3.1 S. 79; 138 V 324 E. 3.3 S. 328; 133 V 50 E. 4.1 S. 52, je mit
Hinweisen). Darauf wird verwiesen.

4. 

Das kantonale Gericht hat in seinen Erwägungen 3.3 und 4.1 die massgeblichen
ärztlichen Unterlagen zutreffend wiedergegeben. Dies gilt namentlich für das
Gutachten der Klinik C.________ vom 11. Februar 2002, das ZIMB-Gutachten vom
13. Januar 2014 und das Gutachten der D.________ GmbH vom 19. Mai 2017.

5. 

Die Vorinstanz kam zum Schluss, das Gutachten der Klinik C.________ vom 11.
Februar 2002, insbesondere das psychiatrische Teilgutachten, enthalte
Widersprüche. Zudem sei es von der Unfallversicherung in Auftrag gegeben
worden, so dass primär die Frage der Kausalität wesentlich gewesen sei. Dennoch
habe die IV-Stelle keine weiteren medizinischen Abklärungen veranlasst, sondern
trotz der im Gutachten enthaltenen Inkonsistenzen der Versicherten eine ganze
Invalidenrente zugesprochen. Damit habe die IV-Stelle klar den
Untersuchungsgrundsatz von Art. 43 Abs. 1 ATSG verletzt, weshalb die
ursprüngliche Rentenzusprache zweifellos unrichtig sei. Weiter hielt sie fest,
dass das ZIMB-Gutachten vom 13. Januar 2014 und das Gutachten der D.________
GmbH vom 19. Mai 2017 die Anforderungen der Rechtsprechung erfüllten, so dass
auf sie abgestellt werden könne. Folglich bestätigte sie die Aufhebung der
Rente im Rahmen einer Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG. Abschliessend
hielt sie fest, bei diesem Ausgang des Verfahrens sei auf die in Zusammenhang
mit einer Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG aufgeworfenen Fragen nicht
einzugehen.

6. 

Was die Beschwerdeführerin dagegen vorbringt, vermag zu keinem anderen Ergebnis
zu führen.

6.1. Die Versicherte macht geltend, die von der Vorinstanz dargelegten Gründe
genügten nicht, um eine zweifellose Unrichtigkeit der Verfügung vom 26. Juni
2002 zu belegen.

Das Gutachten der Klinik C.________ vom 11. Februar 2002 ist nicht schlüssig
zur Beantwortung der im invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren sich
stellenden Fragen, namentlich jener der rechtsgenüglich ausgewiesenen
Invalidität bei psychischen Beschwerden. Es enthält verschiedene Inkonsistenzen
und steht in Widerspruch zur bereits damals geltenden Rechtsprechung von BGE
127 V 294 E. 5a S. 299. Diesbezüglich verweist die Vorinstanz zu Recht darauf,
dass Dr. med. E.________ gemäss dem Medizinalberuferegister im Zeitpunkt seiner
Begutachtung - entgegen der Angaben im Gutachten - noch nicht über den
notwendigen Facharzttitel verfügte, so dass nicht von einem fachärztlich
festgestellten medizinischen Substrat im Sinne der Rechtsprechung als Grundlage
der Invalidität gesprochen werden kann. Auch besteht ein offensichtlicher
Widerspruch zwischen Dr. med. E.________ und dem behandelnden Psychiater
hinsichtlich der Verhaltensstörung, die für Dr. med. E.________ im Vordergrund
stand (S. 41 des Gutachtens) und nach seiner Ansicht die Unzumutbarkeit
gegenüber einem Arbeitgeber begründete (S. 39 des Gutachtens), der behandelnde
Psychiater aber bemerkenswerte Verhaltensauffälligkeiten verneinte (S. 19 des
Gutachtens). So erschöpft sich die Begründung des Dr. med. E.________ für die
diagnostizierte Verhaltensstörung einerseits im Hinweis darauf, das Verhalten
der Versicherten sei von verschiedenen Untersuchern als dermassen störend
empfunden worden, dass von einer Verhaltensstörung gesprochen werden könne,
andererseits in der Berücksichtigung der von der Versicherten geschilderten,
aber durch keine Drittangaben verifizierten Schwierigkeiten mit ihren
Mitmenschen (S. 20 des psychiatrischen Teilgutachtens). Angesichts dieser
Sachlage wäre die IV-Stelle gehalten gewesen, weitere medizinische Abklärungen
zu veranlassen, was sie jedoch unterlassen und somit gegen den
Untersuchungsgrundsatz von Art. 43 Abs. 1 ATSG verstossen hat. Diese
offensichtlich unzutreffende Rechtsanwendung stellt einen Wiedererwägungsgrund
nach Art. 53 Abs. 2 ATSG dar (vgl. statt vieler SVR 2019 UV Nr. 11 S. 41,
8C_525/2017 E. 7.2 mit Hinweisen). Daran ändert auch das die Versicherte
betreffende Urteil U 136/05 vom 18. April 2007 nichts. Denn dieses erging im
Rahmen des unfallversicherungsrechtlichen Verfahrens, so dass das Gutachten der
Klinik C.________ vom 11. Februar 2002 als Grundlage zur Beantwortung der
spezifisch unfallversicherungsrechtlicher Fragen des natürlichen und adäquaten
Kausalzusammenhangs diente. Der Umstand, dass das strittige Gutachten den
Anforderungen der Rechtsprechung zur Beurteilung dieser Fragen genügte,
schliesst nicht aus, dass es unzureichend für die Beantwortung der sich im
invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren stellenden Fragen ist.

6.2. Die Versicherte erhebt zudem verschiedene Rügen in Zusammenhang mit der
von der IV-Stelle ebenfalls bejahten Rentenaufhebung im Rahmen einer Revision
nach Art. 17 Abs. 1 ATSG.

Diese Einwände sind unbehelflich, da die Vorinstanz die Aufhebung der
Invalidenrente im Rahmen einer Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG
bestätigte und sich explizit nicht mit den Rügen in Zusammenhang mit einer
Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG äusserte. Folglich ist darauf nicht weiter
einzugehen.

6.3. Da die Versicherte gegen den vorinstanzlichen Einkommensvergleich keine
Einwände erhebt, hat es bei dem vom Versicherungsgericht ermittelten nicht
rentenbegründenden Invaliditätsgrad sein Bewenden.

7. 

Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art.
66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der
vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen
Verbeiständung) kann entsprochen werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen ist,
die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung durch
eine Rechtsanwältin geboten war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen
ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte
Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später
dazu im Stande ist.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 

Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Advokatin Monica Armesto wird als unentgeltliche Anwältin bestellt.

3. 

Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 

Der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 

Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. August 2019

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Riedi Hunold