Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.245/2019
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2019
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2019


TypeError: undefined is not a function (evaluating '_paq.toString().includes
("trackSiteSearch")') https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/
index.php?highlight_docid=aza%3A%2F%2Faza://16-09-2019-8C_245-2019&lang=de&zoom
=&type=show_document:1846 in global code 
 

Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

8C_245/2019

Urteil vom 16. September 2019

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Maillard, Präsident,

Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,

Gerichtsschreiber Wüest.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Martin Keiser,

Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Schaffhausen,

Oberstadt 9, 8200 Schaffhausen,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Invalidenversicherung (Invalidenrente; Arbeitsunfähigkeit),

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 1.
März 2019 (63/2017/25).

Sachverhalt:

A. 

Der 1967 geborene A.________ war zuletzt vom 1. August 2010 bis 31. März 2014
als Oberarzt für Neurologie am Spital B.________ angestellt. Die Arbeitgeberin
löste das Arbeitsverhältnis am 19. November 2013 mit sofortiger Freistellung
auf, da der Versicherte aufgrund einer Alkoholkrankheit als Neurochirurg für
das Spital nicht mehr tragbar gewesen sei. Am 9. Januar 2015 meldete sich
A.________ bei der IV-Stelle des Kantons Schaffhausen zum Leistungsbezug an.
Diese holte ein polydisziplinäres Gutachten der PMEDA AG Polydisziplinäre
Medizinische Abklärungen (nachfolgend: PMEDA) ein. Gestützt auf die Expertise
vom 21. November 2016 verneinte die IV-Stelle - nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren - einen Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung
(Verfügung vom 26. Juni 2017).

B. 

Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen
mit Entscheid vom 1. März 2019 ab.

C. 

Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________
beantragen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und es sei ihm eine ganze
Rente der Invalidenversicherung zuzusprechen. Eventualiter sei auf dem Wege der
Rückweisung eine ausreichende psychiatrische Begutachtung anzuordnen. Zudem
ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung.

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, regt die
Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung an, das Bundesgericht möge seine
"Sonderrechtsprechung" für Suchtleiden im Lichte von BGE 143 V 409 und 418
überprüfen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

D. 

Nach Erlass des Urteils 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 gewährte das
Bundesgericht den Parteien das rechtliche Gehör zur vorgenommenen Änderung der
Rechtsprechung, welches A.________ am 16. August 2019 wahrnahm. Die IV-Stelle
liess sich nicht mehr vernehmen.

Erwägungen:

1. 

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine
Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet
das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es -
offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten
Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art.
105 Abs. 2 BGG).

1.2. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen im bundesgerichtlichen Verfahren
nur soweit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu
Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG), was in der Beschwerde näher darzulegen ist
(BGE 133 III 393 E. 3 S. 395). Tatsachen oder Beweismittel, die sich erst nach
dem angefochtenen Entscheid ereignet haben oder entstanden sind (sog. echte
Noven), können nicht durch dieses Erkenntnis veranlasst worden sein und sind
deshalb von vornherein unzulässig (BGE 143 V 19 E. 1.2 S. 22 f. mit Hinweisen;
140 V 543 E. 3.2.2.2 S. 548). Der letztinstanzlich aufgelegte Bericht der
Fachstelle für Gesundheitsförderung, Prävention und Suchtberatung vom 3. April
2019 datiert nach dem angefochtenen Entscheid und hat daher unberücksichtigt zu
bleiben.

2. 

Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie
in Bestätigung der Verfügung der IV-Stelle vom 26. Juni 2017 einen
Leistungsanspruch des Versicherten verneinte.

3. 

3.1. Das kantonale Gericht stellte fest, dass vorrangig psychosoziale
Belastungen (vor allem berufliche Überlastung und Probleme in der
Partnerschaft) zur Entwicklung des Abhängigkeitssyndroms geführt hätten. Die
Akten würden nahe legen, dass der Alkoholmissbrauch in erster Linie als
untauglicher Selbsthilfeversuch des Beschwerdeführers zu werten sei, der
psychosozialen Überlastungssituation zu entkommen. Es sei demnach nicht
erstellt, dass der Alkoholismus Folge eines krankheitswertigen psychischen
Leidens gewesen sei, als dessen (symptomgleicher) Teil die Sucht aufgefasst
werden könnte. Es könne auch nicht gesagt werden, die Alkoholabhängigkeit habe
zu einem verselbstständigten invalidisierenden Gesundheitsschaden geführt, der
die Abhängigkeit aufrechterhalten oder deren Folgen massgeblich verstärken
könne und insoweit einen Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung
auszulösen vermöchte. Das kantonale Gericht erwog, der psychiatrische Gutachter
der PMEDA, med. pract. C.________, habe nachvollziehbar dargelegt, dass und
weshalb er keine von der Alkoholabhängigkeit abgrenzbare psychiatrische
Erkrankung mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit habe attestieren können. Es
bestehe deshalb kein Anlass, von der Beurteilung im Administrativgutachten
abzuweichen.

Abschliessend stellte das kantonale Gericht die Frage in den Raum, ob in
schweren Fällen einer fachärztlich schlüssig diagnostizierten
Abhängigkeitserkrankung vor dem Hintergrund neuerer medizinischer Erkenntnisse
weiterhin von einer grundsätzlich zumutbaren Überwindbarkeit auszugehen sei
oder ob inskünftig eine umfassende Prüfung anhand der Standardindikatoren in
Erwägung zu ziehen wäre. Solange das Bundesgericht an seiner konstanten
Rechtsprechung festhalte, wonach Abhängigkeitserkrankungen nur unter bestimmten
- hier nicht gegebenen - Voraussetzungen einen Anspruch auf Leistungen der
Invalidenversicherung begründen würden, bestehe kein Anlass, hiervon
abzuweichen.

3.2. Der Beschwerdeführer bestreitet die Beweiskraft des PMEDA-Gutachtens,
insbesondere hinsichtlich der psychiatrischen Beurteilung. Er bringt vor, der
psychiatrische Gutachter habe sich nicht hinreichend mit den misslungenen
Entwöhnungsversuchen auseinandergesetzt. Seine Beurteilung sei nicht
nachvollziehbar. Indem die Vorinstanz auf das mangelhafte
Administrativgutachten abgestellt habe, anstatt ein Obergutachten anzuordnen,
habe sie den Untersuchungsgrundsatz nach Art. 61 lit. c ATSG verletzt. Ferner
rügt der Beschwerdeführer in Bezug auf die Praxis zu Suchterkrankungen eine
Verletzung von Art. 28 IVG und Art. 8 ATSG. Darüber hinaus macht er mehrere
Verstösse gegen die EMRK geltend (Art. 6, Art. 8 und Art. 14 EMRK).

4. 

Mit dem jüngst ergangenen zur Publikation in der amtlichen Sammlung bestimmten
Urteil 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 hat das Bundesgericht vor dem Hintergrund
der Rechtsprechung zur Ausdehnung des strukturierten Beweisverfahrens gemäss
BGE 141 V 281 auf sämtliche psychischen Störungen (BGE 143 V 409 und 418) und
nach vertiefter Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Medizin die
bisherige Rechtsprechung, wonach primäre Abhängigkeitssyndrome bzw.
Substanzkonsumstörungen zum vornherein keine invalidenversicherungsrechtlich
relevanten Gesundheitsschäden darstellen können und ihre funktionellen
Auswirkungen deshalb keiner näheren Abklärung bedürfen, fallen gelassen (E.
5.3.3). Es hat entschieden, dass fortan - gleich wie bei allen anderen
psychischen Erkrankungen - nach dem strukturierten Beweisverfahren zu ermitteln
sei, ob und gegebenenfalls inwieweit sich ein fachärztlich diagnostiziertes
Abhängigkeitssyndrom im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit der versicherten
Person auswirke. Dabei kann und muss im Rahmen des strukturierten
Beweisverfahrens insbesondere dem Schweregrad der Abhängigkeit im konkreten
Einzelfall Rechnung getragen werden (E. 6.3). Diesem komme nicht zuletzt
deshalb Bedeutung zu, weil bei Abhängigkeitserkrankungen - wie auch bei anderen
psychischen Störungen - oft eine Gemengelage aus krankheitswertiger Störung
sowie psychosozialen und soziokulturellen Faktoren vorliege. Letztere seien
auch bei Abhängigkeitserkrankungen auszuklammern, wenn sie direkt negative
funktionelle Folgen zeitigen würden. Weiter wird im Urteil festgehalten, dass
auch bei Vorliegen eines Abhängigkeitssyndroms die Schadenminderungspflicht
(Art. 7 IVG) zur Anwendung komme, so dass von der versicherten Person etwa die
aktive Teilnahme an zumutbaren medizinischen Behandlungen verlangt werden könne
(Art. 7 Abs. 2 lit. d IVG). Komme sie den ihr auferlegten
Schadenminderungspflichten nicht nach, sondern erhalte willentlich den
krankhaften Zustand aufrecht, sei nach Art. 7b Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 21 Abs. 4
ATSG eine Verweigerung oder Kürzung der Leistungen möglich (E. 5.3.1).

5. 

Diese neue Rechtsprechung ist auf alle im Zeitpunkt der Praxisänderung noch
nicht erledigten Fälle anzuwenden (vgl. Urteil 8C_756/2017 vom 7. März 2018 E.
4 mit weiterem Hinweis) und somit auch im vorliegenden Fall massgebend. Vor
diesem Hintergrund ist die Beschwerde begründet, wie sich aus dem Folgenden
ergibt.

5.1. Wie das kantonale Gericht (verbindlich, vgl. E. 1.1 hiervor) feststellte,
sind im hier zu beurteilenden Fall sowohl eine langjährige, nach einem
anerkannten Klassifikationssystem (ICD-10 F10.2) fachärztlich schlüssig
diagnostizierte Abhängigkeitserkrankung als auch mehrfach gescheiterte,
intensive und adäquate Behandlungsversuche ausgewiesen und Hinweise auf eine
letztlich mangelhafte Motivation des Beschwerdeführers fehlen. Dokumentiert
seien erhebliche soziale, interpersonelle und berufliche Einschränkungen sowie
ungünstige Kontextfaktoren (Schicksalsschläge; fehlende oder zumindest stark
verminderte familiäre Unterstützung etc.). Damit beständen zahlreiche Hinweise
auf einen schweren Verlauf der Abhängigkeitserkrankung.

5.2. Die Vorinstanz hat - entsprechend der bisherigen Rechtsprechung - nicht
überprüft, ob das psychiatrische Gutachten der PMEDA den normativen Vorgaben
von BGE 141 V 281 genügte. Dies ist vorliegend zu verneinen.

5.2.1. Der psychiatrische Gutachter med. pract. C.________ kam nach Würdigung
der vorhandenen ärztlichen Berichte, der anamnestischen Angaben und der
erhobenen Befunde zum Schluss, dass kein Anhalt für eine die Arbeitsfähigkeit
beeinträchtigende psychiatrische Störung bestehe. Bei entsprechender
Willensanstrengung und Motivation sei der Versicherte für seine angestammte
Tätigkeit als neurologischer Facharzt sowie für jedwede andere seinem
Kenntnisstand entsprechende Tätigkeit als arbeitsfähig anzusehen. Soweit die
"versicherungsmedizinisch leistungsfremde" Sucht aktenkundig als sekundär
eingeordnet werde, fehle hierfür jeglicher Beleg. Eine Persönlichkeitsstörung
sei nicht ICD-10-koform attestierbar, eine posttraumatische Belastungsstörung
(PTBS) liege nicht vor und die depressiven Störungsepisoden könnten ebenso gut
im Kontext der Sucht verstanden werden, zumal depressive Syndrome zu den
Folgestörungen einer Alkoholsucht zählen würden. Ohne eine vollständige
Entgiftung und Entwöhnung mit anschliessender stabiler Abstinenz sei im Übrigen
auch keine eigenständige andere psychiatrische Störung abgrenzbar. In ihrer
Konsensbeurteilung hielten die Gutachter ebenfalls fest, dass keine von dem
fortgesetzten schädlichen Alkoholkonsum abgrenzbare Gesundheitsschädigung
vorliege, die die Arbeitsfähigkeit des Exploranden einschränke. Demnach bestehe
eine 100%ige Arbeitsfähigkeit (Pensum und Rendement 100 %).

5.2.2. Aus den Ausführungen der PMEDA-Gutachter erhellt, dass ihre Beurteilung
der Arbeitsfähigkeit im Lichte der bisherigen Rechtsprechung zur
invalidisierenden Wirkung einer reinen Suchterkrankung erfolgte. Es fehlt eine
vertiefte Auseinandersetzung ärztlicherseits mit den gemäss BGE 141 V 281
massgeblichen Gesichtspunkten. Eine ergebnisoffene Prüfung fand somit nicht
statt. Der medizinische Sachverhalt erweist sich demnach als ungenügend
abgeklärt. Der angefochtene Entscheid ist deshalb aufzuheben und die Sache -
dem Eventualantrag des Beschwerdeführers entsprechend - an die IV-Stelle
zurückzuweisen, damit sie nach Massgabe des Urteils 9C_724/2018 vom 11. Juli
2019 und BGE 141 V 281 ein psychiatrisches Gutachten veranlasse und hernach neu
verfüge.

6. 

Die Rückweisung der Sache zu erneuter Abklärung gilt für die Frage der
Auferlegung der Gerichtskosten sowie der Parteientschädigung als vollständiges
Obsiegen im Sinn von Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (BGE 141 V 281
E. 11.1 S. 312). Mithin hat die unterliegende IV-Stelle die Gerichtskosten zu
tragen und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung auszurichten. Sein
Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung ist daher
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Obergerichts des
Kantons Schaffhausen vom 1. März 2019 und die Verfügung der IV-Stelle
Schaffhausen vom 26. Juni 2017 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer
Verfügung an die IV-Stelle zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde
abgewiesen.

2. 

Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 

Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 

Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Obergericht des Kantons Schaffhausen
zurückgewiesen.

5. 

Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Schaffhausen und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. September 2019

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Wüest