Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.244/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

8C_244/2019

Urteil vom 4. Juli 2019

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichterin Heine, präsidierendes Mitglied,

Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,

Gerichtsschreiber Nabold.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

vertreten durch Rechtsanwältin Christine Fleisch,

Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,

Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 28. Februar 2019 (IV.2017.00743).

Sachverhalt:

A. 

Die IV-Stelle des Kantons Zürich sprach dem 1958 geborenen A.________ mit
Verfügung vom 22. August 2001 wegen eines Rückenleidens ab 1. Juli 2000 eine
Viertelsrente der Invalidenversicherung zu; diese Rente wurde später mit
Verfügung vom 3. Dezember 2001 ab 1. März 2001 auf eine ganze Rente erhöht.
Nachdem der Versicherte aufgrund einer Verdachtsmeldung observiert worden war,
verfügte die IV-Stelle am 5. Juni 2015 (bestätigt durch einen kantonalen
Gerichtsentscheid vom 28. September 2015) eine vorsorgliche Rentensistierung.
Nach weiteren Abklärungen, wobei insbesondere bei der estimed AG ein
polydisziplinäres medizinisches Gutachten eingeholt wurde (Expertise vom 18.
August und Ergänzung vom 22. Dezember 2016) und nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens hob die IV-Stelle mit Verfügung vom 13. Juni 2017 die
Rente rückwirkend ab Dezember 2011 auf und forderte die zu Unrecht erbrachten
Leistungen zurück.

B. 

Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 28. Februar
2019 ab.

C. 

Mit Beschwerde beantragt A.________, ihm sei unter Anpassung des kantonalen
Gerichtsentscheides bis 1. September 2017 eine ganze Rente der
Invalidenversicherung zuzusprechen. Gleichzeitig stellt A.________ ein Gesuch
um unentgeltliche Rechtspflege.

Während die IV-Stelle des Kantons Zürich auf Abweisung der Beschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).

1.2. Das Bundesgericht kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
Überdies muss die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen
nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu
Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG).

Die beschwerdeführende Partei, welche die Sachverhaltsfeststellungen der
Vorinstanz anfechten will, muss substanziiert darlegen, inwiefern die
Voraussetzungen einer Ausnahme gemäss Art. 105 Abs. 2 BGG gegeben sind und das
Verfahren bei rechtskonformer Ermittlung des Sachverhalts anders ausgegangen
wäre; andernfalls kann ein Sachverhalt, der vom im angefochtenen Entscheid
festgestellten abweicht, nicht berücksichtigt werden (BGE 140 III 16 E. 1.3.1
S. 18 mit Hinweisen).

2. 

Es steht fest und ist letztinstanzlich unbestritten, dass sich der
Gesundheitszustand des Versicherten seit der ursprünglichen Rentenzusprache
wesentlich verbessert hat und er nunmehr in der Lage ist, ein
rentenausschliessendes Einkommen zu erzielen. Streitig und zu prüfen ist, ob
die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, als sie die Aufhebung der Rente
rückwirkend ab Dezember 2011 und die erst dem Grundsatz nach verfügte
Rückerstattung bestätigte oder ob die Anpassung der Rente erst auf den ersten
Tag des zweiten der Zustellung der Verfügung folgenden Monats (mithin auf den
1. September 2017) hin zu erfolgen hat.

3. 

3.1. Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines
Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente in Anwendung von Art. 17 Abs. 1
ATSG von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht,
herabgesetzt oder aufgehoben.

3.2. Die Herabsetzung oder Aufhebung der Renten, der Hilflosenentschädigungen
und der Assistenzbeiträge erfolgt frühestens vom ersten Tag des zweiten der
Zustellung der Verfügung folgenden Monats an (Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV)
oder rückwirkend ab Eintritt der für den Anspruch erheblichen Änderung, wenn
der Bezüger die Leistung zu Unrecht erwirkt hat oder der ihm nach Art. 77 IVV
zumutbaren Meldepflicht nicht nachgekommen ist (Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV).
Seit der Novellierung dieses Absatzes auf den 1. Januar 2015 gilt dies
unabhängig davon, ob die Verletzung der Meldepflicht oder die unrechtmässige
Erwirkung ein Grund für die Weiterausrichtung der Leistung war (vgl. Urteil
8C_859/2017 vom 8. Mai 2018 E. 4.3).

3.3. Der Berechtigte oder sein gesetzlicher Vertreter sowie Behörden oder
Dritte, denen die Leistung zukommt, haben gemäss Art. 77 IVV jede für den
Leistungsanspruch wesentliche Änderung, namentlich eine solche des
Gesundheitszustandes, der Arbeits- oder Erwerbsfähigkeit, des Zustands der
Hilflosigkeit, des invaliditätsbedingten Betreuungsaufwandes oder Hilfebedarfs,
des für den Ansatz der Hilflosenentschädigung und des Assistenzbeitrages
massgebenden Aufenthaltsortes sowie der persönlichen und gegebenenfalls der
wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten unverzüglich der IV-Stelle
anzuzeigen.

4. 

Das kantonale Gericht hat unter Bezugnahme auf die Ergebnisse einer Observation
des Beschwerdeführers erwogen, der Versicherte habe seine Meldepflicht
spätestens 2008 verletzt, indem er die IV-Stelle über seinen verbesserten
Gesundheitszustand nach überstandener Rückenoperation und erfolgter
Nachbehandlung nicht informierte.

4.1. Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, die Ergebnisse der Observation
dürften ihm nicht entgegengehalten werden, ist folgendes festzuhalten: Es
trifft zwar zu, dass die Observation grundsätzlich rechtswidrig erfolgte (BGE
143 I 377 E. 4 S. 384). Indessen ist nach demselben Urteil das Beweismaterial,
das im Rahmen einer rechtswidrig angeordneten Observation im öffentlich frei
einsehbaren Raum gewonnen wurde, im Invalidenversicherungsverfahren gestützt
auf eine Interessenabwägung zwischen privaten und öffentlichen Interessen
verwertbar (BGE 143 I 377 E. 5.1.1 S. 385 f.). Dies gilt rechtsprechungsgemäss
unabhängig von der Frage, ob die Observation objektiv geboten war oder nicht
(vgl. Urteil 9C_561/2018 vom 8. Februar 2019 E. 5.2.2). Es ist auch -
insbesondere unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Versicherte
lediglich an sieben Tagen observiert wurde - nicht ersichtlich, dass im
konkreten Fall der Eingriff in das Privatleben schwerer gewogen hätte als im
Sachverhalt, welcher dem Leiturteil zu Grunde lag. Somit hat die Vorinstanz
kein Bundesrecht verletzt, als sie die Ergebnisse der Observation in ihre
Beurteilung miteinbezogen hat.

4.2. Ausweislich der Akten erfolgte die ursprüngliche Rentenzusprache aufgrund
eines Rückenleidens; es ist letztinstanzlich unbestritten, dass sich dieses
Leiden auch weiterhin erwerblich auswirkt, der Beschwerdeführer aber nunmehr in
der Lage ist, in einer angepassten Tätigkeit ein rentenausschliessendes
Einkommen zu erzielen. Rechtsprechungsgemäss ist bei einer solchen Ausgangslage
die versicherte Person grundsätzlich nicht verpflichtet, das von ihr in jenem
Zeitpunkt noch bestrittene Ergebnis der Begutachtung im Sinne einer Meldung an
die Verwaltung vorwegzunehmen. Anders zu entscheiden ist nur dann, wenn
Anhaltspunkte bestehen für eine Ausschöpfung der hinzugewonnenen
Arbeitsfähigkeit oder für ausserhäusliche Aktivitäten, die mit dem geltend
gemachten Leiden schlichtweg unvereinbar sind (vgl. Urteil 9C_561/2018 vom 8.
Februar 2019 E. 5.4.3). Das kantonale Gericht hat für das Bundesgericht
grundsätzlich verbindlich festgestellt, die im Rahmen der Observation
dokumentierten Reinigungsarbeiten und Einkäufe ohne sichtbare Einschränkungen,
die Teilnahme an den auf Facebook einsehbar gemachten Veranstaltungen und die
längeren Autofahrten seien mit der geltend gemachten vollständigen
Erwerbsunfähigkeit unvereinbar. Der Beschwerdeführer verweist diesbezüglich
lediglich und zu Unrecht (vgl. E. 4.1 hievor) auf die Unverwertbarkeit der
Observationsergebnisse, ohne jedoch darzulegen, dass diese Erwägungen der
Vorinstanz sonstwie bundesrechtswidrig gewesen wären. Durfte das kantonale
Gericht zudem die Observationsergebnisse in ihre Beurteilung miteinbeziehen, so
erscheint auch der vorinstanzliche Schluss, die Verbesserung des
Gesundheitszustandes sei nicht erst, wie vom Beschwerdeführer geltend gemacht,
am 22. Dezember 2016 eingetreten, nicht als offensichtlich unrichtig. Aufgrund
des Rückenleidens stellte das kantonale Gericht eine seit 2008 bestehende
Arbeitsfähigkeit in angestammter Tätigkeit von 30 % und in angepasster
Tätigkeit von 80 % fest. Zudem ist gemäss den verbindlichen vorinstanzlichen
Feststellungen eine bleibende oder längere Zeit dauernde Arbeitsunfähigkeit
aufgrund des Blasentumors nicht zeitnah ausgewiesen. Da der Beschwerdeführer
nichts vorbringt, was diese Feststellungen als bundesrechtswidrig erscheinen
lassen würde, ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz von einer
Verletzung der Meldepflicht des Versicherten seit spätestens 2008 ausging.

4.3. Die Verletzung der Meldepflicht war mindestens bis zum Eingang der
Observationsergebnisse bei der IV-Stelle und damit bis mindestens April 2015
kausal für die Weiterausrichtung der Rente. Seit dem 1. Januar 2015 bildet der
Zeitpunkt der Kenntnis der IV-Stelle über die Verbesserung des
Gesundheitszustandes des Versicherten im Falle einer Meldepflichtverletzung
nicht länger die Grenze der Rückforderbarkeit (vgl. Urteil 8C_859/2017 vom 8.
Mai 2018 E. 4.3). Somit braucht nicht näher geprüft zu werden, ob die IV-Stelle
mit Eingang der Observationsergebnisse hinreichende Kenntnis von der
Veränderung des Gesundheitszustandes hatte und die Kausalität des
Meldepflichtverletzung damit allenfalls im April 2015 dahingefallen ist. Das
kantonale Gericht hat damit kein Bundesrecht verletzt, als es die rückwirkende
Aufhebung der Rente ab Dezember 2011 und die Rückforderung der zu Unrecht
erbrachten Leistungen bestätigte; die Beschwerde des Versicherten ist
abzuweisen.

5.  

Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten dem
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege ist stattzugeben, da die entsprechenden
gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird
indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die
begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie
später dazu in der Lage ist.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 

Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwältin Christine Fleisch wird als unentgeltliche Anwältin bestellt.

3. 

Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 

Der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 

Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. Juli 2019

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Heine

Der Gerichtsschreiber: Nabold