Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.223/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

8C_223/2019

Urteil vom 11. Juli 2019

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Maillard, Präsident,

Bundesrichterinnen Heine, Viscione,

Gerichtsschreiberin Elmiger-Necipoglu.

Verfahrensbeteiligte

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern,

Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Philipp Gressly,

Beschwerdegegner.

Gegenstand

Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn

vom 21. Februar 2019 (VSBES.2018.87).

Sachverhalt:

A. 

Der 1980 geborene A.________ ist Inhaber der Unternehmung B.________ in
C.________. Er ist freiwillig bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (Suva) gegen die Folgen von Unfällen versichert. Am
15. Mai 2016 stürzte er beim Absteigen von einem Elektro-Scooter und zog sich
dabei eine Fussgelenksfraktur rechts zu. Die Suva kam für die Heilbehandlung
auf und richtete Taggelder bis zum 31. Mai 2017 aus. Mit Verfügung vom 8. Mai
2017 sprach sie A.________ ab dem 1. Juni 2017 eine Invalidenrente basierend
auf einem Invaliditätsgrad von 13 % zu. Daran hielt sie im Einspracheentscheid
vom 8. Februar 2018 fest.

B. 

Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn gut und änderte den Einspracheentscheid der Suva dahingehend ab, als
es diese verpflichtete, A.________ ab dem 1. Juni 2017 eine Invalidenrente
basierend auf einem Invaliditätsgrad von 35 % auszurichten (Entscheid vom 21.
Februar 2019).

C. 

Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Suva, in
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei der Einspracheentscheid vom 8.
Februar 2018 zu bestätigen.

A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für
Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 145 V 57 E. 4.2 S. 61 mit Hinweis).

1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2. 

2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht zu Recht den
Invaliditätsgrad des Versicherten ab dem 1. Juni 2017 von 13 % auf 35 % anhob
und ihm eine entsprechende Rente zusprach. Die medizinischen Grundlagen der
Invaliditätsbemessung sind hierbei unbestritten. So ist insbesondere erstellt,
dass der Versicherte in seiner angestammten Tätigkeit als Maler nicht mehr
arbeitsfähig ist, in einer angepassten Tätigkeit jedoch über eine volle
Arbeitsfähigkeit verfügt. In erwerblicher Hinsicht ist hingegen strittig, ob
und inwiefern dem Umstand Rechnung zu tragen ist, dass es sich beim
Versicherten um eine zur Gemeinschaft der Fahrenden gehörende Person handelt.

2.2. Gestützt auf die Vorbringen der Beschwerdeführerin wäre bei dieser
Rechtslage grundsätzlich vorab zu prüfen, ob versicherten Personen, die zur
Gemeinschaft des fahrenden Volkes gehören, die Ausübung einer unselbstständigen
Tätigkeit während des ganzen Jahres zumutbar wäre, mithin ob sich eine Änderung
der Rechtsprechung gemäss BGE 138 I 205 aufdrängt. Wie dies im Nachfolgenden
aufzuzeigen ist, braucht diese Frage indessen nicht abschliessend geklärt zu
werden. Denn selbst wenn zugunsten des Beschwerdegegners davon auszugehen wäre,
dass ihm infolge seiner Zugehörigkeit zur Gemeinschaft des fahrenden Volkes
eine unselbstständige Tätigkeit lediglich während 6 Monaten zumutbar wäre,
würde dies am Verfahrensausgang nichts ändern.

3.

3.1. Für die Ermittlung des Valideneinkommens kam die Vorinstanz zum Ergebnis,
der IK-Auszug stelle aus diversen Gründen keine aussagekräftige Datengrundlage
dar, und ebensowenig bestehe Raum für die ausserordentliche Bemessungsmethode.
Da die üblichen Vorgehensweisen zur Bestimmung des Valideneinkommens bei
Selbstständigerwerbenden ausgeschieden seien, habe die Beschwerdeführerin zu
Recht auf die statistischen Werte der Schweizerischen Lohnstrukturerhebungen
zurückgegriffen (LSE 2014, TA1, Privater Sektor, 41-43 "Baugewerbe",
Kompetenzniveau 1, Männer) und - für das massgebliche Jahr 2017 nach Anpassung
an die übliche Anzahl Wochenstunden und an die allgemeine Lohnentwicklung - ein
Einkommen von Fr. 70'001.- ermittelt. In Bezug auf das Invalideneinkommen
befand die Vorinstanz, unter Berücksichtigung des BGE 138 I 205 könne nicht auf
die dokumentierten Arbeitsplätze (DAP) abgestellt werden, da es dem
Versicherten infolge seiner Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Fahrenden nicht
zumutbar sei, einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit ganzjährig nachzugehen.
Zumutbar sei dies nur während der sesshaften Zeit in den Wintermonaten, die
allerdings unter Berücksichtigung der Schadenminderungspflicht von vier auf
sechs Monate auszudehnen sei. Unter Anwendung der statistischen Werte (LSE
2014, TA1, Privater Sektor, Kompetenzniveau 1, Total, Männer) ermittelte sie,
wiederum nach Anpassung an die durchschnittliche Wochenarbeitszeit des Jahres
2017 und an die allgemeine Lohnentwicklung, ein Einkommen von Fr. 33'761.-.
Hinzuzufügen sei der zumutbare Verdienst während der nicht sesshaften Phase,
den die Vorinstanz gestützt auf die plausiblen Aussagen anlässlich der
Parteibefragung vom 10. Dezember 2018 auf Fr. 12'000.- schätzte. Bei einem
Invalideneinkommen von insgesamt Fr. 45'761.- und einem Valideneinkommen von
Fr. 70'001.-, resultiere ein Invaliditätsgrad von 35 %.

3.2. Nach der Rechtsprechung ist unter dem Erwerbseinkommen, das die
versicherte Person erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre, nach
Art. 16 ATSG jenes Einkommen zu verstehen, welches sie als Gesunde tatsächlich
erzielen könnte. Invaliditätsfremde Umstände, so auch die Tatsache, dass eine
versicherte Person zur Gemeinschaft der Fahrenden gehört (vgl. Urteil I 750/04
vom 5. April 2006 E. 5.5), sind im Rahmen des Einkommensvergleichs überhaupt
nicht oder dann bei beiden Vergleichsgrössen gleichmässig zu berücksichtigen
(vgl. BGE 141 V 1 E. 5.4 S. 3; 135 V 58 E. 3.1 S. 59; 129 V 222 E. 4.4 S. 225
mit Hinweisen). Indem die Vorinstanz der Tatsache, dass der Versicherte zum
fahrenden Volk gehört, nur beim Invalideneinkommen Rechnung trug, verletzte sie
den Grundsatz der Parallelisierung. Wie die Beschwerdeführerin zu Recht
moniert, hätte das kantonale Gericht die Eigenheiten, die sich aus der
Lebensweise des fahrenden Volkes ergeben, auch beim Valideneinkommen mit einer
zweiphasigen Rechnung berücksichtigen müssen, was nachzuholen ist.

3.3. Die Vorinstanz ging davon aus, dass die sesshafte Phase unter
Berücksichtigung der Schadenminderungspflicht von vier auf sechs Monate
heraufzusetzen sei (E. 3.1), mithin dass dem Beschwerdegegner die Ausübung
einer unselbstständigen Tätigkeit ein halbes Jahr zumutbar sei, was unter
Vorbehalt des vorab Aufgeführten (E. 2.2) nicht zu beanstanden ist. Dass die
Vorinstanz, wie auch zuvor die Beschwerdeführerin, für das Valideneinkommen
infolge der schwankenden Löhne des Versicherten auf die statistische
Lohnerhebungen zurückgriff, bietet ebensowenig Anlass zu Diskussion. Allerdings
ist - analog dem Invalideneinkommen - auch beim Valideneinkommen dem Umstand
Rechnung zu tragen, dass für die sesshafte bzw. nicht sesshafte Phase
unterschiedliche Einkommensgrundlagen herbeizuziehen sind. Für diese Zeit
beträgt das Valideneinkommen gestützt auf die statistischen Werte (LSE 2014,
TA1, Privater Sektor, 41-43 "Baugewerbe", Kompetenzniveau 1, Männer) unter
Berücksichtigung dieser Tätigkeit während sechs Monaten pro Jahr Fr. 35'001.-
(vgl. hiervor E. 3.1: Fr. 70'001.-./. 2). Entgegen der Ansicht des
Beschwerdegegners genügt die blosse Tüchtigkeit nicht, um ihn im Komptenzniveau
2 anzusiedeln. Von der Rechtsprechung wird vielmehr verlangt, dass die
versicherte Person über besondere Fertigkeiten und Kenntnisse verfügt (vgl.
dazu Urteil 8C_721/2018 vom 26. März 2019 E. 8.2.1 mit Hinweisen), was beim
Versicherten nicht zutrifft. Zu diesem sind die Einkünfte, die der Versicherte
während der nicht sesshaften Zeit auch ohne Unfall erzielt hätte, zu addieren.
Gestützt auf die Angaben des Versicherten schätzte die Vorinstanz diesen Betrag
auf Fr. 12'000.-, wovon entgegen der Meinung des Beschwerdegegners ebenfalls
nicht abzuweichen ist (vgl. E. 3.1). Somit resultiert ein Valideneinkommen von
Total Fr. 47'001.-.

3.4. Das vorinstanzlich (ebenfalls zweiphasig) ermittelte und unbestrittene
Invalideneinkommen beträgt Fr. 45'761.- (E. 3.1). Wie die Vorinstanz
schliesslich diesbezüglich korrekt erwog, rechtfertigt sich bei dieser Sachlage
keine zusätzliche Berücksichtigung eines leidensbedingten Abzugs infolge einer
minimalen Schulbildung bzw. fehlenden Ausbildung. Denn diesem
invaliditätsfremden Faktor wird bereits bei der zweiphasigen Festsetzung der
Vergleichseinkommen Rechnung getragen, so dass ein zusätzlicher Abzug einer
doppelten Berücksichtigung gleichkäme (vgl. dazu Urteil 8C_327/2018 vom 31.
August 2018 E. 4.4.1 mit Hinweisen). Die Gegenüberstellung der ermittelten
Vergleichseinkommen (Fr. 47'001.- /Fr. 45'761.-) ergibt einen Invaliditätsgrad,
der unter dem massgeblichen Schwellenwert von 10 % liegt (Art. 18 Abs. 1 UVG).

Zusammenfassend hält die strittige Rentenerhöhung vor Bundesrecht nicht stand.
Somit bleibt es bei dem von der Suva verfügten Rentenanspruch mit einem
Invaliditätsgrad von 13 %. Denn aufgrund des Verbots der reformatio in peius
(vgl. Art. 107 Abs. 1 BGG) bliebe es dem Bundesgericht ohnehin verwehrt den
angefochtenen Entscheid in diesem Punkt zu Ungunsten des Beschwerdeführers
abzuändern. Die Beschwerde ist begründet und demzufolge gutzuheissen.

4. 

Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65). Die Kosten des Verfahrens sind vom
unterliegenden Beschwerdegegner zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Solothurn vom 21. Februar 2019 wird aufgehoben und der
Einspracheentscheid der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) vom
8. Februar 2018 bestätigt.

2. 

Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3. 

Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 11. Juli 2019

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Elmiger-Necipoglu