Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.208/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

8C_208/2019

Urteil vom 26. November 2019

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Maillard, Präsident,

Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,

Gerichtsschreiberin Durizzo.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Reto Diggelmann,

Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Invalidenversicherung (Invalidenrente, Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 15. Februar 2019 (IV 2016/235).

Sachverhalt:

A. 

A.________, geboren 1971, gelernter Zimmermann, führte einen eigenen
Holzbaubetrieb mit mehreren Angestellten. Nachdem er im Juli 2000 am rechten
Auge praktisch erblindet war, meldete er sich im September 2000 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen sprach ihm mit Verfügung vom 7. August 2003 ab dem 1. Juli 2001 eine
ganze Invalidenrente zu. Der Anspruch wurde am 6. Mai 2005 und am 17. Juni 2009
bestätigt.

Im August 2013 wurde die Diagnose einer Multiplen Sklerose (MS) gestellt. Die
IV-Stelle holte im Zuge eines von Amtes wegen eingeleiteten Revisionsverfahrens
ein Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle MEDAS Bern vom 13. Oktober
2015 ein. Mit Verfügung vom 31. Mai 2016 hob sie den Rentenanspruch auf mit der
Begründung, dass A.________ seit August 2013 wieder zu 70-80 % arbeitsfähig
sei.

B. 

Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 15. Februar 2019 ab.

C. 

A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, es sei ihm eine ganze Invalidenrente zuzusprechen, eventualiter
sei die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 

Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).

2. 

Streitig ist, ob die vorinstanzlich bestätigte Aufhebung der ganzen Rente auf
Ende des der Zustellung der Verfügung vom 31. Mai 2016 folgenden Monats
beziehungsweise die Verneinung des Rentenanspruchs ab dem 1. August 2017 vor
Bundesgericht standhält. Zur Frage stehen dabei im Rahmen der an sich
unbestrittenerweise zulässigen Revision (nach Verbesserung des Sehvermögens und
unter Annahme einer 75%igen Arbeitsfähigkeit) einzig die erwerblichen
Auswirkungen der Gesundheitsschädigung.

3.

3.1. Das kantonale Gericht hat die zu beachtenden Grundsätze zur Ermittlung des
Invaliditätsgrades nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art.
16 ATSG) zutreffend dargelegt. Es wird darauf verwiesen.

3.2. Hervorzuheben ist, dass der Einkommensvergleich in der Regel in der Weise
zu erfolgen hat, dass die beiden hypothetischen Erwerbseinkommen ziffernmässig
möglichst genau ermittelt und einander gegenübergestellt werden, worauf sich
aus der Einkommensdifferenz der Invaliditätsgrad bestimmen lässt. Insoweit die
fraglichen Erwerbseinkommen ziffernmässig nicht genau ermittelt werden können,
sind sie nach Massgabe der im Einzelfall bekannten Umstände zu schätzen und die
so gewonnenen Annäherungswerte miteinander zu vergleichen. Lassen sich die
beiden hypothetischen Erwerbseinkommen nicht zuverlässig ermitteln oder
schätzen, so ist in Anlehnung an die spezifische Methode für Nichterwerbstätige
(Art. 28a Abs. 2 IVG)ein Betätigungsvergleich anzustellen und der
Invaliditätsgrad nach Massgabe der erwerblichen Auswirkungen der verminderten
Leistungsfähigkeit in der konkreten erwerblichen Situation zu bestimmen
(ausserordentliches Bemessungsverfahren). Der grundsätzliche Unterschied dieses
Verfahrens zur spezifischen Methode besteht darin, dass die Invalidität nicht
unmittelbar nach Massgabe des Betätigungsvergleichs als solchem bemessen wird.
Vielmehr ist zunächst anhand des Betätigungsvergleichs die leidensbedingte
Behinderung festzustellen; sodann aber ist diese im Hinblick auf ihre
erwerbliche Auswirkung besonders zu gewichten. Eine bestimmte Einschränkung im
funktionellen Leistungsvermögen einer erwerbstätigen Person kann zwar, braucht
aber nicht notwendigerweise eine Erwerbseinbusse gleichen Umfangs zur Folge zu
haben. Wollte man bei Erwerbstätigen ausschliesslich auf das Ergebnis des
Betätigungsvergleichs abstellen, so wäre der gesetzliche Grundsatz verletzt,
wonach bei dieser Kategorie von Versicherten die Invalidität nach Massgabe der
Erwerbsunfähigkeit zu bestimmen ist (BGE 128 V 29 E. 1 S. 30 f.; 104 V 135 E. 2
S. 136 f.; AHI 1998 S. 119 E. 1a S. 120; Urteil 8C_626/2014 vom 6. Januar 2015
E. 4.2; vgl. ferner 8C_645/2010 vom 22. November 2010 E. 7.1 und 7.2).
Praxisgemäss kann diese Bemessungsmethode des Betätigungsvergleichs bei
Selbstständigerwerbenden Anwendung finden (BGE 128 V 29 E. 1 S. 30 f.; 105 V
151; 104 V 135 E. 2c S. 138 f.; SVR 2010 IV Nr. 11 S. 35, 9C_236/2009 E. 3.3;
AHI 1998 S. 119 E. 1a; Urteile 8C_640/2016 vom 29. November 2016 E. 4.2; 8C_514
/2016 vom 29. September 2016 E. 6.1; 9C_812/2015 vom 7. Juli 2016 E. 4; 8C_928/
2015 vom 19. April 2016 E. 2.3.3).

3.3. Zu ergänzen ist, dass der Invaliditätsgrad nach Eintritt einer
anspruchsrelevanten Veränderung des Sachverhalts im Sinne einer
revisionsbegründenden erheblichen Gesundheitsveränderung auf der Grundlage
eines richtig und vollständig festgestellten Sachverhalts neu und ohne Bindung
an frühere Invaliditätsschätzungen zu ermitteln ist (BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 11).

3.4. Die Frage nach der im Einzelfall anwendbaren Methode der
Invaliditätsbemessung (Einkommensvergleich mit den Untervarianten Schätzungs-
und Prozentvergleich sowie ausserordentliches Bemessungsverfahren,
Betätigungsvergleich, gemischte Methode) ist eine Rechtsfrage und somit vom
Bundesgericht frei überprüfbar (Urteile 8C_753/2018 vom 4. Februar 2019 E. 5.2;
I 726/06 vom 8. Januar 2007 E. 3.2).

4. 

Die Vorinstanz ermittelte das Valideneinkommen gestützt auf die vom Bundesamt
für Statistik herausgegebene Lohnstrukturerhebung (LSE). Zur Begründung führte
sie an, dass die Verwaltung bei der ursprünglichen Rentenzusprechung ebenfalls
auf die Tabellenlöhne abgestellt habe. Es sei in erwerblicher Hinsicht
diesbezüglich keine Sachverhaltsänderung eingetreten. Sie ermittelte für das
Jahr 2016 ausgehend vom Durchschnitt der jeweiligen Werte für Kompetenzniveau 3
beziehungsweise 4 im Baugewerbe (entsprechend den in LSE 2002 noch
zusammengefassten Anforderungsniveaus 1 und 2) ein Jahreseinkommen von 100'937
Franken.

Bezüglich des Invalideneinkommens stellte das kantonale Gericht fest, dass dem
Beschwerdeführer gemäss Gutachten Tätigkeiten zumutbar sind, die das
Gleichgewicht und die Standstabilität nicht übermässig beanspruchen und
insbesondere kein Besteigen von Leitern und Gerüsten erfordern. Vorbehalte
bestehen auch für Tätigkeiten, bei denen eine hohe Handkraft und
Geschicklichkeit benötigt wird. Arbeiten in Hitze und Wärme sind zu meiden
beziehungsweise verlangen vermehrte Pausen. Psychomentale Belastungen sind eher
ungeeignet. Die Tätigkeit als Inhaber einer Unternehmung für
Zimmermannsarbeiten beziehungsweise Innenausbau mit zeitlicher Flexibilität und
Delegationsmöglichkeiten gilt gemäss vorinstanzlicher Feststellung als ideal
adaptiert. Der Versicherte - so das kantonale Gericht weiter - verfüge als
gelernter Zimmermann nicht nur über handwerkliche Fähigkeiten. Vielmehr habe er
als seit 1991 Selbstständigerwerbender und Geschäftsführer auch Erfahrung bei
der Kundenbetreuung, der Kundenakquisition sowie bezüglich allgemeiner
Beratungsdienstleistungen erlangt und zudem verschiedene Weiterbildungen
absolviert. Zugunsten des Beschwerdeführers bestimmte das kantonale Gericht das
Invalideneinkommen jedoch gestützt auf die LSE. Es sei dem bei Verfügungserlass
45-Jährigen zuzumuten, eine andere als die bisherige Tätigkeit auszuüben, und
der Lohn als Angestellter falle geringer aus. Dabei ging es vom Totalwert für
Männerlöhne gemäss Tabelle TA1, Kompetenzniveau 3, aus. Entsprechend dem
zeitlich noch zumutbaren Arbeitspensum von 75 % ermittelte es ein
Invalideneinkommen von 67'394 Franken.

Die Vorinstanz gewährte einen leidensbedingten Abzug von 5 %. Der Vergleich des
dadurch reduzierten Invalideneinkommens von 64'024 Franken mit dem
Valideneinkommen von 100'937 Franken ergab einen rentenausschliessenden
Invaliditätsgrad von 37 %.

5. 

Der Beschwerdeführer macht geltend, dass das Valideneinkommen nicht anhand
statistischer Werte hätte ermittelt werden dürfen. Vielmehr wäre ein
Betätigungsvergleich durchzuführen gewesen. Sollte dennoch auf die LSE
abgestellt werden, müsse zumindest der statistische Wert für Kompetenzniveau 4
zur Anwendung gebracht werden. Es sei zudem zu berücksichtigen, dass er als
Gesunder weit mehr als die betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit von 41,7
Stunden geleistet habe. Beim Invalideneinkommen wäre nicht auf die Zahlen
gemäss Kompetenzniveau 3, sondern auf Kompetenzniveau 2 abzustellen.
Schliesslich wäre der leidensbedingte Abzug auf 10 % festzusetzen.

6. 

Der Invaliditätsgrad ist für den Zeitpunkt der Revisionsverfügung neu zu prüfen
(oben E. 3.3). Damit ist auch das Valideneinkommen auf diesen Zeitpunkt hin so
zuverlässig wie möglich festzusetzen. Die von der Vorinstanz angewendete
Einkommensvergleichsmethode soll zwar praxisgemäss in erster Linie zum Zug
kommen (oben E. 3.2), doch sind davon unter den hier gegebenen Umständen keine
zuverlässigen Ergebnisse zu erwarten. Der Versicherte führte bei Eintritt der
Gesundheitsschädigung im Jahr 2000 einen eigenen Betrieb (in Form einer
Aktiengesellschaft), den er im Alter von erst 20 Jahren übernommen hatte. Er
bezog nur einen geringen Lohn und die Betriebsgewinne waren bis dahin äusserst
schwankend gewesen. Zu seinen Gunsten (weil deutlich höher) zog die IV-Stelle
den in der LSE ausgewiesenen Lohn für die damals noch zusammengefassten
Anforderungsniveaus 1 und 2 (heute Kompetenzniveau 4 beziehungsweise 3) im
Baugewerbe heran.

Die damalige hilfsweise Festsetzung gestützt auf die Tabellenlöhne kann nicht
als zuverlässige Referenz dafür gelten, was der Beschwerdeführer heute als
Gesunder verdienen könnte. Auch mit Blick auf die Geschäftsentwicklung
rechtfertigt es sich nicht, den statistischen Durchschnittslohn für einen -
wenn auch gut qualifizierten - Arbeitnehmer heranzuziehen. Zwischenzeitlich
vermochte der Beschwerdeführer seinen Betrieb trotz erheblicher
invaliditätsbedingter Einschränkungen personell deutlich zu vergrössern und
räumlich zu erweitern.

Das Valideneinkommen lässt sich nach dem Gesagten entgegen der vorinstanzlichen
Annahme weder ziffernmässig ermitteln noch im Sinne eines Annäherungswertes
schätzen. Mangels eines zuverlässigen Ergebnisses sind daher die
bundesrechtlichen Voraussetzungen für die Anwendung der
Einkommensvergleichsmethode (oben E. 3.2) nicht erfüllt. Die Sache ist daher an
die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie den Invaliditätsgrad nach der
ausserordentlichen Bemessungsmethode ermittle.

7. 

Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden der
unterliegenden Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Des Weiteren
hat sie dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs.
2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 15. Februar 2019 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 31. Mai 2016 werden
aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons St. Gallen
zurückgewiesen, damit sie über den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine
Invalidenrente neu verfüge. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 

Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 

Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4. 

Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
zurückgewiesen.

5. 

Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 26. November 2019

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Durizzo