Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.837/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

6B_837/2019

Urteil vom 6. Dezember 2019

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Denys, Präsident,

Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,

Bundesrichter Rüedi,

Gerichtsschreiber Matt.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Stephan Schlegel,

Beschwerdeführer,

gegen

Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Gesuch um Gesamtstrafenbildung (Art. 34 Abs. 3 StPO),

Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern, 1.
Strafkammer, vom 11. Juni 2019 (SK 19 76).

Sachverhalt:

A. 

A.________ wurde am 14. Januar 2016 wegen Straftaten, die er am 5. Dezember
2014 begangen hatte, erstinstanzlich zu 6 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.
Das in Rechtskraft erwachsene Urteil des Obergerichts des Kantons Bern in
dieser Sache erging am 15. Juni 2017. Am 16. August 2017 verurteilte das
Regionalgericht Bern-Mittelland A.________ zudem wegen zwischen dem 1. Mai und
dem 5. Oktober 2016 begangener Straftaten zu 181 /2 Monaten Freiheitsstrafe.
Auch dieses Urteil erwuchs in Rechtskraft.

Am 14. Februar 2019 ersuchte A.________ das Obergericht des Kantons Bern auf
Grundlage von Art. 34 Abs. 3 StPO darum, aus dessen Urteil vom 15. Juni 2017
und demjenigen des Regionalgerichts Bern-Mittelland vom 16. August 2017 eine
Gesamtstrafe von 6 Jahren und 6 Monaten zu bilden. Das Obergericht trat auf
dieses Gesuch am 11. Juni 2019 nicht ein.

B. 

Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________, die Sache sei zur
materiellen Beurteilung an das Obergericht zurückzuweisen. Er ersucht um
unentgeltliche Rechtspflege.

Erwägungen:

1.

1.1. Hat das Gericht eine Tat zu beurteilen, die der Täter begangen hat, bevor
er wegen einer andern Tat verurteilt worden ist, so bestimmt es die
Zusatzstrafe in der Weise, dass der Täter nicht schwerer bestraft wird, als
wenn die strafbaren Handlungen gleichzeitig beurteilt worden wären (Art. 49
Abs. 2 StGB).

Die Rechtsprechung stellt für die Frage, ob überhaupt und in welchem Umfang das
Gericht eine Zusatzstrafe aussprechen muss, auf das Datum der ersten
Verurteilung im ersten Verfahren ab. Demgegenüber ist für die Bemessung der
Zusatzstrafe das rechtskräftige Urteil im ersten Verfahren massgebend. Das
Gericht muss sich somit fragen, ob die neue Tat vor der ersten Verurteilung im
ersten Verfahren begangen wurde. Bejaht es dies, hat es eine Zusatzstrafe
auszusprechen, für deren Bemessung es in einem zweiten Schritt prüfen muss, ob
der Schuldspruch und das Strafmass des ersten Urteils rechtskräftig sind.
Verneint es die erste Frage, ist das neue Delikt mit einer selbstständigen
Strafe zu ahnden. Hinsichtlich der Anwendbarkeit des Asperationsprinzips ist
unerheblich, ob später das erste Urteil oder dasjenige der Rechtsmittelinstanz
in Rechtskraft erwächst oder ob nach einer Kassation des erst- oder
zweitinstanzlichen Urteils gar neu entschieden werden muss. Das Gericht muss
sich bloss fragen, ob die im zweiten Verfahren zu beurteilenden Straftaten vor
dem Ersturteil begangen wurden. Auf das Datum des Ersturteils ist auch
abzustellen, wenn dieses später im Rechtsmittelverfahren reformiert oder
kassiert wird. Im Falle der Neubeurteilung in der gleichen Sache durch das
erste Gericht oder die Rechtsmittelinstanz ist für die Anwendbarkeit des
Asperationsprinzips nach wie vor das Datum des Ersturteils entscheidend (BGE
138 IV 113 E. 3.4.2 f.; 129 IV 113 E. 1.2 ff.; 124 II 39 E. 3a; Urteil 6B_30/
2015 vom 3. Juni 2015 E. 1.2; je mit Hinweisen). Trotz Kritik an dieser
Rechtsprechung von Seiten eines Teils der Lehre (vgl. JÜRG-BEAT ACKERMANN,
Basler Kommentar, Strafrecht I, 4. Aufl. 2019, N. 135 ff. zu Art. 49 StGB) hat
das Bundesgericht daran auch nach Inkrafttreten des geänderten Sanktionenrechts
per 1. Januar 2018 festgehalten (vgl. BGE 145 IV 1 E. 1.2 S. 5 ff.; Urteil
6B_516/2019 vom 21. August 2019 E. 2.3.1, zur publ. vorgesehen).

1.2. Es ist unbestritten, dass das erste Urteil im ersten Verfahren am 14.
Januar 2016 erging und dass die Straftaten, hinsichtlich welchen der
Beschwerdeführer eine Asperation und Gesamtstrafenbildung nach Art. 49 Abs. 2
StGB verlangt, zwischen dem 1. Mai und dem 5. Oktober 2016 - mithin nach dem
ersten Urteil im ersten Verfahren - begangen wurden. Die Vorinstanz erwägt zu
Recht, dass unter diesen Umständen praxisgemäss keine Konstellation vorliegt,
die eine Gesamtstrafenbildung resp. eine Zusatzstrafe für die am 16. August
2017 erstinstanzlich beurteilten Taten gestatten würde, zumal eine
gleichzeitige Beurteilung durch das Erstgericht nicht möglich gewesen wäre.
Darauf kann verwiesen werden. Das Bundesgericht hat es in konstanter
Rechtsprechung abgelehnt, für die Frage der retrospektiven Konkurrenz auf einen
anderen Zeitpunkt als denjenigen des ersten Urteils im ersten Verfahren
abzustellen. Der Beschwerdeführer bringt nichts vor, was Anlass böte, davon
abzuweichen. Namentlich kann er aus der im Zuge der Revision des
Sanktionenrechts geänderten Rechtsprechung zu Art. 46 Abs. 1 Satz 2 StGB
betreffend die Gesamtstrafenbildung bei Nichtbewährung nichts für sich ableiten
(vgl. BGE 145 IV 146 E. 2.1 ff. insb. E. 2.3.5 mit Hinweisen auf die an 1.
Januar 2018 in Kraft getretenen Änderungen des Sanktionenrechts). Im
vorgenannten Entscheid brachte das Bundesgericht vielmehr explizit zum
Ausdruck, dass es die Gesamtstrafenbildung bei einem Widerruf als verfehlt
betrachtet und, dass es seine Praxis nur angesichts des klaren Wortlauts von
Art. 46 Abs. 1 Satz 2 StGB und des eindeutig formulierten gesetzgeberischen
Willens änderte. Dabei hielt das Bundesgericht an seiner wiederholt, namentlich
auch im vom Beschwerdeführer angerufenen BGE 124 II 39 E. 3a geäusserten
Auffassung fest, wonach nicht in den Genuss einer Gesamtstrafe kommen soll, wer
erstinstanzlich verurteilt und somit eindringlich gewarnt worden ist (vgl. auch
oben E. 1.1). Vor diesem Hintergrund ist es nicht angezeigt, die zum
revidierten Art. 46 Abs. 1 Satz 2 StGB entwickelte Rechtsprechung extensiv,
mithin analog auf Art. 49 Abs. 2 StGB anzuwenden. Weder dessen Wortlaut noch
seine historische Auslegung drängen eine von der bisherigen Interpretation
abweichende Auslegung hinsichtlich des für die Gesamtstrafenbildung
massgebenden Zeitpunkts auf (vgl. oben E. 1.1). Daran ändert auch der - an sich
zutreffende - Einwand des Beschwerdeführers nichts, dass die Berufung ein
reformatorisches Rechtsmittel darstellt, und das Berufungsgericht ein den
erstinstanzlichen Entscheid ersetzendes Urteil fällt. Nachdem zudem
unbestrittenermassen kein Anwendungsfall von Art. 46 Abs. 1 Satz 2 StGB
vorliegt, da der Beschwerdeführer im ersten Verfahren zu 6 Jahren
Freiheitsstrafe unbedingt verurteilt wurde, braucht auf seine diesbezüglichen,
rein theoretischen Ausführungen, wie zu verfahren gewesen wäre, wenn er im
ersten Urteil lediglich zu einer bedingten Strafe verurteilt worden wäre, nicht
eingegangen zu werden. Entgegen seiner Auffassung liegt schliesslich kein Fall
behördlicher Missachtung des Grundsatzes der retrospektiven Konkurrenz im Sinne
von Art. 34 StPO vor, da nicht mehrere Behörden über dem Beschwerdeführer
gleichzeitig vorgeworfene Delikte urteilten, sodass das prozessual mit der
schwersten Tat befasste Gericht eine Gesamtstrafe hätte bilden müssen (vgl.
MOSER/SCHLAPBACH, Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2.
Aufl. 2014, N. 2 und 15 zu Art. 34 StPO). Im Übrigen ist nicht einzusehen und
begründet der Beschwerdeführer nicht, weshalb er nicht bereits im ordentlichen
Rechtsmittelverfahren bezüglich der zweiten Verurteilung eine
Gesamtstrafenbildung verlangt hat. Es kann nicht angehen, dieses Versäumnis nun
unter Hinweis auf Art. 46 StGB und 34 Abs. 3 StPO quasi revisionsweise
nachzuholen.

2. 

Die Beschwerde ist abzuweisen. Ausgangsgemäss hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen, da sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
aussichtslos erscheint. Seinen finanziellen Verhältnissen ist bei der
Kostenfestsetzung Rechnung zu tragen (Art. 64 Abs. 1 und 2, 65 Abs. 2, 66 Abs.
1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 

Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird abgewiesen.

3. 

Der Beschwerdeführer trägt die Gerichtskosten von Fr. 1'200.--.

4. 

Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 1.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 6. Dezember 2019

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: Matt