Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.808/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

6B_808/2019

Urteil vom 19. August 2019

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Denys, Präsident,

Bundesrichter Oberholzer,

Bundesrichterin Jametti,

Gerichtsschreiber Held.

Verfahrensbeteiligte

X.________,

Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,

Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Revision eines Strafbefehls (Diebstahl),

Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts

des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer,

vom 29. Mai 2019 (SST.2019.124).

Sachverhalt:

A. 

Die A.________ AG verdächtigte X.________, am 5. Mai 2018 Fr. 541.70 der
Tageseinnahmen entwendet und für eigene Zwecke gebraucht zu haben und
erstattete am 12. Juni 2018 Strafanzeige wegen Diebstahls. Die
Staatsanwaltschaft sprach am 4. September 2018 mittels Strafbefehl eine
bedingte Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu Fr. 30.- gegen X.________ aus. Der
Strafbefehl erwuchs wegen verspäteter Einsprache in Rechtskraft.

Am 26. Oktober 2018 teilte die A.________ AG den Strafverfolgungsbehörden mit,
sie ziehe ihre Strafanzeige zurück, da eine Prüfung durch die Buchhaltung
ergeben habe, dass der Strafanzeige ein Berechnungsfehler zugrunde lag und kein
Geld entwendet wurde.

Mit Beschluss vom 29. Mai 2019 trat das Obergericht des Kantons Aargau auf ein
von der Staatsanwaltschaft zugunsten von X.________ gestelltes (zweites)
Revisionsgesuch nicht ein.

B. 

X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der Strafbefehl vom 4.
September 2018 sei in Gutheissung des Revisionsgesuchs der Staatsanwaltschaft
aufzuheben und er sei vom Vorwurf des Diebstahls freizusprechen bzw. das
Strafverfahren sei einzustellen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Das Obergericht beantragt in seiner Stellungnahme, die Beschwerde sei
kostenfällig abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Die
Oberstaatsanwaltschaft verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

1.1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO.
Die Vorinstanz sei trotz Vorliegens eines Revisionsgrundes nicht auf das
Revisionsgesuch der Staatsanwaltschaft eingetreten. Das Schreiben der
A.________ AG, mit der diese ihre Strafanzeige zurückgezogen habe, belege, dass
kein Geld entwendet worden sei und er keinen Diebstahl begangen habe. Er habe
zwar im gesamten Verfahren den ihm zur Last gelegten Diebstahl bestritten, vom
Berechnungsfehler und dem darauf basierenden Irrtum der A.________ AG habe er
jedoch keine Kenntnis gehabt. Der Rechenfehler sei erst nach Erlass des
Strafbefehls aufgedeckt worden, weshalb er diesen auch nicht vor Ablauf der
Einsprachefrist hätte geltend machen können.

1.2. Die Vorinstanz erwägt zusammengefasst, das Strafbefehlsverfahren verlange,
dass die beschuldigte Person zum Strafbefehl Stellung nehme, indem sie diesen
entweder in Rechtskraft erwachsen lasse, wenn sie mit ihm einverstanden sei,
oder Einsprache erhebe, wenn sie eine Verurteilung nicht anerkenne. Gemäss
bundesgerichtlicher Rechtsprechung sei ein Revisionsgesuch als
rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren, wenn darin Tatsachen geltend gemacht
würden, die der verurteilten Person von Anfang an bekannt waren und die sie im
ordentlichen Verfahren hätte geltend machen können. Das Revisionsverfahren sei
kein Ersatz für das ordentliche Rechtsmittelverfahren, auf das der
Beschwerdeführer verzichtet habe. Im Falle fristgerechter Einsprache hätte das
erstinstanzliche Gericht nach Abnahme und Würdigung der Beweise beurteilen
können, ob hinsichtlich des dem Beschwerdeführer gemachten Vorwurfs ein
rechtsgenügend erstellter Sachverhalt vorgelegen habe. Dass die A.________ AG
ihre Strafanzeige später zurückgezogen habe, sei unerheblich, da dies nicht
kausal für das Bestreiten der gegen ihn erhobenen Vorwürfe gewesen sei. Der
Beschwerdeführer habe nach seinem eigenen Vorbringen ja gewusst, keinen
Diebstahl begangen zu haben. Vielmehr habe er es sich selber zuzuschreiben,
dass er nicht innert Frist Einsprache erhoben habe, und könne im Wege der
Revision nicht nachholen, was er im ordentlichen Rechtsmittelverfahren verpasst
habe. Ein derartiges Verhalten verdiene keinen Rechtsschutz, sondern sei als
rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren. Dies gelte auch dann, wenn die
Staatsanwaltschaft zu seinen Gunsten ein Revisionsgesuch gestellt habe.

2.

Gemäss Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO kann, wer durch ein rechtskräftiges
Urteil,einen Strafbefehl, einen nachträglichen richterlichen Entscheid oder
einen Entscheid im selbstständigen Massnahmeverfahren beschwert ist, die
Revision verlangen, wenn neue, vor dem Entscheid eingetretene Tatsachen oder
neue Beweismittel vorliegen, die geeignet sind, einen Freispruch, eine
wesentlich mildere oder wesentlich strengere Bestrafung der verurteilten Person
oder eine Verurteilung der freigesprochenen Person herbeizuführen.

Die Revision ist zuzulassen, wenn die Abänderung des früheren Urteils
wahrscheinlich erscheint. Sie dient hingegen nicht dazu, rechtskräftige
Entscheide jederzeit infrage zu stellen oder frühere prozessuale Versäumnisse
zu beheben. Ein Gesuch um Revision eines Strafbefehls muss als missbräuchlich
qualifiziert werden, wenn es sich auf Tatsachen stützt, die der verurteilten
Person von Anfang an bekannt waren, die sie ohne schützenswerten Grund
verschwieg und die sie in einem ordentlichen Verfahren hätte geltend machen
können, welches auf Einsprache hin eingeleitet worden wäre. Demgegenüber kann
die Revision eines Strafbefehls in Betracht kommen wegen wichtiger Tatsachen
oder Beweismittel, die die verurteilte Person im Zeitpunkt, als der Strafbefehl
erging, nicht kannte oder die schon damals geltend zu machen für sie unmöglich
waren oder keine Veranlassung bestand. Rechtsmissbrauch ist nur mit
Zurückhaltung anzunehmen. Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob unter den
gegebenen Umständen das Revisionsgesuch dazu dient, den ordentlichen Rechtsweg
zu umgehen (zum Ganzen: 6B_517/2018 vom 24. April 2019 E. 1.1, zur Publ.
bestimmt; mit Nachweisen).

3.

3.1. Die Vorinstanz tritt auf das Revisionsgesuch der Staatsanwaltschaft wegen
offensichtlicher Unzulässigkeit mit der Begründung nicht ein, das
Prozessverhalten des Beschwerdeführers sei rechtsmissbräuchlich und verdiene
keinen Rechtsschutz. Unklar ist, welches Verhalten des Beschwerdeführers im
Revisionsverfahren die Vorinstanz als rechtsmissbräuchlich qualifiziert, da
dieser sich gemäss ihrer eigenen Erwägungen "am Revisionsbegehren, das von der
Staatsanwaltschaft zu seinen Gunsten erhoben worden ist, nicht aktiv beteiligt"
hat. Ob und inwieweit das Revisionsgesuch der Staatsanwaltschaft aufgrund der
verspäteten Einsprache des Beschwerdeführers rechtsmissbräuchlich und damit
offensichtlich unzulässig im Sinne von Art. 412 Abs. 2 StPO sein kann,
erscheint fraglich, zumal Rechtsmissbrauch nur mit Zurückhaltung anzunehmen ist
(vorstehend E. 2). Wie es sich damit im Einzelnen verhält, kann vorliegend
offenbleiben, denn das Revisionsgesuch erweist sich selbst dann nicht als
rechtsmissbräuchlich, wenn das beanstandete Prozessverhalten des
Beschwerdeführers der Staatsanwaltschaft zuzurechnen ist.

3.2.

3.2.1. Die Vorinstanz weist zutreffend darauf hin, dass gemäss gefestigter
bundesgerichtlicher Rechtsprechung ein Revisionsgesuch (der verurteilten
Person) grundsätzlich als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren ist, wenn es
sich auf Tatsachen stützt, die der verurteilten Person von Anfang an bekannt
waren und die sie in einem ordentlichen Verfahren hätte geltend machen können.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend jedoch nach den verbindlichen
vorinstanzlichen Feststellungen nicht erfüllt, denn weder die
Staatsanwaltschaft noch der Beschwerdeführer wussten im Zeitpunkt des Erlasses
des Strafbefehls, dass der von der A.________ AG zur Anzeige gebrachte
Lebenssachverhalt auf einem Rechenfehler beruhte. Dieser wurde auch erst nach
mehrfacher Prüfung durch die Buchhaltung der Anzeigeerstatterin aufgedeckt und
mitgeteilt, als der Strafbefehl bereits (unangefochten) in Rechtskraft
erwachsen war. Mangels Kenntnis hätte der Beschwerdeführer diese Umstände - wie
auch die gesuchstellende Staatsanwaltschaft - nicht im Rahmen eines auf
fristgerechte Einsprache hin durchgeführten erstinstanzlichen Verfahrens
geltend machen können. Insofern ist auch im Lichte der von der Vorinstanz
zitierten bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht ersichtlich, inwieweit die
Geltendmachung dieser Tatsachen und Beweismittel, insbesondere durch die
Staatsanwaltschaft, rechtsmissbräuchlich sein soll.

Soweit die Vorinstanz ausführt, dass das erstinstanzliche Gericht auf
Einsprache des Beschwerdeführers allfällige Beweise hätte abnehmen und mit
freier Kognition darüber hätte entscheiden können, ob der Anklagevorwurf
erstellt gewesen wäre, ändert dies nichts daran, dass die Staatsanwaltschaft
und der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft des
Strafbefehls von den im Revisionsverfahren geltend gemachten neuen Tatsachen
und Beweisen keine Kenntnis hatten. Auch wenn das Strafbefehlsverfahren ein
besonderes (vereinfachtes) Verfahren ist (vgl. Art. 352 ff. StPO), entbindet
dies die Staatsanwaltschaft nicht von ihrer Aufgabe, in der Untersuchung den
Sachverhalt tatsächlich und rechtlich so weit abzuklären, dass sie das
Vorverfahren abschliessen kann (Art. 308 Abs. 1 StPO). Ein Strafbefehl kann nur
erlassen werden, wenn der Sachverhalt eingestanden oder anderweitig ausreichend
geklärt ist (Art. 352 Abs. 1 StPO), zumal er - soweit die Staatsanwaltschaft
nach Einsprache an ihm festhält - als Anklageschrift dient (Art. 356 Abs. 1
StPO). Der Untersuchungsgrundsatz (Art. 6 StPO) gelangt im gesamten
Strafverfahren und nicht erst ab dem erstinstanzlichen Gerichtsverfahren zur
Anwendung.

3.2.2. Die Vorinstanz scheint davon auszugehen, dass ein Revisionsgesuch gegen
einen Strafbefehl nur dann nicht rechtsmissbräuchlich ist, wenn die verurteilte
Person hiergegen zuvor form- und fristgerecht Einsprache erhoben hat. Dies
widerspricht der von ihr zitierten bundesgerichtlichen Rechtsprechung und dem
eindeutigen Wortlaut von Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO. Würde man der Ansicht der
Vorinstanz folgen, wäre eine Revision gegen einen Strafbefehl (faktisch)
ausgeschlossen, da dieser bei fristgerechter und formgültiger Einsprache nicht
in Rechtskraft erwachsen würde, was aber unabdingbare Voraussetzung für eine
Revision ist. Ob der Strafbefehl (oder das Urteil, der nachträgliche
richterliche oder der im selbstständigen Massnahmeverfahren ergangene
Entscheid) in Rechtskraft erwächst, weil die beschwerte Person die
Rechtsmittelfrist unbenützt ablaufen lässt, auf ein Rechtsmittel verzichtet
oder dieses zurückzieht oder die Rechtsmittelinstanz auf das Rechtsmittel nicht
eintritt oder es abweist, spielt im Hinblick auf die Rechtskraft und die
Möglichkeit einer Revision des Entscheids keine Rolle (vgl. Art. 410 Abs. 1
i.V.m. Art. 437 Abs. 1 StPO).

Entgegen der Vorinstanz eröffnet die Revision gegen einen Strafbefehl ohne
gültige Einsprache der beschuldigten Person (oder wie vorliegend der
Staatsanwaltschaft) auch nicht die Möglichkeit, das Revisionsgesuch nach
Belieben wegen Tatsachen zu verlangen, die die gesuchstellende Partei bereits
im ordentlichen Verfahren hätte vorbringen können. Derartige Vorbringen stellen
- wie bei Urteilen oder anderen verfahrensabschliessenden Entscheiden auch -
gerade keinen Revisionsgrund dar (vgl. Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO; Urteil
6B_517/2018 vom 24. April 2019 E. 1.1). Soweit die Vorinstanz ausführt, der
Beschwerdeführer könne sich nicht auf den Berechnungsfehler und den Rückzug der
Strafanzeige durch die A.________ AG berufen, da diese Umstände nicht kausal
dafür gewesen seien, dass er den Diebstahlsvorwurf bestritten hat, lässt sich
damit das Revisionsgesuch nicht abweisen, sondern stellt den zulässigen
Revisionsgrund dar. Nur wenn der Beschwerdeführer von diesen Umständen im
Vorverfahren bereits Kenntnis gehabt und seine Täterschaft damit verneint
hätte, hätte er sein Revisionsgesuch damit nicht mehr begründen können. Dass er
den Diebstahl bestritten und nach seiner "Sichtweise" gewusst hat, diesen nicht
begangen zu haben, liegt bei einer zu Unrecht verurteilten Person in der Natur
der Sache und konnte im Übrigen den Erlass des Strafbefehls nicht verhindern.
Auch begründet die Staatsanwaltschaft das Revisionsgesuch gerade nicht mit der
Kenntnis des Beschwerdeführers von dessen Unschuld, sondern mit dem ihr (und
ihm) seinerzeit nicht bekannten Rechenfehler, der zum Rückzug der Strafanzeige
geführt hat. Insofern ist nicht ersichtlich, inwiefern das Prozessverhalten der
Staatsanwaltschaft und des Beschwerdeführers dazu dienen soll, den ordentlichen
Rechtsweg zu umgehen.

4. 

Die Beschwerde erweist sich als begründet. Bei diesem Verfahrensausgang sind
keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der vor Bundesgericht nicht
anwaltlich vertretene Beschwerdeführer macht keine Aufwendungen geltend und ist
demnach für das bundesgerichtliche Verfahren nicht zu entschädigen (Art. 68
Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau vom 29. Mai 2019 aufgehoben und die Sache zu neuer Beurteilung an die
Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 

Es werden keine Kosten erhoben.

3. 

Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 19. August 2019

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: Held