Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.677/2019
Zurück zum Index Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2019
Retour à l'indice Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2019


TypeError: undefined is not a function (evaluating '_paq.toString().includes
("trackSiteSearch")') https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/
index.php?highlight_docid=aza%3A%2F%2Faza://12-12-2019-6B_677-2019&lang=de&zoom
=&type=show_document:1832 in global code 
 

Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

6B_677/2019

Urteil vom 12. Dezember 2019

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Denys, Präsident,

Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,

Bundesrichter Oberholzer,

Bundesrichter Rüedi,

Bundesrichterin Jametti,

Gerichtsschreiber Matt.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Roger Vago,

Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8090 Zürich,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Widerruf einer bedingten Freiheitsstrafe,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, vom 15. März 2019 (SB180337-O/U/mc).

Sachverhalt:

A.

Am 3. Mai 2018 sprach das Bezirksgericht Zürich A.________ der einfachen
Körperverletzung und der mehrfachen Tätlichkeiten zum Nachteil seiner
Lebenspartnerin schuldig. Es verurteilte ihn unter Widerruf des bedingten
Vollzugs einer teilweise verbüssten 24-monatigen Freiheitsstrafe vom 26.
Oktober 2010 zu 30 Monaten Gesamtfreiheitsstrafe sowie zu Fr. 700.-- Busse. Den
Vollzug der Freiheitsstrafe schob es zugunsten einer ambulanten Massnahme im
Sinne von Art. 63 StGB (Suchtbehandlung) auf.

Das von A.________ angerufene Obergericht des Kantons Zürich verurteilte ihn am
15. März 2019 wegen einfacher Körperverletzung und mehrfachen Tätlichkeiten zu
einer bedingten Freiheitsstrafe von 10 Monate n sowie zu Fr. 700.-- Busse und
erteilte ihm die Weisung, die bisherige ambulante (psychotherapeutische)
Behandlung während der Probezeit solange wie nötig fortzuführen. Hingegen
widerrief das Obergericht den bedingten Vollzug der mit Urteil vom 26. Oktober
2010 ausgefällten Freiheitsstrafe von 24 Monaten, wovon 575 Tage erstanden
waren.

B.

Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________, die vorinstanzlich
verhängte Freiheitsstrafe von 10 Monaten sei zu vollziehen; vom Widerruf der
Reststrafe gemäss Urteil vom 26. Oktober 2010 sei hingegen zugunsten einer
Verwarnung sowie der Weisung, die bisherige ambulante Behandlung solange wie
nötig fortzusetzen, abzusehen. Eventualiter sei A.________ entsprechend dem
bezirksgerichtlichen Urteil zu bestrafen.

Erwägungen:

1.

Der Beschwerdeführer beanstandet den Widerruf der Vorstrafe.

1.1.

1.1.1. Begeht der Verurteilte während der Probezeit ein Verbrechen oder
Vergehen und ist deshalb zu erwarten, dass er weitere Straftaten verüben wird,
so widerruft das Gericht die bedingte Strafe oder den bedingten Teil der
Strafe. Sind die widerrufene und die neue Strafe gleicher Art, so bildet es in
sinngemässer Anwendung von Art. 49 StGB eine Gesamtstrafe (Art. 46 Abs. 1 StGB;
in der ab 1. Januar 2018 gültigen Fassung). Ist nicht zu erwarten, dass der
Verurteilte weitere Straftaten begehen wird, so verzichtet das Gericht auf
einen Widerruf. Es kann den Verurteilten verwarnen oder die Probezeit um
höchstens die Hälfte der im Urteil festgesetzten Dauer verlängern (Art. 46 Abs.
2 Sätze 1 und 2 StGB).

Eine bedingte Strafe oder der bedingte Teil einer Strafe ist nur zu widerrufen,
wenn von einer negativen Einschätzung der Bewährungsaussichten auszugehen ist,
d.h. aufgrund der erneuten Straffälligkeit eine eigentliche Schlechtprognose
besteht (BGE 134 IV 140 E. 4.3 ff.). Die Prüfung der Bewährungsaussichten des
Täters ist anhand einer Gesamtwürdigung aller wesentlichen Umstände
vorzunehmen. In die Beurteilung der Bewährungsaussichten [...] ist auch
miteinzubeziehen, ob die neue Strafe bedingt oder unbedingt ausgesprochen wird.
Der Richter kann zum Schluss kommen, dass vom Widerruf des bedingten Vollzugs
für die frühere Strafe abgesehen werden kann, wenn die neue Strafe vollzogen
wird. Auch das Umgekehrte ist zulässig: Wenn die frühere Strafe widerrufen
wird, kann unter Berücksichtigung ihres nachträglichen Vollzugs eine
Schlechtprognose für die neue Strafe im Sinne von Art. 42 Abs. 1 StGB verneint
und diese folglich bedingt ausgesprochen werden (BGE 134 IV 140 E. 4.5; Urteile
6B_1070/2018 vom 14. August 2019 E. 5.5; 6B_529/2010 vom 9. November 2010 E.
3.2; je mit Hinweisen; SCHNEIDER/GARRÉ, Basler Kommentar, Strafrecht I, 4.
Aufl. 2019 N. 38 ff. zu Art. 46 StGB).

Die Regelung der Nichtbewährung gemäss Art. 46 Abs. 1 StGB hat im Rahmen der
jüngsten Revision des Sanktionenrechts gegenüber der Fassung, wie sie bis zum
31. Dezember 2017 in Kraft stand, eine Änderung erfahren (AS 2006 3472;
Änderung des StGB [Änderungen des Sanktionenrechts] vom 19. Juni 2015; AS 2016
1249). In BGE 145 IV 146 E. 2.1 ff. insb. E. 2.3.5 hat das Bundesgericht auch
seine diesbezügliche Rechtsprechung geändert. Demnach ergibt sich aus dem
Wortlaut, der Entstehungsgeschichte sowie der systematischen Stellung von Art.
46 Abs. 1 Satz 2 StGB, dass das Gericht - die Gleichartigkeit der einzelnen
Strafen und den Widerruf der Vorstrafe vorausgesetzt - mit den früheren Taten
und den während der Probezeit begangenen Taten eine Gesamtstrafe bilden muss.
Demgegenüber war die Gesamtstrafenbildung unter altem Recht praxisgemäss nur
möglich, wenn eine früher bedingt ausgesprochene Freiheitsstrafe in eine
Geldstrafe umgewandelt und anschliessend eine Gesamtgeldstrafe gebildet wurde
(BGE 145 IV 146 E. 2.1).

1.1.2. Dem Sachgericht steht bei der Beurteilung der Legalprognose ein
Ermessensspielraum zu. Das Bundesgericht greift darin nur ein, wenn das
Sachgericht sein Ermessen über- bzw. unterschreitet oder missbraucht und damit
Bundesrecht verletzt (BGE 145 IV 137 E. 2.2; 134 IV 140 E. 4.2).

1.2. Die Vorinstanz begründet ausführlich und überzeugend, weshalb sie für die
hier beurteilten Straftaten einzig eine Freiheitsstrafe als angemessen erachtet
und zum Schluss gelangt, dass dem Beschwerdeführer hierfür nur unter
gleichzeitigem Widerruf der Reststrafe gemäss Urteil des Bezirksgerichts Zürich
vom 26. Oktober 2010 und der damit einhergehenden Warnwirkung gerade noch eine
günstige Prognose gestellt werden kann. Darauf ist grundsätzlich zu verweisen.

Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers liegt in diesem Vorgehen kein
Widerspruch (vgl. oben E. 1.1.1). Es ist auch nicht ersichtlich, dass die
Vorinstanz das ihr bei der Strafzumessung und Legalprognose zustehende Ermessen
missbraucht oder wesentliche Kriterien ausser Acht gelassen hätte. Der
Beschwerdeführer behauptet dies denn auch nicht. Namentlich ist solches weder
darin zu erblicken, dass die Vorinstanz anders entscheidet als das Erstgericht,
noch darin, dass es nach Auffassung des Beschwerdeführers naheliegender wäre,
eine - den Widerruf ausschliessende - Warnwirkung bereits aufgrund der
augenscheinlich im vorliegenden Verfahren erstandenen mehrmonatigen
Untersuchungshaft zu bejahen. Es spricht auch nicht gegen einen Widerruf der
Reststrafe bei gleichzeitig knapp positiver Prognose hinsichtlich der hier
beurteilten, beziehungsassoziierten Taten, dass zwischen diesen und der
Vorstrafe wegen Betäubungsmitteldelikten kein unmittelbarer Zusammenhang
bestehen mag. Angesichts der unbestrittenen vorinstanzlichen Feststellung,
wonach sich der Paarkonflikt in der Zwischenzeit entschärft zu haben scheine,
ist die insoweit positive Prognose im Gegenteil nachvollziehbar. Ferner ist mit
Bezug auf den Widerruf der Vorstrafe irrelevant, weshalb die hier beurteilten,
neuen Straftaten überhaupt Eingang in die Anklage fanden, und ob der
Beschwerdeführer diese bestritt. Ebenso ist unerfindlich, was er aus dem
Umstand für sich ableiten will, dass er die hier beurteilten Straftaten "noch
knapp während der Probezeit" des Urteils vom 26. Oktober 2010 begangen habe. Er
behauptet jedenfalls nicht, die Probezeit sei bereits abgelaufen gewesen.

Der Widerruf der Vorstrafe ist nach dem Gesagten nicht zu beanstanden. Die
Vorinstanz verkennt ferner nicht, dass bei diesem Ergebnis nach neuem Recht
eine Gesamtstrafe mit den während der Probezeit begangenen Straftaten gebildet
werden müsste, zumal gleichartige Strafen vorliegen (oben E. 1.1.1). Da
diesfalls aber angesichts der ungünstigen Prognose im Zusammenhang mit dem
Widerruf der Vorstrafe eine unbedingte Gesamtstrafe ausgesprochen werden müsste
(vgl. SCHNEIDER/GARRÉ, Basler Kommentar, a.a.O., N. 37 zu Art. 46 StGB), - was
das erstinstanzliche Gericht im Übrigen auch getan hat - bezeichnet die
Vorinstanz das bisherige Recht trotz der nach neuem Recht möglichen Asperation
zutreffend als das für den Beschwerdeführer mildere und wendet jenes an (vgl.
Art. 2 Abs. 2 StGB; Urteil 6B_1053/2018 vom 26. Februar 2019 E. 3.4 mit
Hinweis).

2.

Der Beschwerdeführer rügt in seinem Eventualstandpunkt eine Verletzung des
Verbots der "reformatio in peius".

2.1.

2.1.1. Gemäss Art. 391 Abs. 2 Satz 1 StPO darf die Rechtsmittelinstanz
Entscheide nicht zum Nachteil der beschuldigten oder verurteilten Person
abändern, wenn das Rechtsmittel nur zu deren Gunsten ergriffen worden ist. Der
Sinn dieses Verschlechterungsverbots (Verbot der "reformatio in peius") besteht
darin, dass die beschuldigte Person nicht durch die Befürchtung, strenger
angefasst zu werden, von der Ausübung eines Rechtsmittels abgehalten werden
soll (BGE 144 IV 198 E. 5.3; 143 IV 469 E. 4.1; je mit Hinweisen). Das
Verschlechterungsverbot untersagt sowohl eine Verschärfung der Sanktion als
auch der rechtlichen Qualifikation der Tat. Massgebend ist das Dispositiv (vgl.
BGE 142 IV 129 E. 4.5; 141 IV 132 E. 2.7.3; Urteil 6B_606/2018 vom 12. Juli
2019 E. 1.2.1; je mit Hinweisen).

2.1.2. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung zum Verhältnis der am 1. Januar
2007 in Kraft getretenen Sanktionenordnung und der bis dato gültig gewesenen
Regelung, welche auch zur Beantwortung der Frage nach einer Schlechterstellung
herangezogen werden kann (BGE 134 IV 82 E. 7.1 mit Hinweisen; ZIEGLER/KELLER,
Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 3a zu
Art. 391 StPO), sind die Sanktionen aufgrund der gesetzlichen Systematik in
Strafart, Strafvollzugsmodalität und Strafmass zu unterscheiden. In der
Abstufung der Strafarten (Geldstrafe, gemeinnützige Arbeit, Freiheitsstrafe)
wie auch der Strafvollzugsmodalitäten (bedingte, teilbedingte, unbedingte
Strafe) kommt eine Rangfolge zum Ausdruck. Darin liegt eine Bewertung des
Gesetzgebers, welche beim Vergleich der Sanktionsschwere als verbindlicher
Massstab zu betrachten ist. Auszugehen ist demnach von einer eigentlichen
Kaskadenanknüpfung: (1.) Die Sanktionen (Hauptstrafen) sind nach der Qualität
der Strafart zu vergleichen. (2.) Bei gleicher Strafart entscheidet die
Strafvollzugsmodalität. (3.) Bei gleicher Strafart und Strafvollzugsmodalität
kommt es auf das Strafmass an. (4.) Bei Gleichheit der Hauptstrafe sind
allfällige Nebenstrafen zu berücksichtigen. Erst wenn sich die Entscheidung auf
einer Stufe nicht herbeiführen lässt, weil sich im konkreten Fall keine
Veränderung der Rechtsfolgen ergibt, ist der Vergleich auf der nächsten Stufe
fortzusetzen.

2.2. Es ist unbestritten, dass nur der Beschwerdeführer ein Rechtsmittel
ergriffen hat, nachdem die Staatsanwaltschaft ihre Berufung im Verfahren
zurückzog. Das Verbot der "reformatio in peius" ist daher zu beachten und es
ist zu prüfen, welche der von den kantonalen Instanzen verhängte Sanktion die
schärfere ist. Gemäss der vorstehend dargestellten Rechtsprechung ist hierfür
primär auf die Strafart abzustellen. Nachdem indes beide Vorinstanzen jeweils
Freiheitsstrafen für angemessen erachteten, ist in zweiter Linie die
Vollzugsmodalität massgebend, wobei der bedingte Vollzug am leichtesten, der
unbedingte Vollzug am schwersten wiegt. Hier zeigt sich, dass die erste Instanz
eine unbedingte Gesamfreiheitsstrafe von 30 Monaten verhängte (abzüglich 575
Tage erstandener Haft = 485 Tage), während gemäss angefochtenem Urteil nur der
noch nicht verbüsste Teil einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, nämlich 145
Tage (720 minus 575 Tage), oder knapp fünf Monate, zu vollziehen sind. Wie die
Vorinstanz in diesem Zusammenhang zutreffend erwägt, schliesst der
Vollzugsaspekt zwar die Modalitäten (bedingter Vollzug), Anrechnung von Haft
etc. ein, nicht aber den Aufschub des Vollzugs oder seine virtuelle Umwandlung
(POPP/BERKEMEIER, Basler Kommentar, Strafrecht I, 4. Auflage 2019, N. 20 zu
Art. 2 StGB). Für die Sanktionsschwere muss daher ausser Acht bleiben, dass die
erste Instanz die Strafe zugunsten einer Massnahme aufgeschoben hat. Die
vorinstanzliche Sanktion ist daher unter dem Gesichtspunkt der
Vollzugsmodalitäten die mildere. Hingegen käme das Strafmass im Sinne der
absoluten Straflänge erst und nur dann zum Tragen, wenn sich die Entscheidung
auf der vorangehenden Stufe des Vollzugs nicht herbeiführen liesse. Es ist
daher entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht von Belang, dass die
vorinstanzliche Strafe infolge Nicht-Anwendung des Asperationsprinzips absolut
um vier Monate länger ausfällt als diejenige des Bezirksgerichts. Sie ist
damit, entsprechend der bundesgerichtlichen Kaskadenlösung, woran festzuhalten
ist, - auch im Dispositiv - nicht härter. Ebenso wenig leuchtet ein, inwiefern
der Wegfall einer angeordneten Massnahme zugunsten einer blossen Weisung eine
Schlechterstellung darstellen soll. Vor diesem Hintergrund erübrigt sich auch
eine Anhörung des Beschwerdeführers hierzu.

3.

Der angefochtene Entscheid ist rechtens; die dagegen erhobene Beschwerde ist
abzuweisen. Ausgangsgemäss hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.

Der Beschwerdeführer trägt die Gerichtskosten von Fr. 3'000.--.

3.

Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 12. Dezember 2019

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: Matt