Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.674/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

6B_674/2019

Urteil vom 19. September 2019

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Denys, Präsident,

Bundesrichter Oberholzer,

Bundesrichterin Jametti,

Gerichtsschreiber Faga.

Verfahrensbeteiligte

X.________,

Beschwerdeführer,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, 4051 Basel,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Einsprache gegen Strafbefehl, Zustellfiktion,

Beschwerde gegen den Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons
Basel-Stadt, Einzelgericht, vom 2. Mai 2019 (BES.2019.47).

Sachverhalt:

A. 

Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt sprach X.________ mit
Strafbefehl vom 20. November 2018 des Fahrens ohne Fahrzeugausweis oder
Kontrollschilder, des Fahrens ohne Haftpflichtversicherung sowie des
Missbrauchs von Ausweisen und/oder Kontrollschildern schuldig. Sie auferlegte
ihm eine bedingte Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu Fr. 40.-- bei einer
Probezeit von zwei Jahren sowie eine Busse von Fr. 1'000.-- als Zusatzstrafe zu
einem Urteil aus dem Jahre 2018. Der Strafbefehl wurde mit eingeschriebener
Postsendung versandt, innert Abholfrist bis zum 28. November 2018 aber nicht
abgeholt.

Gegen den Strafbefehl erhob X.________ am 5. Februar 2019 beim Strafgericht
Basel-Stadt Einsprache. Auf diese trat das Strafgericht am 15. Februar 2019
nicht ein. Die dagegen von X.________ erhobene Beschwerde wies das
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 2. Mai 2019 ab.

B. 

X.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt sinngemäss, der
Entscheid des Appellationsgerichts sei aufzuheben und auf seine Einsprache sei
einzutreten. Zudem ersucht X.________ um unentgeltliche Rechtspflege.

C. 

Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt beantragt die Abweisung der
Beschwerde. Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt beantragt ebenfalls
die Abweisung der Beschwerde und verzichtet im Übrigen auf eine Vernehmlassung.
Der Beschwerdeführer verzichtet auf eine Replik.

Erwägungen:

1. 

1.1. Der Beschwerdeführer rügt, er sei wegen eines Missverständnisses zu einer
Busse von Fr. 1'000.-- verurteilt worden. Die eingeschriebene Postsendung der
Staatsanwaltschaft sei elf Monate nach dem Vorfall versandt worden. Da er nicht
am Wohnort anwesend gewesen sei, sei die Sendung zurück an die
Staatsanwaltschaft gegangen. Die Bestimmung, wonach nicht abgeholte
Einschreiben als zugestellt gelten, nehme der beschuldigten Person die
Möglichkeit, gegen den Entscheid Beschwerde zu erheben und eine Aussage vor
Gericht zu tätigen.

1.2. Die Vorinstanz verweist auf Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO. Sie erwägt, der
Beschwerdeführer sei am 18. Dezember 2017 ausreichend über die gegen ihn im
Raum stehenden Vorwürfe informiert worden, weshalb er mit einer Verzeigung habe
rechnen müssen. Nachdem der Zeitraum zwischen Verzeigung und Erlass des
Strafbefehls etwa elf Monate betragen habe, sei die Zustellfiktion nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu bejahen. Zudem habe der Beschwerdeführer
in seiner Einsprache vom 5. Februar 2019 einzig behauptet, den Strafbefehl
nicht erhalten zu haben. Gründe, die ihn an der Abholung gehindert hätten, habe
er nicht geltend gemacht (Entscheid S. 3 f.).

1.3. Im vorinstanzlichen Verfahren brachte der Beschwerdeführer vor, in der
besagten Zeit der Zustellung abwesend gewesen zu sein (vgl. vorinstanzliche
Akten Urk. 4). Davon ist auszugehen, nachdem die Vorinstanz nichts
Gegenteiliges feststellt. Insbesondere stellt sie nicht fest, dass der
Beschwerdeführer an seinem Zustellungsdomizil anwesend war und die Abholfrist
aus Versehen oder willentlich verstreichen liess. Gründe für die
Ortsabwesenheit sind in diesem Zusammenhang nicht relevant. Deshalb kann
dahingestellt bleiben, ob die präzisierende Behauptung des Beschwerdeführers
vor Bundesgericht, wegen Ferien abwesend gewesen zu sein, zulässig ist (vgl.
Art. 99 Abs. 1 BGG).

1.4. Fristen, die durch eine Mitteilung oder den Eintritt eines Ereignisses
ausgelöst werden, beginnen gemäss Art. 90 Abs. 1 StPO am folgenden Tag zu
laufen. Nach Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO gilt eine eingeschriebene Postsendung,
die nicht abgeholt worden ist, am siebten Tag nach dem erfolglosen
Zustellungsversuch als zugestellt, sofern die Person mit einer Zustellung
rechnen musste.

1.4.1. Bei eingeschriebenen Postsendungen gilt eine widerlegbare Vermutung,
dass der Postangestellte den Avis ordnungsgemäss in den Briefkasten oder in das
Postfach des Empfängers gelegt hat und das Zustellungsdatum korrekt registriert
worden ist. Es findet eine Umkehr der Beweislast in dem Sinne statt, als bei
Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten des Empfängers ausfällt, der den
Erhalt der Abholungseinladung bestreitet. Diese Vermutung kann durch den
Gegenbeweis umgestossen werden. Sie gilt so lange, als der Empfänger nicht den
Nachweis einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit von Fehlern bei der Zustellung
erbringt. Verlangt wird, dass konkrete Anzeichen für einen Fehler vorhanden
sind (BGE 142 IV 201 E. 2.3 S. 204 f.; 142 III 599 E. 2.4.1 S. 604; je mit
Hinweisen).

Solche Anzeichen sind hier nicht gegeben. Nach den vorinstanzlichen
Sachverhaltsfeststellungen wurde der Strafbefehl vom 20. November 2018
eingeschrieben an jene Adresse des Beschwerdeführers verschickt, die er auch in
seiner Eingabe an das Bundesgericht bezeichnet hat. Der Beschwerdeführer holte
die Postsendung innert Frist bis zum 28. November 2018 nicht ab, weshalb diese
am 6. Dezember 2018 wieder bei der Staatsanwaltschaft eintraf. Damit geht die
Vorinstanz im Ergebnis davon aus, dass die Abholungseinladung im Sinne der oben
genannten Vermutung ordnungsgemäss im Briefkasten des Beschwerdeführers
deponiert wurde. Dass und weshalb ausnahmsweise nicht vom Erhalt der
Abholungseinladung ausgegangen werden kann und die Feststellung der Vorinstanz
willkürlich sein sollte, legt der Beschwerdeführer nicht dar.

1.4.2. Die Zustellfiktion gilt laut Gesetzestext, soweit der Adressat mit einer
Zustellung rechnen musste (Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO). Die Begründung eines
Prozessrechtsverhältnisses verpflichtet die Parteien, sich nach Treu und
Glauben zu verhalten und unter anderem dafür zu sorgen, dass ihnen behördliche
Akten zugestellt werden können, welche das Verfahren betreffen (BGE 141 II 429
E. 3.1 S. 431 f.; 138 III 225 E. 3.1 S. 227 f.; Urteil 6B_110/2016 vom 27. Juli
2016 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 142 IV 286; je mit Hinweisen). Von einer
verfahrensbeteiligten Person wird namentlich verlangt, dass sie für die
Nachsendung ihrer an die bisherige Adresse gelangenden Korrespondenz besorgt
ist und sie der Behörde gegebenenfalls längere Ortsabwesenheiten mitteilt oder
eine Stellvertretung ernennt (BGE 139 IV 228 E. 1.1 S. 230 mit Hinweisen).

Nach den vorinstanzlichen Feststellungen wurde der Beschwerdeführer "anlässlich
der Fusspatrouille am 18. Dezember 2017 ausreichend über die gegen ihn im Raum
stehenden Vorwürfe informiert" (Entscheid S. 3). Aus einem Rapport der
Kantonspolizei vom 5. Januar 2018 geht hervor, dass dem Beschwerdeführer damals
eine Postsendung wegen einer Verzeigung in Aussicht gestellt wurde
(erstinstanzliche Akten pag. 29). Wenngleich dies noch kein
Untersuchungsverfahren der Staatsanwaltschaft bedeutete, lässt es das
Bundesgericht für ein Prozessrechtsverhältnis genügen, wenn dem Betroffenen von
der Polizei Vorhalte gemacht werden und ihm die Eröffnung eines Vorverfahrens
mitgeteilt wird (Urteil 6B_401/2019 vom 1. Juli 2019 E. 2.5 mit Hinweisen).

1.4.3. Die genannte Obliegenheit dauert nicht unbeschränkt. Das Bundesgericht
hat hinsichtlich der gebotenen Aufmerksamkeitsdauer verschiedentlich einen
Zeitraum bis zu einem Jahr seit der letzten verfahrensrechtlichen Handlung der
Behörde als vertretbar bezeichnet. Liegt der letzte Kontakt mit der Behörde
indessen längere Zeit zurück, kann von einer Zustellfiktion nicht mehr
ausgegangen werden, sondern nur noch von einer Empfangspflicht des am Verfahren
Beteiligten in dem Sinne, dass dieser für die Behörde erreichbar sein muss und
er Adressänderungen und länger dauernde Abwesenheiten der Behörde meldet.
Hingegen kann ihm eine Abwesenheit von wenigen Wochen nicht mehr
entgegengehalten werden. Die Regeln über die Zustellfiktion sind in diesem
Sinne vernünftig zu handhaben (Urteil 2P.120/2005 vom 23. März 2006 E. 4.2).
Eine Zeitspanne bis zu einem Jahr ist aber nicht von vornherein und losgelöst
von den konkreten Umständen gerechtfertigt. Als vertretbar bezeichnete das
Bundesgericht etwa einen Zeitraum von neun Monaten zwischen der polizeilichen
Befragung eines Strafklägers und der Zustellung einer Einstellungsverfügung.
Das Bundesgericht hielt fest, der Strafkläger habe das Verfahren eingeleitet
und sei daran aktiv beteiligt gewesen, weshalb er auch nach neun Monaten noch
mit der Zustellung des Entscheids in der Sache habe rechnen müssen (Urteil
6B_511/2010 vom 13. August 2010 E. 4). Als keinesfalls lange Verfahrensdauer
bezeichnete das Bundesgericht eine Zeitspanne von rund vier Monaten zwischen
Strafanzeige und Zustellung einer Nichtanhandnahmeverfügung an den
Anzeigeerstatter. Dieser habe aufgrund seiner Strafanzeige mit der Zustellung
eines behördlichen Schriftstückes rechnen müssen (Urteil 1B_675/2011 vom 14.
Dezember 2011 E. 3.2). Betreffend ein Strafbefehlsverfahren hielt das
Bundesgericht in einem jüngeren Entscheid fest, es erscheine fraglich, ob eine
Dauer bis zu einem Jahr seit der letzten Verfahrenshandlung noch vertretbar sei
(Urteil 6B_110/2016 vom 27. Juli 2016 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 142 IV 286,
mit Hinweis auf CHRISTIAN DENYS, Ordonnance pénale: Questions choisies et
jurisprudence récente, SJ 2016 II S. 125 ff. und 130). Das Genfer
Kantonsgericht qualifizierte eine Zeitdauer von acht Monaten zwischen
polizeilicher Befragung des Beschuldigten und Zustellung eines Strafbefehls als
zu lange. Art. 85 Abs. 4 StPO gelange aufgrund der langen Untätigkeit der
Staatsanwaltschaft nicht zur Anwendung (Urteil der Cour de Justice Genf vom 30.
November 2017 E. 3.2 f., ACPR/825/2017, mit Verweis auf CHRISTIAN DENYS,
a.a.O.).

Ob der Adressat nach Treu und Glauben mit einer Zustellung rechnen muss und ihm
deshalb aus dem Prozessrechtsverhältnis fliessende Pflichten für eine
ordnungsgemässe Zustellung obliegen, beurteilt sich wie ausgeführt nach den
konkreten Verhältnissen. Diese stellen sich wie folgt dar. Im Anschluss an die
polizeiliche Kontrolle vom 18. Dezember 2017, bei der dem Beschwerdeführer vom
Polizeibeamten eine Postsendung in Aussicht gestellt worden war, folgten keine
weiteren Kontaktaufnahmen. Das Verfahren wurde nicht auf Initiative des
Beschwerdeführers eingeleitet. Ihm wurden keine Termine oder Fristen für
Vorladungen angesetzt oder angekündigt und es wurde keinerlei Korrespondenz
ausgetauscht. Dem Beschwerdeführer war damit auch nicht bekannt, ob das
polizeiliche Ermittlungsverfahren zu einem Untersuchungsverfahren der
Staatsanwaltschaft geführt hatte oder irgendwann führen würde. Das
Prozessrechtsverhältnis zwischen Strafverfolgungsbehörden und Beschwerdeführer
begründete und erschöpfte sich darin, dass der Beschwerdeführer am 18. Dezember
2017 wegen möglichen Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz
polizeilich kontrolliert wurde. Die Frage, ob der Beschwerdeführer am 20.
November 2018 und damit elf Monate nach der letzten und nach seinem
Kenntnisstand einzigen verfahrensrechtlichen Handlung mit einer Zustellung
rechnen musste, ist zu verneinen. Die Regeln über die Zustellfiktion sind wie
ausgeführt vernünftig zu handhaben. Mit Blick auf den in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht nicht komplizierten Gegenstand des Vorverfahrens sowie die
Untätigkeit der Behörde kann nicht erwartet werden, dass der Beschwerdeführer
nahezu ein Jahr in jedem Zeitpunkt seine Erreichbarkeit sicherstellte und auch
kürzere Ortsabwesenheiten der Behörde meldete, um keinen Rechtsnachteil zu
erleiden. Vielmehr war von ihm nach Treu und Glauben und mit Blick auf die
konkreten Umstände eine Aufmerksamkeitsdauer von rund einem halben Jahr zu
verlangen. Daran ändern die zwei Vorstrafen des Beschwerdeführers aus den
Jahren 2010 und 2018 nichts.

Dem Beschwerdeführer kann deshalb die fingierte Zustellung nicht
entgegengehalten werden. Die eingeschriebene Postsendung der Staatsanwaltschaft
Basel-Stadt mit Abholfrist bis zum 28. November 2018 ist rechtlich
unbeachtlich. Die Zustellfiktion gelangt nicht zur Anwendung.

2. 

Die Beschwerde ist gutzuheissen. Der Entscheid des Appellationsgerichts des
Kantons Basel-Stadt vom 2. Mai 2019 ist aufzuheben und die Sache zur neuen
Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens
sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege ist gegenstandslos geworden. Eine
Parteientschädigung an den Beschwerdeführer ist nicht zuzusprechen, da ihm
keine Kosten der Rechtsvertretung erwachsen sind und auch keine besonderen
Verhältnisse, welche ausnahmsweise eine Parteientschädigung rechtfertigen
könnten, geltend gemacht werden (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG; Art. 11 des
Reglements vom 31. März 2006 über die Parteientschädigung und die Entschädigung
für die amtliche Vertretung im Verfahren vor dem Bundesgericht [SR
173.110.210.3]).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Appellationsgerichts des
Kantons Basel-Stadt vom 2. Mai 2019 wird aufgehoben und die Sache zur neuen
Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 

Es werden keine Kosten erhoben.

3. 

Dieses Urteil wird den Parteien und dem Appellationsgericht des Kantons
Basel-Stadt, Einzelgericht, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 19. September 2019

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: Faga