Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.462/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

6B_462/2019

Urteil vom 23. August 2019

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Denys, Präsident,

Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,

Bundesrichter Rüedi,

Gerichtsschreiber Matt.

Verfahrensbeteiligte

Staatsanwaltschaft des Kantons

Appenzell I.Rh.,

Unteres Ziel 20, 9050 Appenzell,

Beschwerdeführerin,

gegen

X.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Michael Hüppi,

Beschwerdegegner.

Gegenstand

Grobe Verletzung von Verkehrsregeln,

Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Appenzell I.Rh., Abteilung
Zivil- und Strafgericht,

vom 29. Januar 2019 (K 2-2018).

Sachverhalt:

A. 

X.________ fuhr am 6. Dezember 2015 von Haslen herkommend in Richtung
Appenzell. Ausgangs des Hellwaldes setzte er zum Überholen des vor ihm
fahrenden roten Renault an. Als ihm in der folgenden Kurve ein grauer Jeep
entgegen kam, bremste er stark ab und kehrte hinter dem Renault auf seine
Fahrspur zurück. Der Jeep wich nach rechts aus und fuhr durch einen Zaun auf
die Wiese.

Mit Strafbefehl vom 30. Mai 2017 verurteilte die Staatsanwaltschaft des Kantons
Appenzell Innerrhoden X.________ wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln
durch Überholen trotz Gegenverkehrs im Sinne von Art. 90 Abs. 2 in Verbindung
mit Art. 35 Abs. 2 SVG zu 15 Tagessätzen zu Fr. 460.-- Geldstrafe bedingt sowie
zu Fr. 1'380.-- Busse. Auf seine Einsprache hin befand das Bezirksgericht
Appenzell Innerrhoden X.________ am 28. August 2018 der einfachen
Verkehrsregelverletzung schuldig und verurteilte ihn zu Fr. 2'000.-- Busse. Die
dagegen erhobene Berufung der Staatsanwaltschaft wies das Kantonsgericht
Appenzell Innerrhoden am 29. Januar 2019 ab.

B. 

Die Staatsanwaltschaft beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, X.________ sei
wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln zu einer bedingten Geldstrafe von 15
Tagessätzen zu Fr. 460.-- sowie zu Fr. 1'380.-- Busse zu verurteilen.

C. 

Das Kantonsgericht beantragt die Abweisung der Beschwerde, verzichtet aber auf
eine Stellungnahme. X.________ beantragt ebenfalls die Abweisung der
Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft repliziert zu dessen Eingabe. X.________
reicht unaufgefordert eine weitere Eingabe ein, womit er geltend macht, die
Stellungnahme der Staatsanwaltschaft sei unbeachtlich.

Erwägungen:

1. 

Die Beschwerdeführerin bestreitet den vorinstanzlich erstellten Sachverhalt
nicht. Sie macht aber geltend, eine grobe Verkehrsregelverletzung sei nicht nur
objektiv sondern auch subjektiv gegeben.

1.1.

1.1.1. Art. 90 Abs. 2 SVG erfüllt, wer durch grobe Verletzung von
Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft
oder in Kauf nimmt. Der objektive Tatbestand verlangt nach der Rechtsprechung,
dass der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise
missachtet und die Verkehrssicherheit ernstlich gefährdet. Eine ernstliche
Gefahr für die Sicherheit anderer ist bereits bei einer erhöhten abstrakten
Gefährdung gegeben. Diese setzt die naheliegende Möglichkeit einer konkreten
Gefährdung oder Verletzung voraus. Eine konkrete Gefahr oder Verletzung ist
nicht verlangt.

Subjektiv erfordert der Tatbestand ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend
verkehrsregelwidriges Verhalten, d.h. ein schweres Verschulden, bei
fahrlässigem Handeln mindestens grobe Fahrlässigkeit. Diese ist zu bejahen,
wenn der Täter sich der allgemeinen Gefährlichkeit seiner Fahrweise bewusst
ist. Grobe Fahrlässigkeit kommt aber auch in Betracht, wenn der Täter die
Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer pflichtwidrig gar nicht in Betracht
zieht. Die Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung setzt in diesem Fall
voraus, dass das Nichtbedenken der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auf
Rücksichtslosigkeit beruht. Rücksichtslos ist unter anderem ein bedenkenloses
Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Dieses kann auch in einem blossen
(momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen bestehen (BGE 131
IV 133 E. 3.2 mit Hinweisen). Je schwerer die Verkehrsregelverletzung objektiv
wiegt, desto eher wird Rücksichtslosigkeit subjektiv zu bejahen sein, sofern
keine besonderen Gegenindizien vorliegen (BGE 142 IV 93 E. 3.1 mit Hinweisen).

Grundsätzlich ist von einer objektiv groben Verletzung der Verkehrsregeln auf
ein zumindest grobfahrlässiges Verhalten zu schliessen. Die Rücksichtslosigkeit
ist ausnahmsweise zu verneinen, wenn besondere Umstände vorliegen, die das
Verhalten subjektiv in einem milderen Licht erscheinen lassen (Urteil 6B_1324/
2017 vom 9. Mai 2018 E. 2.1 mit Hinweisen).

1.1.2. Überholen und Vorbeifahren an Hindernissen ist nur gestattet, wenn der
nötige Raum übersichtlich und frei ist und der Gegenverkehr nicht behindert
wird (Art. 35 Abs. 2 erster Satz SVG in der seit 20. Mai 2015 gültigen
Fassung).

Das Überholen - vorab auf Strassen mit Gegenverkehr - gehört zu den
gefährlichsten Fahrmanövern. Ein solches Manöver darf deshalb nur durchgeführt
werden, wenn es nicht überhaupt verboten ist, der nötige Raum übersichtlich und
frei ist und andere Verkehrsteilnehmer nicht behindert oder gefährdet werden
(BGE 129 IV 155 E. 3.2.1 mit Hinweisen). Der Überholende muss von Anfang an die
Gewissheit haben, sein Manöver sicher und ohne Gefährdung Dritter abschliessen
zu können. Nicht nur die für den Überholvorgang benötigte Strecke muss
übersichtlich und frei sein, sondern zusätzlich jene, die ein entgegenkommendes
Fahrzeug bis zu jenem Zeitpunkt zurücklegt, an dem der Überholende die linke
Strassenseite freigegeben haben wird (BGE 121 IV 235 E. 1b; Urteil 6B_1325/2018
vom 5. März 2019 E. 2.1.2; je mit Hinweisen).

1.2. Die Vorinstanz erwägt nachvollziehbar, ausgehend von seinen eigenen
Aussagen habe der Beschwerdegegner das Überholmanöver begonnen, obwohl die
Strecke für ihn wegen des toten Winkels nicht überblickbar gewesen sei und er
demnach mit Gegenverkehr habe rechnen müssen. Es könne offen bleiben, ob die
für ein gefahrloses Überholmanöver nötige Strecke zur Verfügung gestanden habe,
was das Bezirksgericht verneinte. So oder anders habe der Beschwerdegegner
durch sein Verhalten eine Gefahr geschaffen, die leicht zu einem
schwerwiegenden Unfall hätte führen können. Durch den Beginn des
Überholmanövers trotz eingeschränkter Sicht habe er die in Art. 35 Abs. 2 SVG
statuierte, wichtige Verkehrsregel schwer verletzt und die Sicherheit des
entgegenkommenden Verkehrs ernstlich gefährdet. Indem er vor Beginn des
Überholmanövers das entgegenkommende Fahrzeug wohl übersehen, nach dessen
Bemerken jedoch das Manöver abgebrochen habe, habe der Beschwerdeführer nicht
gedankenlos gehandelt. Von einem jedes Risiko ausblendenden, rücksichtslosen
Verhalten könne nicht gesprochen werden. Aufgrund der konkreten Umstände und
den Aussagen des Beschwerdegegners sei ein schweres Verschulden zu verneinen.
Entsprechend sei Art. 90 Abs. 2 SVG subjektiv nicht erfüllt.

1.3. Nach dem vorstehend Gesagten geht die Vorinstanz von einer objektiv
schweren Verletzung einer wichtigen Verkehrsregel aus. Damit ist der Tatbestand
des Art. 90 Abs. 2 SVG grundsätzlich auch subjektiv erfüllt, zumal besondere
Umstände, die das Verhalten des Beschwerdegegners in einem milderen Licht
erscheinen liessen, nicht ersichtlich sind. Entgegen der Auffassung der
Vorinstanz kann solches nicht darin erblickt werden, dass der Beschwerdegegner
das Manöver nach Erkennen der Gefahr nicht zu Ende führte. Dies entlastet ihn
schon deshalb nicht, weil es gemäss Vorinstanz ansonsten wohl zur Kollision
gekommen wäre. Zum Zeitpunkt des Abbruchs des Manövers war die Gefahr zudem
objektiv bereits geschaffen worden. Massgebend auch für den subjektiven
Tatbestand, mithin die Annahme eines rücksichtslosen Verhaltens, muss daher
ebenfalls der Zeitpunkt des Beginns des Überholmanövers sein. Insoweit
kritisiert aber auch die Vorinstanz, dass der Beschwerdegegner das
Überholmanöver trotz fehlender Sicht begonnen habe, anstatt zunächst nur
auszuscheren und zu prüfen, ob sicher überholt werden kann. Wie die
Beschwerdeführerin zutreffend vorbringt, liegt just darin die grobe
Sorgfaltspflichtverletzung des Beschwerdegegners. Indem er trotz fehlender
Sicht auf den Gegenverkehr zum Überholen des vor ihm fahrenden Fahrzeugs
ansetzte, handelte er krass sorgfaltswidrig und damit rücksichtslos. Der
Tatbestand gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG ist daher auch subjektiv erfüllt.

Soweit der Beschwerdegegner in seiner Vernehmlassung nunmehr behauptet, er habe
noch nicht zum Überholen angesetzt, da nicht erstellt sei, dass sich sein
Fahrzeug komplett auf der Gegenfahrbahn befunden habe, entfernt er sich vom für
das Bundesgericht verbindlich festgestellten Sachverhalt, ohne Willkür
darzutun. Hierzu genügt es insbesondere nicht, die Aussagen des mutmasslichen
Opfers zu bestreiten (BGE 143 IV 241 E. 2.3.1; 142 III 364 E. 2.4; 141 IV 317
E. 5.4). Der in diesem Zusammenhang angerufene Grundsatz "in dubio pro reo"
geht im Verfahren vor Bundesgericht nicht über das Willkürverbot von Art. 9 BV
hinaus (BGE 138 V 74 E. 7). Angesichts der willkürfrei verneinten
Überblickbarkeit der Strecke für den Beschwerdegegner lässt die Vorinstanz auch
zu Recht offen, ob die für ein gefahrloses Überholmanöver nötige Strecke zur
Verfügung stand. Entgegen seiner Auffassung musste der Beschwerdegegner zudem
sehr wohl damit rechnen, dass sich in seinem toten Winkel ein entgegenkommendes
Fahrzeug befinden könnte. Selbst wenn zudem dessen Distanz zum Beschwerdegegner
bei Abbruch des Manövers noch 50 Meter betragen hätte und das entgegenkommende
Fahrzeug nur mit 50 km/h, statt wie vorinstanzlich angenommen mit 80 km/h
unterwegs gewesen sein sollte, wie er behauptet, könnte daraus nicht
geschlossen werden, es hätte keine erhebliche Gefahr bestanden. Die genannte
Distanz reicht angesichts der gefahrenen Geschwindigkeiten für eine derartige
Annahme offensichtlich nicht, zumal eine erhöht abstrakte Gefahr genügt. Im
Übrigen ergibt sich die vom Beschwerdegegner bestrittene, vorinstanzlich indes
nachvollziehbar bejahte erhebliche Gefahr für den Gegenverkehr ohne Weiteres
daraus, dass sich der Lenker des entgegenkommenden Fahrzeugs veranlasst sah,
zur Vermeidung einer Kollision auf die Wiese auszuweichen, was der
Beschwerdegegner nicht in Frage stellt.

2. 

Die Beschwerde ist gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und
die Sache ist zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der mit seinen Anträgen unterliegende
Beschwerdegegner dessen Kosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Kantonsgerichts Appenzell
Innerrhoden vom 29. Januar 2019 wird aufgehoben und die Sache zu neuer
Beurteilung an dieses zurückgewiesen.

2. 

Der Beschwerdegegner trägt die Gerichtskosten von Fr. 3'000.--.

3. 

Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Appenzell I.Rh.,
Abteilung Zivil- und Strafgericht, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 23. August 2019

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: Matt