Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.430/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

6B_430/2019

Urteil vom 19. August 2019

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Denys, Präsident,

Bundesrichter Oberholzer,

Bundesrichter Rüedi,

Gerichtsschreiber Matt.

Verfahrensbeteiligte

X.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Oliver Lücke,

Beschwerdeführer,

gegen

Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, 3013 Bern,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Widerhandlungen gegen die Arbeits- und Ruhezeitverordnungen 1 und 2;
Gerichtsbesetzung, Anspruch auf eine Verhandlung in angemessener Frist;
Parteientschädigung, Kosten,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer,
vom 4. März 2019

(SK 18 170).

Sachverhalt:

A. 

Am 22. Juli 2016 verurteilte das Regionalgericht Oberland X.________ wegen
mehrfacher Übertretungen der Arbeits- und Ruhezeitverordnung, begangen zwischen
dem 1. und 31. März 2015, zu Fr. 2'000.-- Busse. Auf Berufung von X.________
hin stellte das Obergericht des Kantons Bern am 4. März 2019 eine Verletzung
des Beschleunigungsgebots fest und reduzierte die Busse auf Fr. 500.--.

B. 

Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, das Strafverfahren sei
wegen Verstosses gegen Art. 6 EMRK einzustellen, eventualiter sie die Sache zur
Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen. Er lehnt die Besetzung des
bundesgerichtlichen Spruchkörpers wegen Verletzung von Art. 6 EMRK insgesamt
ab. X.________ ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.

Erwägungen:

1. 

Der Beschwerdeführer beanstandet die Besetzung des bundesgerichtlichen
Spruchkörpers unter dem Aspekt des Anspruchs auf ein unabhängiges und
unparteiisches Gericht nach Art. 6 EMRK. Mit den vorgebrachten Argumenten hat
sich das Bundesgericht indes in zahlreichen, den Rechtsvertreter des
Beschwerdeführers involvierenden Verfahren ausführlich auseinandergesetzt und
sie allesamt verworfen (vgl. etwa BGE 144 I 37 E. 2; Urteile 6B_1124/2018 vom
18. März 2019 E. 2.1.1; 6B_598/2018 vom 7. November 2018 E. 1.1 und 6B_373/2018
vom 7. September 2018 E. 1; je mit Hinweisen). Zum Einwand des
Rechtsvertreters, wonach angesichts der systematischen Abweisung seiner
Vorbringen die fehlende Unabhängigkeit des Bundesgerichts sowie der mangelnde
Rechtsschutz (Art. 6 und 13 EMRK) durch dieses erstellt sei, hat sich das
Gericht zuletzt im Urteil 6B_229/2019 vom 27. Mai 2019 E. 1 ebenfalls
geäussert. Gleiches gilt für die Rüge der angeblich zu kurzen Amtsdauer der
Bundesrichterinnen und Bundesrichter von sechs Jahren. Entgegen der Behauptung
des Beschwerdeführers hat das Bundesgericht diese Rüge keineswegs ignoriert
(vgl. Urteil 6B_1124/2018 vom 18. März 2019 E. 2.1.1). Darauf ist nicht
neuerlich einzugehen. Auch eine systematische Verletzung seiner
Konventionsrechte legt der Beschwerdeführer nicht ansatzweise dar (vgl. dazu
ebenfalls Urteil 6B_229/2019 vom 27. Mai 2019 E. 1).

2. 

Der Beschwerdeführer rügt auch im vorinstanzlichen Verfahren Verstösse gegen
Art. 6 EMRK.

2.1. Nach Art. 30 Abs. 1 BV hat jede Person, deren Sache in einem gerichtlichen
Verfahren beurteilt werden muss, Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes,
zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht. Ausnahmegerichte sind
untersagt. Mit ähnlichen Worten garantiert Art. 6 Ziff. 1 EMRK das Recht jeder
Person, dass über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem
unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen
Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Art. 6
Ziff. 1 EMRK verlangt unter dem Aspekt des auf Gesetz beruhenden Gerichts einen
justizförmigen, unabhängigen und unparteiischen Spruchkörper, der über
Streitfragen auf der Grundlage des Rechts und in einem gesetzlich vorgesehenen
Verfahren mit rechtsstaatlichen Garantien entscheidet. Erforderlich sind
insbesondere Vorschriften über die Einrichtung, Zusammensetzung, Organisation
und Zuständigkeit des Gerichts. Der EGMR prüft zwar die Einhaltung staatlichen
Rechts, stellt aber die Auslegung durch die Gerichte nur in Frage, wenn sie das
Recht eindeutig verletzt oder willkürlich ist. Dies gilt ebenso für das
Verfahren. Auch dieses muss gesetzlich geregelt sein. Die Festlegung der
anwendbaren Verfahrensregeln darf nicht dem Ermessen der Justizorgane
überlassen werden. Der parlamentarische Gesetzgeber ist verpflichtet, für einen
hinreichenden prozessrechtlichen Rahmen zu sorgen (BGE 144 I 37 E. 2.1; Urteil
6B_373/2018 vom 7. September 2018 E. 3.2.1; FRANZ MAYER, in: EMRK-Kommentar,
Karpenstein/Mayer [Hrsg.], 2. Aufl. 2015, N. 42 zu Art. 6 EMRK).

Das Bundesgericht überprüft die Anwendung kantonalen Rechts nur auf Willkür
(Art. 95 BGG). Willkür in der Rechtsanwendung liegt vor, wenn der angefochtene
Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in
klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz
krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft
(BGE 141 IV 305 E. 1.2 mit Hinweisen). Für die Willkürrüge gelten erhöhte
Begründungsanforderungen (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 140 III 385 E. 2.3; 138 I
171 E. 1.4; Urteil 6B_229/2019 vom 27. Mai 2019 E. 2.1; je mit Hinweisen).

2.2. Soweit der Beschwerdeführer auch mit Bezug auf das vorinstanzliche
Verfahren die seiner Auffassung nach zu kurze Amtszeit und die Möglichkeit
einer Wiederwahl der Richterinnen und Richter kritisiert, kann auf das in
Erwägung 1 Gesagte sowie insbesondere das Urteil 6B_1124/2018 vom 18. März 2019
E. 2.1.1 verwiesen werden. Darin hat das Bundesgericht die vom
beschwerdeführerischen Anwalt geübte Kritik an dieser Praxis explizit
verworfen. Es hat erwogen, aus dem Umstand, dass der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte (nachfolgend EGMR) von einer sechsjährigen Amtsdauer mit
Wiederwahlmöglichkeit zu einer einmaligen Amtsdauer von neun Jahren
übergegangen sei, könne nicht gefolgert werden, eine Amtsdauer von sechs Jahren
sei zu kurz und mit Art. 6 EMRK unvereinbar. Im vorerwähnten Urteil (E. 3.2.2)
hat das Bundesgericht auch die Vereinbarkeit des vom Beschwerdeführer
kritisierten Art. 21a Abs. 2 des kantonalen Gesetzes vom 11. Juni 2009 über die
Organisation der Gerichtsbehörden und der Staatsanwaltschaft (GSOG; BSG 161.1)
mit Konventions- und Verfassungsrecht bestätigt. Dieser sieht vor, dass die
Wiederwahl der vorinstanzlichen Richter auf Empfehlung der Justizkommission
erfolgt. Eine willkürliche Anwendung der Norm legt der Beschwerdeführer nicht
dar. Ebenso wenig lässt die - gesetzlich vorgesehene - Wahl von Richterinnen
und Richtern durch kantonale Parlamente jene per se als abhängig oder befangen
erscheinen, was der Beschwerdeführer im konkreten Verfahren auch nicht darlegt.
Dies gilt gleichfalls für eine angeblich systematische Benachteiligung seiner
selbst infolge einer "Exponierung" seines Rechtsvertreters im Kanton Bern. Die
Nichtteilnahme der Staatsanwaltschaft an den kantonalen Verfahren kritisiert
der Beschwerdeführer nicht substanziiert. Er belässt es dabei, auf neuere
Entscheide des EGMR hinzuweisen, was den gesetzlichen Begründungsanforderungen
an die Beschwerde nicht genügt (Art. 42 Abs. 1 und 2, Art. 106 BGG). Darauf ist
nicht einzutreten.

3. 

Inhaltlich rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Beschleunigungsgebots
im kantonalen Verfahren. Dieses müsse eingestellt und auf Kosten verzichtet
werden.

3.1. Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen
Anspruch auf Beurteilung innert angemessener Frist (Art. 29 Abs. 1 BV). Art. 6
Ziff. 1 EMRK vermittelt diesbezüglich keinen weitergehenden Schutz als Art. 29
Abs. 1 BV (BGE 130 I 269 E. 2.3; 312 E. 5.1; je mit Hinweis). Gemäss Art. 5
Abs. 1 StPO nehmen die Strafbehörden die Strafverfahren unverzüglich an die
Hand und bringen sie ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss. Die
beschuldigte Person soll nicht länger als notwendig den Belastungen eines
Strafverfahrens ausgesetzt sein (BGE 143 IV 373 E. 3.2.1; 133 IV 158 E. 8). Das
Beschleunigungsgebot gilt für das ganze Verfahren (BGE 143 IV 49 E. 1.8.2 mit
Hinweisen). Die Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer entzieht sich
starren Regeln. Die Angemessenheit ist in jedem Einzelfall unter Würdigung
aller konkreten Umstände zu prüfen (BGE 130 I 312 E. 5.2 mit Hinweisen).
Kriterien hierfür bilden etwa die Schwere des Tatvorwurfs, die Komplexität des
Sachverhaltes, die dadurch gebotenen Untersuchungshandlungen, das Verhalten der
beschuldigten Person und dasjenige der Behörden sowie die Zumutbarkeit für die
beschuldigte Person (BGE 130 I 269 E. 3.1 mit Hinweis). Es ist im Sinne einer
Gesamtbetrachtung zu prüfen, ob die Strafbehörden das Verfahren innert
angemessener Frist geführt haben (BGE 143 IV 49 E. 1.8.2; 143 IV 373 E. 1.3.1;
133 IV 158 E. 8; Urteil 6B_175/2018 vom 23. November 2018 E. 2.2).

Wird eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes festgestellt, ist diesem
Umstand angemessen Rechnung zu tragen, wobei als Sanktionen die
Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung, die
Schuldigsprechung bei gleichzeitiger Strafbefreiung oder in extremen Fällen die
Einstellung des Verfahrens in Betracht fallen. Letzteres kommt nur als "ultima
ratio" in Betracht. Bei der Frage nach der sachgerechten Folge ist zu
berücksichtigen, wie schwer die beschuldigte Person durch die
Verfahrensverzögerung getroffen wurde, wie gravierend die ihr vorgeworfenen
Taten sind und welche Strafe ausgesprochen werden müsste, wenn das
Beschleunigungsgebot nicht verletzt worden wäre. Rechnung zu tragen ist auch
den Interessen der Geschädigten und der Komplexität des Falls. Schliesslich ist
in Betracht zu ziehen, wer die Verfahrensverzögerung zu vertreten hat (BGE 117
IV 124 E. 4e). Eine Verfahrenseinstellung kommt nur in Betracht, wenn die
Verfahrensverzögerung dem Betroffenen einen Schaden von aussergewöhnlicher
Schwere verursachte (BGE 133 IV 158 E. 8 mit Hinweis). Das Bundesgericht greift
in die Beurteilung der Sanktion für die Verletzung des Beschleunigungsgebots
nur ein, wenn das Gericht sein Ermessen über- oder unterschritten oder
missbraucht und damit Bundesrecht verletzt hat (BGE 143 IV 373 E. 1.3.1 ff. mit
Hinweisen).

3.2. Vorliegend ist unbestritten, dass das Beschleunigungsgebot verletzt wurde.
Die Vorinstanz hat dem - angesichts des geringen Aktenumfangs, der fehlenden
Komplexität des Sachverhalts und der Kürze der erstinstanzlichen
Urteilsbegründung - als zu lang beurteilten Verfahren denn auch durch eine
erhebliche Reduktion der ausgefällten Busse von erstinstanzlich Fr. 2'000.--
auf Fr. 500.-- Rechnung getragen. Dass sie das ihr dabei zustehende, weite
sachrichterliche Ermessen missbraucht hätte, ist nicht ersichtlich und tut der
Beschwerdeführer nicht dar. Insbesondere die von ihm geforderte
Verfahrenseinstellung kommt nur bei absoluten Extremfällen in Betracht. Indes
kann keine Rede davon sein, dass dem Beschwerdeführer aufgrund der
Verfahrensverzögerung ein aussergewöhnlich schwerer Schaden entstanden wäre
(oben E. 3.1). Dies behauptet er auch nicht. Ebenfalls ist, nicht zuletzt
angesichts der geringen Schwere der Vorwürfe und der entsprechend nicht
besonderen Belastung für eine beschuldigte Person, unerfindlich, weshalb die
Verfahrensdauer von etwas mehr als drei Jahren schlechterdings unzumutbar
gewesen sein soll. Daran ändert nichts, dass der Beschwerdeführer als Folge der
strafrechtlichen Verurteilung allenfalls Administrativmassnahmen zu gewärtigen
hat, und dass auch das schriftlich geführte, offenbar (nachvollziehbar) nicht
prioritär behandelte Berufungsverfahren mehrere Monate in Anspruch nahm. Mit
seinem Einwand, wonach die Verfahrensverzögerung durch die Notwendigkeit eines
Weiterzugs der kantonalen Urteile an das Bundesgericht und gegebenenfalls den
EGMR gar vergrössert würde, verkennt der Beschwerdeführer ferner, dass diese
Verzögerung dem gesetzlichen, rechtsstaatlichen Verfahren immanent und
letztlich auch durch ihn selbst verursacht ist. Die weiteren Rügen, wonach die
gerichtlichen Instanzen kein nach Art. 6 und 13 EMRK faires Verfahren
garantiert, und die Staatsanwaltschaft nicht an den vorinstanzlichen
Verhandlungen teilgenommen hätten, hat das Bundesgericht verworfen (oben E. 1
und 2). Sie können daher nicht zur Begründung der beantragten
Verfahrenseinstellung dienen. Abgesehen davon besteht zwischen den -
unbegründeten - Rügen und der Verfahrensverzögerung keinerlei Zusammenhang. Es
ist daher nicht einzusehen, weshalb sie zu einer Verfahrenseinstellung führen
müssten. Im Übrigen verkennt der Beschwerdeführer, dass der von Art. 6 Ziff. 1
EMRK vermittelte Anspruch auf Verfahrensbeschleunigung nicht über denjenigen
gemäss Art. 29 Abs. 1 BV hinausgeht (vgl. oben E. 3.1).

An eine Kostenreduktion oder einen Kostenverzicht, wie es der Beschwerdeführer
ebenfalls verlangt, wäre schliesslich nur bei einer Verfahrenseinstellung zu
denken gewesen (Art. 423 Abs. 1 i.V.m. Art. 426 Abs. 1 StPO; e contrario vgl.
auch Art. 426 Abs. 2 StPO). Ein Abweichen von diesen Grundsätzen hätte die
Abkehr vom Prinzip der Akzessorietät der Kosten zur Folge. Ebenso wenig liegt
eine "fehlerhafte Verfahrenshandlung" gemäss Art. 426 Abs. 3 lit. a bzw. Art.
417 StPO vor, was eine teilweise Kostenauflage an den Kanton erlauben würde.
Solches setzt im Übrigen ein Verschulden voraus, während die Folgen einer
Verletzung des Beschleunigungsgebots von einem Verschulden unabhängig sind (BGE
143 IV 373 E. 1.4.2).

4. 

Die Beschwerde ist unbegründet und abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Ausgangsgemäss hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen, zumal
sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege infolge Aussichtslosigkeit
abzuweisen ist (Art. 66 Abs. 1 und 64 BGG). Den finanziellen Verhältnissen des
Beschwerdeführers ist bei der Kostenbemessung Rechnung zu tragen.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.

2. 

Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3. 

Der Beschwerdeführer trägt die Gerichtskosten von Fr. 1'200.--.

4. 

Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 2.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 19. August 2019

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: Matt