Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.315/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

6B_315/2019

Urteil vom 5. Juli 2019

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Denys, Präsident,

Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,

Bundesrichter Oberholzer,

Bundesrichter Rüedi,

Bundesrichterin Jametti,

Gerichtsschreiberin Unseld.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8090 Zürich,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Verfahrenseinstellung; Entschädigungsfolgen; Nichteintreten auf verspätete
Beschwerde, Rechtsmittelbelehrung,

Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Zürich, III.
Strafkammer, vom 21. Januar 2019 (UH190004-O/U/PFE).

Sachverhalt:

A. 

Die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat stellte das Strafverfahren gegen
A.________ wegen Diebstahls mit Verfügung vom 8. November 2018 ein. Sie sprach
diesem eine Genugtuung von Fr. 200.--, jedoch keine Entschädigung zu.

A.________ gelangte dagegen mit Beschwerde an das Obergericht des Kantons
Zürich, wobei er ein Schadenersatzbegehren über Fr. 3'200.-- stellte. Das
Obergericht trat auf die Beschwerde infolge Verspätung mit Verfügung vom 21.
Januar 2019 nicht ein.

B. 

A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen sinngemäss, der Entscheid
vom 21. Januar 2019 sei aufzuheben und auf seine Beschwerde sei einzutreten.

C. 

Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft verzichteten auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

1.1. Der Beschwerdeführer rügt, er habe die 10-tägige Beschwerdefrist
eingehalten, da er seine Beschwerde innert dieser Frist der polnischen Post
übergeben habe. Er sei weder in der Rechtsmittelbelehrung noch sonstwie darüber
informiert worden, dass das Schreiben der Strafbehörde, der Post in der Schweiz
oder einer diplomatischen Mission übergeben werden müsse.

1.2. Die Frist für die Beschwerde gemäss Art. 393 ff. StPO beträgt 10 Tage
(Art. 396 Abs. 1 StPO). Die Frist beginnt am Tag nach der Mitteilung des
angefochtenen Entscheids zu laufen (Art. 90 Abs. 1 StPO). Sie ist eingehalten,
wenn die Beschwerde spätestens am letzten Tag der Frist bei der Strafbehörde
abgegeben oder zu deren Handen der Schweizerischen Post, einer schweizerischen
diplomatischen oder konsularischen Vertretung oder, im Falle von inhaftierten
Personen, der Anstaltsleitung übergeben wurde (Art. 91 Abs. 2 StPO).

1.3. Die Einstellungsverfügung vom 8. November 2018 wurde dem (nicht anwaltlich
vertretenen) Beschwerdeführer am 18. Dezember 2018 an seinem Wohnort in Polen
zugestellt. Die 10-tägige Beschwerdefrist begann daher am 19. Dezember 2018 zu
laufen und endete am 28. Dezember 2018. Der Beschwerdeführer übergab seine
Beschwerde zwar am 27. Dezember 2018 der polnischen Post. Der Schweizerischen
Post ging sie jedoch erst am 2. Januar 2019 zu (angefochtener Entscheid Ziff. 4
S. 2). Die Beschwerde war gemäss Art. 91 Abs. 2 StPO daher verspätet.

1.4.

1.4.1. Gleiche oder ähnliche Bestimmungen wie in Art. 91 Abs. 2 StPO sind auch
in anderen Verfahrensgesetzen enthalten (vgl. Art. 48 Abs. 1 BGG, Art. 143 Abs.
1 ZPO, Art. 21 Abs. 1 VwVG, Art. 39 Abs. 1 ATSG). Zu prüfen ist die in Lehre
und Rechtsprechung aufgeworfene Frage, ob der Zustellungsempfänger bei einer
Zustellung ins Ausland in der Rechtsmittelbelehrung oder auf andere Weise
darauf hingewiesen werden muss, dass die Eingabe am letzten Tag der Frist der
Schweizerischen Post übergeben werden muss und dass das Rechtsmittel
fristwahrend auch bei einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen
Vertretung im Ausland eingereicht werden kann.

1.4.2. Das Bundesgericht entschied in BGE 125 V 65 für das
Sozialversicherungsrecht, die Verwaltung müsse die Gesetzesbestimmung von Art.
21 Abs. 1 VwVG in der Rechtsmittelbelehrung wörtlich wiedergeben, um sich
gegenüber einem im Ausland wohnhaften Versicherten auf die darin enthaltene
Regel berufen zu können. Dies ergebe sich aus dem Grundsatz der Fairness und
der Waffengleichheit (BGE, a.a.O., E. 4 S. 67 f.). Die Rechtsmittelbelehrung
muss bei Verfügungsadressaten mit Wohnsitz im Ausland über die Vorschrift von
Art. 35 Abs. 2 VwVG hinaus demnach auch einen Hinweis auf die spezielle
Bestimmung von Art. 21 Abs. 1 VwVG betreffend die Fristwahrung enthalten.
Gemäss dem Urteil 9C_755/2013 vom 11. Juli 2014 ist diese zu Art. 21 Abs. 1
VwVG ergangene Rechtsprechung auch auf Art. 39 Abs. 1 ATSG anwendbar (Urteil,
a.a.O., E. 1). In einem jüngeren, amtlich publizierten Entscheid hielt das
Bundesgericht zudem ausdrücklich an BGE 125 V 65 fest. Es erwog, selbst wenn
angenommen würde, die Anforderungen von Art. 21 Abs. 1 VwVG bräuchten nicht in
der Rechtsmittelbelehrung selbst zu stehen, so müsste darauf in geeigneter
Weise im Rahmen der Verfügungszustellung hingewiesen werden. Eine solche
Informationspflicht sei zumindest gegenüber einer Adressatin der Verfügung im
Ausland, die weder in erkennbarer Weise mit dem Schweizer Recht vertraut noch
anwaltlich vertreten sei, zu bejahen (BGE 144 II 401 E. 3.2 S. 405).

Für das BGG (vgl. Art. 112 Abs. 1 lit. d und Art. 48 Abs. 1) wird die Frage in
der Lehre kontrovers diskutiert (die Anwendbarkeit von BGE 125 V 65 bejahend:
YVES DONZALLAZ, Loi sur le Tribunal fédéral, Commentaire, 2008, N. 1238 zu Art.
48 BGG; anders AMSTUTZ/ARNOLD, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 3.
Aufl. 2018, N. 10 zu Art. 48 BGG, mit Hinweis auf die Letztinstanzlichkeit des
bundesgerichtlichen Verfahrens; siehe dazu auch Urteile 1B_190/2012 vom 3. Juli
2012 E. 3; 4A_305/2010 vom 11. Oktober 2010; 2C_754/2008 vom 23. Dezember 2008
E. 2).

Wie die Frage für die StPO zu beurteilen ist, wurde soweit ersichtlich
höchstrichterlich bisher nicht geklärt. NIKLAUS OBERHOLZER spricht sich als
einer der wenigen Autoren, die sich überhaupt zu dieser Frage äussern, mit
Verweis auf BGE 125 V 67 f. für eine um Art. 91 Abs. 2 StPO ergänzte
Rechtsmittelbelehrung aus (vgl. NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des
Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2012, N. 1308).

1.4.3. Letzterem ist beizupflichten. Es sind keine Gründe ersichtlich, weshalb
die in BGE 125 V 65 E. 4 entwickelte Rechtsprechung nicht zumindest auch für
das kantonale Strafverfahren gelten soll. Urteile und andere
verfahrenserledigende Entscheide müssen, sofern sie anfechtbar sind, eine
Rechtsmittelbelehrung enthalten (Art. 81 Abs. 1 lit. d StPO). Art. 81 Abs. 1
lit. d StPO ist offen formuliert und äussert sich - anders als Art. 35 Abs. 2
VwVG - nicht zum erforderlichen Inhalt der Rechtsmittelbelehrung. Die
Bestimmung steht einer erweiterten Rechtsmittelbelehrung daher auch nicht
entgegen. Die Rechtsmittelbelehrung soll die Parteien in die Lage versetzen,
die ihnen von Gesetzes wegen zustehenden Rechtsmittel auch effektiv
wahrzunehmen. Dies ist ohne Kenntnis des in Art. 91 Abs. 2 StPO geregelten
Fristenlaufs u.U. nicht möglich. Angesichts der teils kurzen Fristen von 10
Tagen (vgl. Art. 396 Abs. 1 StPO für die Beschwerde; siehe auch Art. 354 Abs. 1
StPO für die Einsprache) und der Dauer der postalischen Zustellung in gewissen
Staaten ist es zudem wichtig, dass die rechtsuchende Person auch über die
Möglichkeit informiert ist, ihr Rechtsmittel im Ausland einer schweizerischen
diplomatischen oder konsularischen Vertretung zu übergeben. Die
Rechtsmittelbelehrung im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. d StPO muss, wenn der
Zustellungsempfänger im Ausland wohnhaft ist, grundsätzlich daher auch einen
Hinweis auf Art. 91 Abs. 2 StPO enthalten.

1.4.4. Aus einer mangelhaften Eröffnung eines Entscheids dürfen den Parteien
keine Nachteile erwachsen. Diese u.a. in Art. 49 BGG verankerte Regel gilt auch
für die StPO (NILS STOHNER, in: Basler Kommentar, Schweizerische
Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 3 zu Art. 81 StPO). Sie entspricht einem
allgemeinen Rechtsgrundsatz, der den verfassungsmässigen Vertrauensschutz sowie
Art. 29 Abs. 1 und 2 BV konkretisiert (BGE 144 II 401 E. 3.1 S. 404 f.). Hatte
der Rechtsuchende keine Kenntnis von der in Art. 91 Abs. 2 StPO verankerten
Regel über den Fristenlauf bei einer Postaufgabe der Eingabe im Ausland, weil
er darauf weder in der Rechtsmittelbelehrung noch auf andere Weise hingewiesen
wurde, kann ihm diese Bestimmung nicht entgegengehalten werden. Dies entbindet
ihn jedoch nicht von der Pflicht, das Rechtsmittel spätestens am letzten Tag
der Frist der ausländischen Post zu übergeben.

1.5. Der nicht anwaltlich vertretene Beschwerdeführer übergab seine Beschwerde
innert der 10-tägigen Beschwerdefrist der polnischen Post. Da die
Rechtsmittelbelehrung keinen Hinweis auf Art. 91 Abs. 2 StPO enthielt, kann ihm
die in dieser Bestimmung enthaltene Regel nach dem zuvor Gesagten nicht
entgegengehalten werden. Anhaltspunkte, dass der Beschwerdeführer auf andere
Weise auf die Bestimmung von Art. 91 Abs. 2 StPO aufmerksam gemacht wurde,
liegen nicht vor. Die Vorinstanz trat auf die Beschwerde des Beschwerdeführers
zu Unrecht nicht ein.

2. 

Die Beschwerde ist gutzuheissen, die Verfügung vom 21. Januar 2019 aufzuheben
und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Es werden
keine Gerichtskosten erhoben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Dem nicht anwaltlich
vertretenen Beschwerdeführer ist keine Parteientschädigung zuzusprechen, da er
keine besonderen Verhältnisse oder Auslagen geltend macht, die eine solche
rechtfertigen könnten (vgl. BGE 127 V 205 E. 4b S. 207; 125 II 518 E. 5b S. 519
f.). Dessen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist als gegenstandslos
abzuschreiben.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird gutgeheissen. Die Verfügung des Obergerichts des Kantons
Zürich vom 21. Januar 2019 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung
an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 

Es werden keine Kosten erhoben.

3. 

Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, III.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 5. Juli 2019

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Die Gerichtsschreiberin: Unseld