Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.252/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

6B_252/2019

Urteil vom 20. August 2019

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Denys, Präsident,

Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,

Bundesrichterin Jametti,

Gerichtsschreiber Held.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

Beschwerdeführer,

gegen

1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,

Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,

2. X.________,

Beschwerdegegnerinnen.

Gegenstand

Nichtanhandnahme (Körperverletzung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 14. Dezember 2018 (SBK.2018.228).

Erwägungen:

1. 

Der Beschwerdeführer erstattete am 28. Dezember 2017 gegen die
Beschwerdegegnerin 2 Strafanzeige wegen (einfacher) Körperverletzung. Die
Staatsanwaltschaft Baden lud den Beschwerdeführer und die Beschwerdegegnerin 2
auf den 5. Juni 2018 zu einer Vergleichsverhandlung vor. Nachdem der
Beschwerdeführer nicht zur Vergleichsverhandlung erschienen war, verfügte die
Staatsanwaltschaft am 5. Juni 2018 die Nichtanhandnahme der Strafuntersuchung.

Gegen die ihm am 18. Juni 2018 zugestellte Nichtanhandnahmeverfügung gelangte
der Beschwerdeführer am 28. Juni 2018 mit einer als "Anfechtung der Verfügung
vom 5. Juni 2018" überschriebenen Eingabe an die Vorinstanz und stellte "Antrag
auf neue Verhandlung", mit dem er die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen
Körperverletzung beantragte. Gleichzeitig ersuchte er um unentgeltliche
Rechtspflege. Die Vorinstanz wies die "Beschwerde" am 14. Dezember 2018
kostenfällig ab.

2. 

Der Beschwerdeführer beantragt mit Beschwerde in Strafsachen sinngemäss, der
Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache an die
Staatsanwaltschaft zur Fortführung des Strafverfahrens unter Neuansetzung der
Vergleichsverhandlung zurückzuweisen. Er macht zusammengefasst geltend, er habe
an der Vergleichsverhandlung nicht teilnehmen können, da er zu 100 %
verhandlungs- und arbeitsunfähig gewesen sei, was er den Strafbehörden auch
mitgeteilt habe.

Die Vorinstanz und die Beschwerdegegnerin 1 verzichten auf Vernehmlassungen.
Die Beschwerdegegnerin 2 hat sich innert Frist nicht geäussert.

3. 

Die Vorinstanz erwägt, unstreitig sei, dass der Beschwerdeführer die Vorladung
zur Vergleichsverhandlung entgegen genommen habe und ihm die Säumnisfolgen
bekannt gewesen seien. Sein Nichterscheinen begründe er mit gesundheitlichen
Problemen. Die Staatsanwaltschaft bestreite, dass der Beschwerdeführer sie am
29. Mai 2018 schriftlich hierüber informiert habe. Auch befänden sich das
Schreiben und die Arztzeugnisse nicht in den Verfahrensakten und der
Beschwerdeführer habe trotz Aufforderung der Verfahrensleitung nicht bewiesen,
dass der Staatsanwaltschaft die (der "Beschwerde" beigefügten) Arztzeugnisse
rechtzeitig vor der Vergleichsverhandlung zugegangen seien, weshalb er säumig
i.S.v. Art. 93 StPO gewesen sei und der Strafantrag gemäss Art. 316 Abs. 1 Satz
2 StPO als zurückgezogen gelte. Ein explizites oder sinngemässes Gesuch um
Wiederherstellung des Termins stelle der Beschwerdeführer nicht. Im Übrigen
würde ihm auch insoweit kaum der Nachweis einer unverschuldeten Säumnis
gelingen, da er im Moment der Zustellung der Vorladung bereits im Besitz der
relevanten Arztzeugnisse gewesen sei. Wegen offensichtlicher Aussichtslosigkeit
der Beschwerde sei das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abzuweisen.

4. 

Eine Partei ist säumig, wenn sie eine Verfahrenshandlung nicht fristgerecht
vornimmt oder zu einem Termin nicht erscheint (Art. 93 StPO). Würde ihr aus der
Säumnis ein erheblicher und unersetzlicher Rechtsverlust erwachsen, kann sie
nach Art. 94 Abs. 1 StPO die Wiederherstellung der Frist verlangen, wobei sie
glaubhaft zu machen hat, dass sie an der Säumnis kein Verschulden trifft.
Gemäss Abs. 2 dieser Bestimmung ist das Gesuch innert 30 Tagen nach Wegfall des
Säumnisgrundes schriftlich und begründet bei der Behörde zu stellen, bei
welcher die versäumte Verfahrenshandlung hätte vorgenommen werden sollen. Bei
einem versäumten Termin setzt die Verfahrensleitung einen neuen Termin fest,
wenn die Wiederherstellung bewilligt wird (Art. 94 Abs. 5 StPO; Urteil 6B_652/
2013 vom 26. November 2013 E. 1.3.2).

5. 

Der angefochtene Entscheid verletzt Bundesrecht. Nach den zutreffenden
Erwägungen der Vorinstanz ist unstreitig, dass der Beschwerdeführer trotz
Vorladung der Vergleichsverhandlung ferngeblieben ist, mithin säumig i.S.v.
Art. 93 StPO war. Der Beschwerdeführer bringt jedoch in seiner kantonalen
Eingabe unter Beilage von drei Arztzeugnissen vor, dass ihn an der Säumnis kein
Verschulden treffe, da er aus gesundheitlichen Gründen an der
Vergleichsverhandlung nicht habe teilnehmen können. Ob die Säumnis aufgrund der
eingereichten Arztzeugnisse, die dem Beschwerdeführer eine (zeitlich nicht
präzisierte) Verhandlungsunfähigkeit sowie für die Zeit vom 1. April bis zum
31. Juli 2018 eine 100 %-ige Arbeitsunfähigkeit attestieren, (un) verschuldet
war oder nicht, ist nicht Gegenstand der Nichtanhandnahmeverfügung und wurde
von der hierfür zuständigen Staatsanwaltschaft als Behörde, bei der der
Beschwerdeführer säumig war (Art. 94 Abs. 2 StPO), noch nicht beurteilt und war
mithin auch von der Vorinstanz nicht zu überprüfen. Die Vorinstanz hätte die
Eingabe des anwaltlich nicht vertretenen Beschwerdeführers aufgrund des ihr
vorgelegten "Anfechtungsgegenstandes" und des expliziten Rechtsbegehrens des
Beschwerdeführers auf "Antrag auf neue Verhandlung / Ich beantrage, dass das
Verfahren wegen Körperverletzung wieder aufgenommen wird" von Amtes wegen als
Gesuch um Wiederherstellung (der versäumten Vergleichsverhandlung) an die
Staatsanwaltschaft weiterleiten müssen (vgl. Art. 91 Abs. 4 StPO; siehe auch:
Art. 39 Abs. 1 StPO).

Darüber hinaus erweist sich die Argumentation der Vorinstanz, der
Beschwerdeführer habe seine Säumnis verschuldet, da er der Staatsanwaltschaft
den Hinderungsgrund seines Ausbleibens nicht "rechtzeitig vor" der
Vergleichsverhandlung angezeigt habe, als rechtsfehlerhaft. Sie verkennt, dass
es bei der Säumnis und einer allfälligen Wiederherstellung einer Frist oder
eines Termins - anders als bei einem Gesuch um Erstreckung von Fristen und
Verschiebung von Terminen (Art. 92 StPO) - um das unverschuldete Versäumnis und
nicht um die rechtzeitige Benachrichtigung über den Säumnisgrundgrund geht
(vgl. 6B_530/2016 vom 26. Juli 2017 E. 2.4). Die Rechtsfolge des fingierten
Rückzugs der Strafanzeige sanktioniert das unentschuldigte Fernbleiben und
nicht eine (allenfalls) verspätete Mitteilung des Säumnisgrundes. Dieser ist
vielmehr als "Begründung", dass die Säumnis unverschuldet war, mit dem Gesuch
um Wiederherstellung innert 30 Tagen nach Wegfall des Säuminsgrundes geltend zu
machen (vgl. Art. 94 Abs. 2 StPO).

Ungesehen der Beurteilung des Wiederherstellungsgesuchs und des Ausgangs eines
(allfälligen) Vergleichsverfahrens ist in Erinnerung zu rufen, dass nach
Eröffnung der Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft (hierzu: BGE 143 IV 397
E. 3.4.2) das Verfahren nur durch Einstellung (Art. 319 StPO) und nicht durch
Nichtanhandnahme (Art. 310 StPO) erledigt werden kann (Urteil 6B_810/2017 vom
9. November 2017 E. 2.4.2 mit Hinweisen).

6. 

Die Beschwerde ist im Verfahren gemäss Art. 109 BGG gutzuheissen. Es sind keine
Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG), womit das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos wird. Der anwaltlich nicht
vertretene Beschwerdeführer beantragt keine Parteientschädigung. Mit dem
Entscheid in der Sache wird das Sistierungsgesuch im bundesgerichtlichen
Verfahren gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des Obergerichts des Kantons
Aargau vom 14. Dezember 2018 aufgehoben. Die Sache wird zur Beurteilung der
Kosten- und Entschädigungsfolgen an die Vorinstanz sowie zur Beurteilung des
Gesuchs um Wiederherstellung an die Staatsanwaltschaft Baden zurückgewiesen.

2. 

Er werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 

Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 20. August 2019

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: Held