Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.1332/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

6B_1332/2019

Urteil vom 10. Dezember 2019

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Denys, Präsident,

Bundesrichter Rüedi,

Bundesrichterin Jametti,

Gerichtsschreiber Matt.

Verfahrensbeteiligte

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,

Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Franz Hollinger,

Beschwerdegegner.

Gegenstand

Nachverfahren nach Aufhebung der stationären therapeutischen Massnahme;
Anordnung einer Verwahrung nach Art. 64 Abs. 1 lit. b StGB; Entlassung aus der
Sicherheitshaft,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 15. November 2019 (SBK.2019.197+198).

Sachverhalt:

A. 

Infolge einer Verurteilung wegen mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern
sowie Pornografie ordnete das Obergericht des Kantons Aargau am 3. September
1997 gegen den bereits mehrfach einschlägig vorbestraften A.________ die
Verwahrung sowie eine ambulante Massnahme an. Letztere wurde in der Folge
stationär vollzogen und am 8. Juli 2014 letztmals um 4 Jahre verlängert.

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach hin erwirkte der Präsident des
Bezirksgerichts Brugg vor Ablauf der Massnahme im Sommer 2018 die Anordnung
bzw. Verlängerung von Sicherheitshaft. Am 21. Mai 2019 ordnete das
Bezirksgericht Brugg nach Durchführung einer Verhandlung sowie Einholen eines
ergänzenden psychiatrischen Gutachtens eine stationäre Massnahme für die Dauer
von 18 Monaten an und verlängerte die Sicherheitshaft einstweilen bis 20.
November 2019. Das Obergericht des Kantons Aargau wies die Beschwerde der
Staatsanwaltschaft, womit sie die Verwahrung, eventualiter die Verlängerung der
stationären Massnahme um 5 Jahre beantragt hatte, am 15. November 2019 ab. Die
Beschwerde von A.________ hiess es teilweise gut und ordnete für 5 Jahre eine
ambulante Behandlung nach Art. 63 StGB an. Ausserdem erteilte es ihm für die
Dauer der Behandlung die Weisung, jeglichen Kontakt zu Kindern unter 16 Jahren
zu unterlassen und sich in ein betreutes Wohnen zu begeben. Schliesslich
ordnete das Obergericht die Entlassung von A.________ aus der Sicherheitshaft
an.

B. 

Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons
Aargau, A.________ sei zu verwahren, bzw. es sei für 5 Jahre eine stationäre
therapeutische Massnahme anzuordnen oder diese entsprechend zu verlängern. Der
Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen und A.________ sei in
Sicherheitshaft zu versetzen. Eventualiter sei die Sache zurückzuweisen.
A.________ wurde eingeladen, sich zum Gesuch um aufschiebende Wirkung zu
äussern, worauf er eine Stellungnahme eingereicht hat.

Erwägungen:

1. 

Die Beschwerdeführerin kritisiert die Anordnung einer ambulanten Massnahme; sie
verlangt eine stationäre Massnahme resp. die Verwahrung des Beschuldigten.

1.1. Gemäss Art. 56 Abs. 1 StGB ist eine Massnahme anzuordnen, wenn eine Strafe
allein nicht geeignet ist, der Gefahr weiterer Straftaten des Täters zu
begegnen, ein Behandlungsbedürfnis des Täters besteht oder die öffentliche
Sicherheit dies erfordert und die Voraussetzungen der Art. 56-61, 63 oder 64
StGB erfüllt sind.

1.1.1. Ist der Täter psychisch schwer gestört, so kann das Gericht gemäss Art.
59 Abs. 1 StGB eine stationäre Behandlung anordnen, wenn das Verbrechen oder
Vergehen des Täters mit seiner psychischen Störung in Zusammenhang steht und zu
erwarten ist, dadurch lasse sich der Gefahr weiterer mit seiner psychischen
Störung in Zusammenhang stehender Taten begegnen. Das Gericht kann anordnen,
dass der psychisch schwer gestörte oder von Suchtstoffen oder in anderer Weise
abhängige Täter nicht stationär, sondern ambulant behandelt wird, wenn er eine
mit Strafe bedrohte Tat verübt, die mit seinem Zustand in Zusammenhang steht
und wenn zu erwarten ist, dadurch lasse sich der Gefahr weiterer mit dem
Zustand des Täters in Zusammenhang stehender Taten begegnen (Art. 63 Abs. 1
StGB). Eine Verwahrung nach Art. 64 Abs. 1 StGB kommt nur als "ultima ratio"
bei besonders schweren Straftaten in Frage (BGE 139 IV 57 E. 1.3.3; Urteil
6B_889/2019 vom 6. November 2019 E. 1.2; je mit Hinweisen). Sind mehrere
Massnahmen in gleicher Weise geeignet, ist aber nur eine notwendig, so ordnet
das Gericht diejenige an, die den Täter am wenigsten beschwert (Art. 56a Abs. 1
StGB).

Die stationäre therapeutische Massnahme muss verhältnismässig sein (Art. 36
Abs. 2 und 3 BV; Art. 56 Abs. 2 StGB). Das Verhältnismässigkeitsprinzip
verlangt, dass die Massnahme geeignet ist, beim Betroffenen die Legalprognose
zu verbessern. Weiter muss die Massnahme notwendig sein. Sie hat zu
unterbleiben, wenn eine gleich geeignete, aber mildere Massnahme für den
angestrebten Erfolg ausreichen würde. Dieses Kriterium trägt dem Aspekt des
Verhältnisses zwischen Strafe und Massnahme bzw. der Subsidiarität von
Massnahmen Rechnung. Schliesslich muss zwischen dem Eingriff und dem
angestrebten Zweck eine vernünftige Relation bestehen (Verhältnismässigkeit
i.e.S.). Das bedeutet, dass die betroffenen Interessen gegeneinander abgewogen
werden müssen. Bei einer Prüfung des Zweck-Mittel-Verhältnisses fallen im
Rahmen der Gesamtwürdigung auf der einen Seite insbesondere die Schwere des
Eingriffs in die Freiheitsrechte des Betroffenen in Betracht. Auf der anderen
Seite sind das Behandlungsbedürfnis sowie die Schwere und die
Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten relevant (BGE 142 IV 105 E. 5.4; 137 IV
201 E. 1.2; Urteil 6B_835/2017 vom 22. März 2018 E. 5.2.2 mit Hinweisen [nicht
publ. in BGE 144 IV 176]). Die Dauer der (stationären) Massnahme hängt von
deren Auswirkungen auf die Gefahr weiterer Straftaten ab, wobei die Freiheit
dem Betroffenen nur so lange entzogen werden darf, als die von ihm ausgehende
Gefahr dies zu rechtfertigen vermag. Die Massnahme dauert aber grundsätzlich so
lange an, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich eine Zweckerreichung als
aussichtslos erweist (BGE 145 IV 65 E. 2.3.3; 142 IV 105 E. 5.4; 141 IV 236 E.
3.5; 141 IV 49 E. 2.1 f.; je mit Hinweisen).

1.1.2. Das Gericht stützt sich bei seinem Entscheid über die Anordnung einer
Massnahme auf eine sachverständige Begutachtung. Diese äussert sich über die
Notwendigkeit und die Erfolgsaussichten einer Behandlung des Täters, die Art
und die Wahrscheinlichkeit weiterer möglicher Straftaten und die Möglichkeiten
des Vollzugs der Massnahme (Art. 56 Abs. 3 StGB, Art. 182 StPO; BGE 134 IV 315
E. 4.3.1; Urteil 6B_933/2018 vom 3. Oktober 2019 E. 3.1, zur Publ. vorgesehen).

Das Gericht würdigt Gutachten grundsätzlich frei (Art. 10 Abs. 2 StPO). In
Fachfragen darf es davon indessen nicht ohne triftige Gründe abweichen, und
Abweichungen müssen begründet werden. Auf der anderen Seite kann das Abstellen
auf eine nicht schlüssige Expertise bzw. der Verzicht auf die gebotenen
zusätzlichen Beweiserhebungen gegen das Verbot willkürlicher Beweiswürdigung
(Art. 9 BV) verstossen (BGE 142 IV 49 E. 2.1.3; 141 IV 369 E. 6.1; Urteil
6B_580/2019 vom 8. August 2019 E. 1.2.3).

1.1.3. Das Bundesgericht prüft die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung und
Beweiswürdigung nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür nach Art. 9 BV (Art. 97
Abs. 1 und Art. 105 Abs. 1 BGG; BGE 143 IV 500 E. 1.1.; 143 IV 241 E. 2.3.1; je
mit Hinweisen). Willkür liegt nach ständiger Rechtsprechung vor, wenn die
vorinstanzliche Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar ist, d.h. wenn die
Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen
Situation in klarem Widerspruch stehen oder auf einem offenkundigen Fehler
beruhen. Dass eine andere Lösung ebenfalls möglich oder gar zutreffender
erscheint, genügt nicht. Erforderlich ist, dass der Entscheid nicht nur in der
Begründung, sondern auch im Ergebnis willkürlich ist (BGE 141 IV 305 E. 1.2 mit
Hinweisen). Die Willkürrüge muss explizit vorgebracht und substantiiert
begründet werden (Art. 106 Abs. 2 BGG), andernfalls das Bundesgericht darauf
nicht eintritt (BGE 144 V 50 E. 4.2; 143 IV 500 E. 1.1; je mit Hinweisen).

1.2. Die Vorinstanz begründet ausführlich, weshalb sie eine mit Weisungen und
Bewährungshilfe verbundene ambulante Massnahme für ausreichend hält, um dem vom
Beschuldigten ausgehenden moderaten Rückfallrisiko sowie seinen eigenen
Interessen angemessen Rechnung zu tragen. Sie stützt sich dabei nachvollziehbar
auf die Ausführungen eines psychiatrischen Sachverständigen, den sie persönlich
anhört.

Demnach könne von einer weiteren Therapie nur der Erhalt des Erreichten
erwartet werden. Aus therapeutischer Sicht sei aber keine stationäre Massnahme
erforderlich. Vielmehr könne der sichernde Aspekt auch ambulant, in Form
zusätzlicher Anordnungen, erreicht werden, zumal sich aus dem bisherigen
Vollzugsverlauf und dem Verhalten des Beschuldigten bei Vollzugslockerungen auf
eine deutliche Abnahme der Rückfallgefahr schliessen lasse. Diese liege unter
Berücksichtigung des Alters des 1943 geborenen Beschuldigten sowie der
zunehmend geringeren "Verfügbarkeit" potenzieller Opfer sicher unter 50 %,
nicht aber unter 10 %. Mit Bezug auf sog. Hands-on-Delikte bestehe ferner eine
Anlaufzeit, sodass bei einmaligen Expositionen oder Risikosituationen kaum mit
erneuter Delinquenz zu rechnen sei. Die Vorkommnisse betreffend
Kinderpornografie (sog. Hands-off-Delikte von 2010 und 2016) seien keine
eigentlichen Rückfälle, sondern Rückfälle in "deliktsrelevantes" Verhalten
gewesen. Die Erwartung, dass den gewichtigen öffentlichen Sicherheitsinteressen
auch im Rahmen einer richtig ausgestalteten ambulanten Massnahme hinreichend
Rechnung getragen werden könne, erscheine im Übrigen, so die Vorinstanz, nicht
nur vor dem Hintergrund der gutachterlichen Ausführungen berechtigt. Sie sei
auch mit früheren Einschätzungen anderer Gutachter vereinbar. Wichtig seien
aber Kontroll- und Überwachungsmassnahmen, weshalb dem Beschuldigten für die
Dauer der ambulanten Massnahme mit derzeit grundsätzlich wöchentlichem
Therapieintervall eine Bewährungshilfe zu geben und ihm Weisungen zu erteilen
seien.

1.3. Die Beschwerdeführerin vermag nicht aufzuzeigen und es ist nicht
ersichtlich, dass die Vorinstanz das psychiatrische Gutachten willkürlich
gewürdigt oder das ihr bei der Wahl der anzuordnenden Massnahme bzw. einer
Verwahrung zustehende Ermessen überschritten hätte. Daraus erhellt klar, dass
der Sachverständige eine stationäre Massnahme nicht für erforderlich hält, um
dem deutlich unter 50 % liegenden Rückfallrisiko für einschlägige Straftaten
hinreichend zu begegnen. Es ist daher auch nicht zu beanstanden, wenn die
Vorinstanz zum Schluss gelangt, die Voraussetzungen für eine Verwahrung des
Beschuldigten nach Art. 64 StGB seien nicht erfüllt. Entgegen der Auffassung
der Beschwerdeführerin nimmt sie namentlich keine qualifizierte Gefahr im Sinne
von Abs. 1 lit. b der vorgenannten Bestimmung an, was sie unter Hinweis auf den
Gutachter nachvollziehbar begründet. Es kann offenbleiben, ob das Erstgericht
zu Recht "eine gerade noch ausreichende" qualifizierte Gefahr bejaht hat, bzw.
ob eine derartige Abstufung überhaupt zulässig ist. Soweit die
Beschwerdeführerin die gutachterlich und vorinstanzlich als moderat eingestufte
Rückfallgefahr als aus ihrer Sicht viel zu tief beurteilt, beschränkt sie sich
darauf, ihre eigene Sichtweise zu erörtern, was zum Nachweis von Willkür nicht
genügt (oben E. 1.1.3). Sie lässt zudem - auch mit Blick auf die
Therapierbarkeit resp. die Wahrscheinlichkeit einer Risikominderung - die
begleitenden Massnahmen ausser Acht, welchen gemäss nachvollziehbarer
Einschätzung von Gutachter und Vorinstanz ebenfalls erheblich risikomindernde
Bedeutung zukommen und unter deren Berücksichtigung eine relevante
Risikoreduktion jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann.
Schliesslich berücksichtigt die Vorinstanz unter dem Aspekt der
Verhältnismässigkeit zu Recht das Alter des mittlerweile 76-jährigen
Beschuldigten sowie, dass der über 23 Jahre dauernde Freiheitsentzug infolge
mehrheitlich stationärer Massnahmen im Verhältnis zur den diesen zugrunde
liegenden Freiheitsstrafe von 6 Jahren sehr lange erscheint. Ebenfalls zu Recht
beachtet die Vorinstanz in diesem Zusammenhang, dass die 2010 und 2016
begangenen Straftaten "nur" sog. Hands-off-Delikte betrafen und gemäss
Gutachter keine eigentlichen Rückfälle darstellten. Eine diesbezügliche
Rückfallgefahr rechtfertigt die Fortsetzung einer stationären Massnahme oder
gar die Anordnung einer Verwahrung unter Verhältnismässigkeitsgesichtspunkten
zudem klarerweise nicht, was die Beschwerdeführerin nicht darlegt. Jedenfalls
begründet dies keine Bundesrechtswidrigkeit des angefochtenen Entscheids.

1.4. Nach dem vorstehend Gesagten ist auch die vorinstanzlich angeordnete
Entlassung des Beschuldigten aus der Sicherheitshaft rechtens. Die
gegenteiligen Ausführungen der Beschwerdeführerin basieren auf einer eine
Verwahrung oder stationäre Massnahme rechtfertigenden Rückfall- bzw.
Fortsetzungsgefahr, welche die Vorinstanz nachvollziehbar verneint. Darauf ist
nicht einzugehen.

2. 

Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Ausgangsgemäss
sind keine Gerichtskosten zu erheben. Der Beschwerdegegner hat Anspruch auf
angemessene Parteientschädigung für seine Stellungnahme zur Frage der
aufschiebenden Wirkung. Sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege erweist sich
als gegenstandslos (Art. 66 Abs. 1 und 4, Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Gleiches
gilt mit Erlass des Urteils in der Sache für das Gesuch der Beschwerdeführerin
um aufschiebende Wirkung der Beschwerde respektive für das Gesuch des
Beschwerdegegners um Entzug der aufschiebenden Wirkung.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.

2. 

Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 

Der Kanton Aargau bezahlt dem Rechtsvertreter des Beschwerdegegners Fr. 500.--
Parteienschädigung.

4. 

Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird infolge Gegenstandslosigkeit
abgeschrieben.

5. 

Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 10. Dezember 2019

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: Matt