Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.1019/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

6B_1019/2019

Urteil vom 3. Oktober 2019

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Denys, Präsident,

Bundesrichter Oberholzer,

Bundesrichterin Jametti,

Gerichtsschreiberin Schär.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Michael Mráz,

Beschwerdeführer,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Vollzug (Strafaufschub); Grundsatz "ne bis in idem"; Verletzung von
Verfahrensrechten,

Beschwerde gegen den Entscheid der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 12.
Juni 2019

(AK.2019.141-AK).

Sachverhalt:

A. 

A.________ wurde durch das Bundesstrafgericht mit Entscheid vom 10. Oktober
2013 respektive vom 29. November 2013 wegen mehrfachen Betrugs, mehrfacher
ungetreuer Geschäftsbesorgung und mehrfacher Geldwäscherei zu einer unbedingten
Freiheitsstrafe von 52 Monaten und einer bedingten Geldstrafe von 285
Tagessätzen zu Fr. 42.-- verurteilt. Das Urteil wurde mit ordentlichen sowie
ausserordentlichen Rechtsmitteln angefochten und ist unterdessen in Rechtskraft
erwachsen.

Zur Verurteilung führte ein Sachverhalt mit engen Bezügen zur Tschechischen
Republik. Derselbe Sachverhalt wird nun auch dort strafrechtlich aufgearbeitet.
A.________ ist deshalb vor dem Stadtgericht von Prag ebenfalls (wieder)
angeklagt.

Der Kanton St. Gallen wurde am 31. August 2018 mit dem Vollzug der gegen
A.________ in der Schweiz ausgesprochenen Freiheitsstrafe beauftragt. Jener
wurde deshalb vom Sicherheits- und Justizdepartement am 5. September 2018 zum
Strafantritt am 22. Oktober 2018 aufgefordert. A.________ beantragte daraufhin
einen Strafaufschub bis am 1. Mai 2019. Das Sicherheits- und Justizdepartement
des Kantons St. Gallen hiess dieses Gesuch mit Verfügung vom 6. November 2018
gut und setzte den Strafantritt neu auf den 2. Mai 2019 fest.

Mit Eingabe vom 28. März 2019 beantragte A.________ beim Sicherheits- und
Justizdepartement, den Strafantritt einstweilen ganz auszusetzen, bis ein
rechtskräftiges Urteil aus der Tschechischen Republik vorliege. Dieser Antrag
wurde am 16. April 2019 abgewiesen.

B. 

A.________ erhob Beschwerde gegen den Entscheid des Sicherheits- und
Justizdepartements vom 16. April 2019. Die Anklagekammer St. Gallen wies die
Beschwerde mit Entscheid vom 12. Juni 2019 ab.

C. 

A.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, der Entscheid der
Anklagekammer vom 12. Juni 2019 sei aufzuheben und der Strafantritt einstweilen
auszusetzen, bis ein rechtskräftiges Urteil aus der Tschechischen Republik
vorliege. In prozessualer Hinsicht beantragt A.________, der Beschwerde sei die
aufschiebende Wirkung zu erteilen.

Erwägungen:

1. 

Der angefochtene Entscheid betrifft eine Frage des Strafvollzugs und kann somit
mit Beschwerde in Strafsachen angefochten werden (vgl. Art. 78 Abs. 2 lit. b
BGG).

2.

2.1. Der Beschwerdeführer begründet sein Gesuch um Strafaufschub damit, der
Strafantritt in der Schweiz würde gestützt auf den in der Bestimmung von Art.
54 des Schengener Durchführungsübereinkommens vom 19. Juni 1990 (SDÜ; Amtsblatt
der EU Nr. L 239 vom 22. September 2000 S. 19 ff.; nicht in der SR
veröffentlicht) verankerten Grundsatz "ne bis in idem" - wobei das tschechische
Recht eine gleichlautende Bestimmung kenne - bewirken, dass das gegen ihn in
der Tschechischen Republik geführte Verfahren eingestellt werden müsste. Damit
würde ihm die Möglichkeit genommen, in der Tschechischen Republik ein
günstigeres Urteil oder gar einen Freispruch zu erwirken, und gestützt darauf
die Revision des Urteils des Bundesstrafgerichts zu verlangen. Der Grundsatz
"ne bis in idem" habe somit zur Folge, dass ihm der Zugang zum Gericht in Prag
verwehrt wäre. Dies begründe einen Verstoss gegen Art. 6 Ziff. 1 EMRK, der
einen Anspruch auf einen Entscheid durch ein unabhängiges und unparteiisches
Gericht statuiere. Dasselbe ergebe sich auch aus Art. 29a BV. Weiter habe die
Abweisung seines Gesuchs um Strafaufschub eine Verletzung seiner
Verfahrensrechte im tschechischen Verfahren zur Folge, z.B. könne er sein Recht
auf persönliche Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht ausüben.

In seiner Beschwerde ans Bundesgericht macht der Beschwerdeführer geltend, die
Vorinstanz stelle primär auf die Rechtskraft des Urteils des
Bundesstrafgerichts vom 10. Oktober 2013 respektive vom 29. November 2013 ab.
Damit werde jedoch der Einzigartigkeit der vorliegenden Umstände nicht
ausreichend Rechnung getragen. Wenn ausnahmsweise die Möglichkeit bestehe, dass
über einen Fall in zwei verschiedenen Staaten befunden werde, müsse ihm diese
Möglichkeit gewährt werden. Zudem werde von der Vorinstanz weder die Verletzung
von völker- noch von bundesrechtlichen Verfahrensgarantien thematisiert. Bei
der Interessenabwägung hätte die Vorinstanz jedenfalls zum Schluss gelangen
müssen, dass die verfassungs- und bundesrechtlich gewährten Rechte das
öffentliche Interesse an der Rechtskraft des Schweizer Urteils sowie am
sofortigen Vollzug der Strafe überwiegen.

Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 29a BV, Art. 410 Abs. 1 lit.
b StPO und Art. 6 Ziff. 1 EMRK.

2.2. Die Vorinstanz zeigt zunächst die kantonalrechtlichen und
bundesrechtlichen Grundlagen des Strafaufschubs auf. Bereits das Sicherheits-
und Justizdepartement hatte festgestellt, dass gestützt darauf vorliegend kein
Strafaufschub möglich sei.

Im Weiteren geht die Vorinstanz auf die Einwände des Beschwerdeführers ein. Sie
erwägt, der Beschwerdeführer verkenne bei seinen Ausführungen die eingetretene
Rechtskraft seiner in der Schweiz erfolgten und vollstreckbaren Verurteilung.
Entscheide seien ab deren Rechtskraft unabänderlich und damit verbindlich. Dies
diene der Wahrung des Rechtsfriedens. Ein einmal ergangener Entscheid soll
nicht immer wieder erneut überprüft und abgeändert werden können, was selbst
dann gelte, wenn ein Urteil mängelbehaftet sei.

Die Argumentation des Beschwerdeführers, er wolle seine Strafsache in Prag neu
beurteilen lassen und gestützt auf diesen ausländischen Entscheid anschliessend
eine Revision seiner rechtskräftigen schweizerischen Verurteilung erwirken,
liefe im Ergebnis darauf hinaus, dass das Stadtgericht Prag faktisch zum
höchsten Schweizer Gericht würde, das die rechtskräftigen Urteile von Bundes-
und Bundesstrafgericht über ein Revisionsverfahren nachträglich noch
korrigieren könnte. Dem Beschwerdeführer würde mit einem weiteren Strafaufschub
letztlich die Möglichkeit geboten, international an mehreren Gerichtsständen
(allenfalls gar widersprechende) Entscheide zu erwirken, um sich schliesslich
(falls es überhaupt noch dazu kommen sollte) für den Vollzug des mildesten
Urteils entscheiden zu können. Aus schweizerischer Sicht bestehe für einen
Strafaufschub allerdings kein Anlass, sei der Beschwerdeführer doch in der
Schweiz verurteilt und dieses Urteil nach einer Überprüfung auf dem nationalen
Rechtsmittelweg rechtskräftig. Ebenso wenig bestehe die Notwendigkeit einer
(faktischen) Neubeurteilung der Strafsache durch ein ausländisches Gericht.
Allfällige prozessuale Nachteile des Beschwerdeführers im ausländischen
Verfahren seien entsprechend hinzunehmen.

Weiter erwägt die Vorinstanz, die vom Beschwerdeführer hypothetisch angestrebte
Revision seiner rechtskräftigen Verurteilung in der Schweiz, die aufgrund eines
künftigen, allenfalls milderen Urteils in der Tschechischen Republik möglich
werden soll, stelle ohnehin ein unvollkommenes Rechtsmittel dar, das keine
suspensive Wirkung habe. Ein allfälliges künftiges Revisionsgesuch im Falles
eines möglicherweise günstiger ausfallenden ausländischen Strafurteils vermöge
daher auch vor diesem Hintergrund keine irgendwie geartete Form von
aufschiebender Wirkung nach sich zu ziehen. Eine Revision des schweizerischen
Strafurteils bliebe im Übrigen auch dann denkbar, wenn Mitbeschuldigte in der
Tschechischen Republik der gleichen Sachverhalte wegen freigesprochen würden.
Die Einstellung des Verfahrens in Prag gegen den Beschwerdeführer würde ihm den
Weg einer Revision wohl nicht vollends verstellen.

2.3. Die vorinstanzlichen Erwägungen sind zutreffend. Art. 54 SDÜ statuiert ein
Doppelbestrafungsverbot (Grundsatz "ne bis in idem") im internationalen
Verhältnis. Gemäss der genannten Bestimmung darf, wer durch eine Vertragspartei
rechtskräftig abgeurteilt worden ist, durch eine andere Vertragspartei wegen
derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer
Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt
wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.
Der Grundsatz "ne bis in idem" verbietet nicht nur die Doppelbestrafung,
sondern schon die mehrfache Strafverfolgung. Das Vollstreckungselement des Art.
54 SDÜ dient dazu, den Schutz des "ne bis in idem"-Grundsatzes jenem zu
verweigern, der sich der Strafvollstreckung durch Flucht in einen Mitgliedstaat
entzieht (vgl. Urteil 6B_482/2017 vom 17. Mai 2017 E. 4.1 ff. mit Hinweisen).

Art. 54 SDÜ schützt die Betroffenen davor, in verschiedenen Staaten mehrmals
für dieselbe Tat bestraft zu werden. Das Gegenteil - ein Anspruch auf doppelte
Bestrafung also, um ein potentiell milderes Urteil an einem anderen
Gerichtsstand zu erwirken - kann aus der genannten Bestimmung hingegen nicht
abgeleitet werden.

Noch weniger kann der Beschwerdeführer einen Strafaufschub bezüglich des
rechtskräftigen Urteils vom 10. Oktober 2013 respektive vom 29. N ovember 2013
mit der Begründung verlangen, ein noch nicht ergangenes ausländisches Urteil in
der gleichen Sache könnte allenfalls milder ausfallen, was eine Revision im
Sinne von Art. 410 Abs. 1 lit. b StPO zur Folge haben könnte. Damit verkennt
der Beschwerdeführer, dass das Urteil des Bundesstrafgerichts in Rechtskraft
erwachsen und vollstreckbar ist. Die im Grunde in jedem Strafverfahren
bestehende theoretische Möglichkeit einer späteren Revision führt nicht zu
einem Anspruch auf Strafaufschub.

Ein Anspruch auf Strafaufschub lässt sich vorliegend sodann weder aus Art. 6
Ziff. 1 EMRK noch aus Art. 29a BV ableiten. Für die Einhaltung der in den
nationalen Erlassen sowie den völkerrechtlichen Verträgen enthaltenen
Verfahrensgarantien ist die Schweizer Justiz lediglich in den von ihr geführten
Strafverfahren verantwortlich. Gleiches gilt für die Tschechische Republik
bezüglich der von ihr geführten Verfahren. Die Teilnahme des Beschwerdeführers
am in der Tschechischen Republik hängigen Strafverfahren bzw. der Zugang zu den
tschechischen Gerichten ist somit durch die dortigen Behörden, allenfalls unter
Beschreitung des Rechtshilfewegs, sicherzustellen. Hingegen liegt es nicht in
der Verantwortung der Schweizer Behörden, die Einhaltung von EMRK-Bestimmungen
durch einen anderen Staat zu gewährleisten. Immerhin ist darauf hinzuweisen,
dass dem Beschwerdeführer bereits einmal ein Strafaufschub gewährt wurde.
Unterdessen sind im tschechischen Verfahren allerdings Verzögerungen von nicht
absehbarer Dauer eingetreten. Es ist damit nicht ersichtlich, weshalb die
Vorinstanz Überlegungen der vom Beschwerdeführer vorgetragenen Art bei der von
ihr vorgenommenen Interessenabwägung stärker gewichten bzw. überhaupt hätte
berücksichtigen sollen. Damit erübrigt sich auch eine Auseinandersetzung mit
den Ausführungen des Beschwerdeführers zur Normhierarchie und der angeblichen
Verletzung von übergeordnetem Recht. Eine solche ist nicht ersichtlich.

Auch die übrige, vom Beschwerdeführer vorgetragene Kritik am vorinstanzlichen
Entscheid, ist nicht stichhaltig. Zunächst kann der Beschwerdeführer aus dem
Einwand, es mache einen erheblichen Unterschied, ob das Verfahren in seinem
Heimatland in einer für ihn verständlichen Sprache geführt werde oder ob er wie
in dem in der Schweiz geführten Verfahren vollständig auf seinen Verteidiger
angewiesen sei, nichts für sich ableiten. Dies mag zwar aus der subjektiven
Perspektive des Beschwerdeführers zutreffen. Der entsprechende Einwand, er habe
sich zufolge mangelnder Sprachkenntnisse bzw. unzureichender Übersetzung nicht
wirkungsvoll verteidigen können, hätte er jedoch, wie von der Vorinstanz
zutreffend ausgeführt, auf dem ordentlichen Rechtsmittelweg geltend machen
müssen. Im vorliegenden Verfahren betreffend Strafaufschub kann dieser Einwand
nicht beurteilt werden.

Offenbleiben kann schliesslich, ob die mit Schreiben vom 13. Juni 2019 vor
Vorinstanz eingereichten Unterlagen (aktuelle Informationen zum Strafverfahren
in der Tschechischen Republik bzw. zu den Folgen der Inhaftierung eines
Mitbeschuldigten) unzul ässige Noven darstellen, denn inwiefern diese
Auswirkungen auf den Ausgang des vorliegenden Verfahren zeitigen könnten, ist
nicht ersichtlich. Dass die Vorinstanz das erst nach dem Datum des
vorinstanzlichen Entscheids eingereichte Schreiben vom 13. Juni 2019 der
Vollständigkeit halber in der Prozessgeschichte erwähnt, lässt sodann nicht,
wie vom Beschwerdeführer behauptet, darauf schliessen, dass die Vorinstanz das
Entscheiddatum willkürlich auf den 12. Juni 2019 festgesetzt hat. Auf diesen
Vorwurf des Beschwerdeführers ist nicht weiter einzugehen.

Zusammengefasst hat die Vorinstanz weder Bundesrecht noch Völkerrecht
missachtet. Die Beschwerde erweist sich als unbegründet.

3. 

Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Der
Beschwerdeführer wird ausgangsgemäss kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Mit
dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung
gegenstandslos.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 

Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 

Dieses Urteil wird den Parteien und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. Oktober 2019

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Die Gerichtsschreiberin: Schär