Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.1016/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

6B_1016/2019

Urteil vom 17. März 2020

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Denys, Präsident,

Bundesrichterinnen van de Graaf, Koch,

Gerichtsschreiber Held.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Berufungsverfahren; Verfahrensrechte, Strafzumessung (Nötigung; grobe
Verletzung von Verkehrsregeln),

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des

Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 4. Juli 2019 (SST.2017.295 / lc /
ca).

Erwägungen:

1. 

Das Bezirksgericht Bremgarten verurteilte den Beschwerdeführer am 25. April
2017 wegen mehrfachen Betrugs, mehrfacher Nötigung und grober Verletzung der
Verkehrsregeln zu einer bedingten Geldstrafe von 230 Tagessätzen zu Fr. 60.-
und einer Busse von Fr. 3'450.- respektive 58 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe im
Falle schuldhafter Nichtbezahlung der Busse.

Hiergegen erhob der Beschwerdeführer Berufung und verlangte die Durchführung
einer mündlichen Berufungsverhandlung. Diese fand am 26. November 2018 statt.
Nachdem die Vorinstanz den Beschwerdeführer befragt hatte, unterbrach sie die
Berufungsverhandlung, da die Sache mangels Einvernhame der trotz
ordnungsgemässer Vorladung (unentschuldigt) nicht erschienenen Zeugin
B.________ nicht spruchreif sei. Die für den 18. März 2019 angesetzte
(Fortsetzung der) Hauptverhandlung wurde abgesagt. Die Zeugin teilte der
Vorinstanz in der Folgezeit schriftlich mit, aufgrund eines längeren
beruflichen Auslandsaufenthaltes in London nicht vor Gericht zu erscheinen und
ersuchte darum, "die Rücktretung meiner [ihrer] Zeugenaussage" zu akzeptieren.
Die Vorinstanz könne die "Anklage zurückziehen und das Verfahren schliessen".

Der Verfügung der Vorinstanz vom 17. Mai 2019, innert fünf Tagen seine
aktuellen Einkommensverhältnisse mitzuteilen, kam der Beschwerdeführer nicht
nach. Mit schriftlich eröffnetem Entscheid vom 4. Juli 2019 verurteilte die
Vorinstanz den Beschwerdeführer in Übereinstimmung mit den erstinstanzlichen
Schuldsprüchen zu einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu Fr. 80.-
sowie zu einer Busse von Fr. 2'500.- respektive einer Ersatzfreiheitsstrafe von
32 Tagen im Falle schuldhafter Nichtbezahlung der Busse.

2. 

Der Beschwerdeführer beantragt mit Beschwerde in Strafsachen sinngemäss, die
Schuldsprüche wegen mehrfacher Nötigung und grober Verletzung von
Verkehrsregeln seien aufzuheben und er sei wegen mehrfachen Betrugs zu einer
bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu bestrafen. Eventualiter sei die
Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er rügt eine
Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und eine offensichtlich
unrichtige Sachverhaltsfeststellung. Nach der Befragung der Zeugin im
erstinstanzlichen Verfahren hätten sich diverse Unklarheiten ergeben, die nicht
geklärt worden seien. Nachdem die Zeugin ihre Aussage zurückgezogen habe und
daneben keine weiteren Beweise vorlägen, sei der Sachverhalt nicht erstellt.
Die Vorinstanz verletze seinen Anspruch auf rechtliches Gehör, da sie ihn nicht
über die Eingaben der Zeugin informiert habe und auf diese auch im Urteil nicht
eingehe. Sollte ein Freispruch durch das Bundesgericht nicht möglich sein, sei
die Sache zur Heilung der Verfahrensfehler an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Die Vorinstanz lässt sich vernehmen, stellt jedoch keinen Antrag. Die
Beschwerdegegnerin verzichtet auf eine Stellungnahme.

3.

3.1. Die Rügen erweisen sich als begründet. Der angefochtene Entscheid
verstösst in mehrfacher Hinsicht gegen Bundesrecht. Die Vorinstanz konnte
vorliegend nach Eröffnung der Berufungsverhandlung nicht formlos und ohne
Einverständnis des Beschwerdeführers in das schriftliche Verfahren wechseln.
Das Berufungsverfahren ist nach der gesetzlichen Konzeption grundsätzlich
mündlich (vgl. zuletzt: 6B_606/2018 vom 12. Juli 2019 mit Hinweisen) und der
Beschwerdeführer hat ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen
Berufungsverhandlung beantragt. Auch hätte eine schriftliche
Verfahrensfortführung und -beendigung, nachdem das Verfahren zuvor mündlich
war, erfordert, dem Beschwerdeführer zur Wahrung des rechtlichen Gehörs die
Eingaben der Zeugin an die Vorinstanz zur Kenntnis zu bringen und zu diesen
Stellung nehmen zu lassen. Die Begründung der Tat- und Rechtsstandpunkte
erfolgt im mündlichen Berufungsverfahren in Form der Parteivorträge erst nach
Abschluss des Beweisverfahrens (vgl. Art. 346 i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO).
Dieses war zum Zeitpunkt der Unterbrechung der Berufungsverhandlung vom 26.
November 2018 jedoch nicht abgeschlossen. Der Beschwerdeführer hatte weder die
Möglichkeit sich dazu zu äussern, ob und inwieweit die "Rücktretung meiner
[ihrer] Zeugenaussage" und das Einverständnis der Zeugin, "die Anklage
zurückzuziehen und das Verfahren zu schliessen", für die Beurteilung der von
ihr zuvor gemachten Aussagen von Relevanz sind, noch konnte er vor Abschluss
des Beweisverfahrens allenfalls erforderliche weitere Beweisanträge stellen
(vgl. Art. 345 i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO; 6B_389/2019 vom 28. Oktober 2019 E.
2.2.2; 1B_35/2018 vom 30. August 2018 E. 3.2). Mit dem unangekündigten Wechsel
ins schriftliche Verfahren verletzt die Vorinstanz das Recht des
Beschwerdeführers auf das letzte Wort (Art. 347 Abs. 1 StPO) und übersieht, das
die schriftliche Urteilsverkündung vorliegend nur mit dessen Einverständnis
möglich gewesen wäre (Art. 83 Abs. 3 StPO).

Der angefochtene Entscheid genügt auch nicht den gesetzlichen
Begründungsanforderungen. Der Beschwerdeführer rügt zutreffend, dass die
Vorinstanz im angefochtenen Urteil nicht darlegt, warum sie die Sache entgegen
ihrer ursprünglichen Einschätzung ohne persönliche Einvernahme der Zeugin im
Nachhinein als spruchreif erachtet. Dies ist auch nicht ersichtlich. Es wurden
keine weiteren Beweise erhoben, die zum Nachweis des Anklagesachverhalts
geeignet wären und die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Widersprüche in
den Aussagen der Zeugin beseitigen. Die im Nachgang zur Hauptverhandlung vom
10. Dezember 2018 unternommenen Versuche, die Zeugin persönlich einzuvernehmen,
belegen, dass die Vorinstanz eine Befragung für erforderlich hielt. Dass die
Zeugin ihre privaten Belange höher gewichtete als ihre Zeugnispflicht,
rechtfertigt vorliegend weder aus tatsächlichen noch rechtlichen Gründen (ohne
Begründung), auf deren Einvernahme zu verzichten. Der Untersuchungsgrundsatz
gilt auch uneingeschränkt im Rechtsmittelverfahren (vgl. Art. 6, 343 Abs. 3
i.V. Art. 405 Abs. 1 StPO; BGE 144 I 234 E. 5.6.2; 143 IV 214 E. 5.4). Zudem
war die Zeugin während ihres einjährigen Auslandsaufenthalts wiederholt in der
Schweiz und hätte demnach - allenfalls mittels Vorführung - einvernommen werden
können (vgl. Art. 205 Abs. 1, Art. 207 Abs. 1 StPO). Eine rechtshilfeweise
Befragung per Videokonferenz oder mittels schriftlicher Berichte hat die
Vorinstanz nicht geprüft (vgl. Art. 55 Abs. 2, Art. 144, Art. 145 und Art. 148
StPO).

3.2. Unabhängig davon, welchen Sachverhalt die Vorinstanz nach prozessual
ordnungsgemässer Durchführung und Beendigung des Berufungsverfahrens (vgl. Art.
2 Abs. 2 StPO) für erstellt hält, ist darauf hinzuweisen, dass ein Schuldspruch
wegen Nötigung nicht damit begründet werden kann, der Beschwerdeführer habe die
Zeugin an ihrer ursprünglich geplanten Fahrt gehindert und diese veranlasst,
auf den Parkplatz eines Schnellrestaurants abzubiegen, indem er in ihr Fahrzeug
hineingefasst habe (ohne die Zeugin zu berühren). Zum einen erscheint bereits
fraglich, inwieweit das Verhalten eine (konkludente) Androhung ernstlicher
Nachteile darstellen soll, und zum anderen übersieht die Vorinstanz, dass sich
die Zeugin bereits auf der Abbiegespur eingeordnet hatte, als der
Beschwerdeführer in das Auto gefasst hat, mithin der Taterfolg vor der
Tathandlung eingetreten war.

4. 

Die Beschwerde ist im Verfahren gemäss Art. 109 BGG gutzuheissen. Es sind keine
Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der anwaltlich nicht vertretene
Beschwerdeführer macht keine Auslagen geltend, weshalb er nicht zu entschädigen
ist (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau vom 4. Juli 2019 aufgehoben und die Sache zu neuer Beurteilung an die
Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 

Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 

Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 17. März 2020

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: Held