Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.911/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

5A_911/2019

Urteil vom 28. Januar 2020

II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Herrmann, Präsident,

Bundesrichter von Werdt, Schöbi,

Gerichtsschreiberin Scheiwiller.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Adriano Marti,

Beschwerdeführerin,

gegen

Obergericht des Kantons Thurgau,

Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde U.________.

Gegenstand

Rechtsverweigerung/-verzögerung (Zwangsmedikation)

Sachverhalt:

A.

A.a. A.________ leidet unter einer schizoaffektiven Störung und wurde seit 2009
mehrfach fürsorgerisch untergebracht. Am 15. Mai 2019 verlängerte die Kindes-
und Erwachsenenschutzbehörde U.________ (KESB) die ursprünglich am 19. Dezember
2017 angeordnete fürsorgerische Unterbringung ein weiteres mal um weitere sechs
Monate (d.h. bis 15. November 2019). Damals war vorgesehen, dass die Betroffene
baldmöglichst von der Akutstation der Psychiatrischen Klinik V.________ in eine
betreute Wohnform wechseln sollte.

A.b. Am 9. August 2019 ordnete die ärztliche Leitung des Bereichs
Akutpsychiatrie der Psychiatrischen Klinik V.________ für A.________
medizinische Massnahmen bei fehlender Zustimmung zum Behandlungsplan im Rahmen
einer fürsorgerischen Unterbringung an. Dagegen erhob die Betroffene am 21.
August 2019 Beschwerde. Die KESB liess ein Gutachten für die Behandlung ohne
Zustimmung erstellen. Dieses ging am 27. August 2019 bei der KESB ein, und am
28. August 2019 hörte eine Delegation der KESB die Betroffene an. Mit Entscheid
vom 6. September 2019 wies die KESB die Beschwerde gegen die Behandlung ohne
Zustimmung ab. Sie ordnete an, dass die Behandlung ohne Zustimmung bis zum
Übertritt in ein betreutes Wohnen bzw. bis zur Überprüfung der fürsorgerischen
Unterbringung per 15. November 2019 weitergeführt werde.

B.

B.a. Dagegen erhob A.________ am 19. September 2019 Beschwerde beim Obergericht
des Kantons Thurgau. Dieses wies in einem ersten Schritt das Gesuch um
Erteilung der aufschiebenden Wirkung ab, kündigte indes am 10. Oktober 2019 an,
beim Gutachter ein Ergänzungsgutachten einholen zu wollen, und erteilte den
Gutachterauftrag schliesslich am 4. November 2019.

B.b. Bereits am 26. September 2019 trat A.________ in das Wohnheim B.________
der Stiftung C.________ in V.________ über.

B.c. Mit Entscheid vom 14. November 2019 hob die KESB die fürsorgerische
Unterbringung schliesslich formell auf.

C. 

Am 11. November 2019 wendet sich A.________ (Beschwerdeführerin) an das
Bundesgericht. In Ihrer Rechtsschrift wirft sie dem Obergericht
Rechtsverweigerung bzw. Rechtsverzögerung vor und beantragt, das Obergericht
sei anzuweisen, unverzüglich, d.h. innert maximal drei Arbeitstagen über die
Beschwerde vom 19. September 2019 zu entscheiden und es sei festzustellen, dass
die in Art. 5 Ziff. 4 EMRK garantierte Prüfung innert kurzer Frist durch das
Obergericht verletzt worden sei. Vorfrageweise sei im Übrigen festzustellen,
dass die KESB kein Gericht im Sinn von Art. 6 Ziff. 1 EMRK sei. Schliesslich
ersucht die Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung.

Am 15. November 2019 teilt das Obergericht mit, die Befristung der
Zwangsbehandlung sei inzwischen eingetreten, womit das Beschwerdeverfahren
abzuschreiben sei; ausserdem nahm es inhaltlich kurz Stellung. Die
Beschwerdeführerin hat am 3. Dezember 2019 ihre Beschwerde ergänzt und am 17.
Dezember 2019 zu den Ausführungen des Obergerichts Stellung genommen.
Schliesslich reichte sie am 27. Dezember 2019 Unterlagen im Zusammenhang mit
ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege nach.

Erwägungen:

1. 

Gemäss Art. 94 BGG kann gegen das unrechtmässige Verweigern oder Verzögern
eines anfechtbaren Entscheids Beschwerde geführt werden. Die
Rechtsverweigerungs- oder -verzögerungsbeschwerde ist keine eigene
Beschwerdeart. Vielmehr ist darauf abzustellen, zu welchem Rechtsgebiet der
Entscheid gehört, der angeblich verweigert oder ungebührlich verzögert wird
(Urteil 5A_393/2012 vom 13. August 2012 E. 1.2). In der Sache geht es um die
Verzögerung eines Entscheids in einem Streit um eine Behandlung ohne Zustimmung
und damit um eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit auf dem Gebiet des
Kindes- und Erwachsenenschutzes. Gegen den Entscheid, wäre er gefällt worden,
stünde die Beschwerde in Zivilsachen offen (Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 6 BGG);
damit ist diese auch das zutreffende Rechtsmittel für die
Rechtsverzögerungsbeschwerde.

2. 

Im Verfahren vor Bundesgericht dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nur so
weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt
(Art. 99 Abs. 1 BGG). Diese Einschränkung gilt indes nicht für neue Tatsachen,
welche die Sachurteilsvoraussetzungen im Verfahren vor dem Bundesgericht
betreffen. Dieses berücksichtigt Noven, wenn sie einen Einfluss auf die
Beschwerdelegitimation haben (Urteil 5A_115/2009 vom 24. Juli 2009 E. 2) oder
zur Gegenstandslosigkeit der Beschwerde führen (BGE 137 III 614 E. 3.2.1). In
diesem Sinne sind das Schreiben des Obergerichts vom 15. November 2019 und der
Entscheid der KESB vom 14. November 2019 (vgl. Sachverhalt Bst. b.c) im
vorliegenden Verfahren beachtlich.

3.

3.1. Die Beschwerdeführerin muss ein aktuelles und praktisches Interesse an der
Behandlung der Rechtsverzögerungsbeschwerde haben (Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG).
Nach der Rechtsprechung fehlt es an einem aktuellen Rechtsschutzinteresse, wenn
in der Zwischenzeit der angeblich verzögerte Entscheid ergangen ist (BGE 125 V
373 E. 1). Dasselbe gilt, wenn der angeblich verzögerte Entscheid
gegenstandslos geworden ist. Ist das aktuelle Interesse schon bei Einreichung
der Beschwerde nicht gegeben, tritt das Bundesgericht auf die Beschwerde nicht
ein (BGE 136 III 497 E. 2.1).

3.2. Mit dem Wechsel von der Psychiatrischen Klinik V.________ in die
Wohngemeinschaft am 26. September 2019 (vgl. Sachverhalt Bst. B.b) endete
anordnungsgemäss auch die Behandlung ohne Zustimmung (vgl. Sachverhalt Bst.
A.b). Aus dem Entscheid der KESB vom 14. November 2019 geht im Übrigen hervor,
dass die Beschwerdeführerin ihren Widerstand gegen die medikamentöse Behandlung
zu einem nicht näher bekannten, jedenfalls aber vor dem 26. September 2019
liegenden Zeitpunkt aufgegeben und eingesehen hatte, dass die verordneten
Medikamente zur Verbesserung ihres Zustandes geführt haben, was letztlich auch
Voraussetzung für den Wechsel in das begleitete Wohnen war. Damit wurde die
Beschwerde an das Obergericht vom 19. September 2019 spätestens am 26.
September 2019gegenstandslos. Folglich hatte die Beschwerdeführerin im
Zeitpunkt der Beschwerdeführung an das Bundesgericht am 11. November 2019kein
aktuelles Interesse mehr, einen sofortigen Beschwerdeentscheid des Obergerichts
zu erwirken. Auf die Beschwerde ist, soweit die Anweisung an das Obergericht
verlangt wird, unverzüglich bzw. innert maximal drei Arbeitstagen über die
Beschwerde vom 19. September 2019 zu entscheiden, mangels genügenden
Rechtsschutzinteresses nicht einzutreten.

4.

4.1. Unter Umständen behandelt das Bundesgericht eine Beschwerde auch bei
fehlendem aktuellen Interesse trotzdem. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der
Beschwerdeführer hinreichend substanziiert und in vertretbarer Weise eine
Verletzung der EMRK behauptet ("grief défendable"; Urteil 5A_339/2016 vom 27.
Januar 2017 E. 1.2, mit Hinweisen). Ob die Voraussetzungen für die Behandlung
des Begehrens um Feststellung, dass die in Art. 5 Ziff. 4 EMRK garantierte
gerichtliche Prüfung innert kurzer Frist durch das Verhalten der Vorinstanz
verletzt wurde, trotz fehlenden aktuellen Interesses erfüllt sind, braucht
vorliegend nicht vertieft geprüft zu werden, denn auf die Beschwerde kann aus
den nachfolgend dargelegten Gründen nicht eingetreten werden.

4.2. Die Beschwerdeführerin macht die Verletzung von Art. 5 Ziff. 4 EMRK und
damit eines Grundrechts geltend. Hierfür gilt das strenge Rügeprinzip (Art. 106
Abs. 2 BGG). Das bedeutet, dass das Bundesgericht nur klar und detailliert
erhobene und soweit möglich belegte Rügen prüft. Die Beschwerdeführerin hat die
angeblich verletzte Norm zu nennen und den Inhalt der verletzten Norm bzw. die
daraus fliessenden Ansprüche zu beschreiben. Sodann hat sie aufzuzeigen,
weshalb im konkreten Fall dieses Recht bzw. der Anspruch verletzt worden sein
soll.

Um ihrer Begründungspflicht nachzukommen, müsste die Beschwerdeführerin
namentlich erklären, weshalb die Garantie des Anspruchs auf gerichtliche
Überprüfung "innerhalb von kurzer Zeit" entgegen der Rechtsprechung des EGMR
(vgl. mutatis mutandis Kovácik gegen Slowakei, Nr. 50903/06, vom 29. November
2011 § 77: "The Court considers that the requirement of speediness is therefore
relevant, from that perspective, while that person's detention lasts (...).
While the guarantee of speediness is no longer relevant for the primary purpose
of Article 5 § 4 after the person's release, the guarantee of efficiency of the
review should continue to apply even thereafter (...).") überhaupt noch
besteht, nachdem die Behandlung ohne Zustimmung im Zeitpunkt der
Beschwerdeführung längst beendet war. Dazu äussert sich die Beschwerdeführerin
nicht.

Dass Art. 5 Ziff. 4 EMRK verletzt wurde, indem das Obergericht nicht bis am 26.
September 2019, d.h. innert fünf Arbeitstagen nach Eingang der Beschwerde
entschieden hat, behauptet die Beschwerdeführerin zu Recht nicht.

Auf die ungenügend begründete Rüge tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 134
II 244 E. 2.2; 133 II 396 E. 3.2).

4.3. Soweit die Beschwerdeführerin weiterhin die Rechtmässigkeit der Anordnung
der medizinischen Behandlung ohne Zustimmung überprüft haben will, steht ihr
der Rechtsweg nach Art. 454 ZGB offen.

4.4. Bei diesem Ergebnis wird der Antrag der Beschwerdeführerin, es sei
vorfrageweise festzustellen, dass die KESB U.________ kein Gericht im Sinn von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK darstellt und die mit dem Entscheid befassten Mitglieder
der KESB nicht unabhängig und neutral sind, gegenstandslos. Im Übrigen hat das
Bundesgericht die von der Beschwerdeführerin aufgeworfene Frage bereits in dem
sie persönlich betreffenden BGE 142 III 732 beantwortet. Indem sie sich darauf
beschränkt, ihre bisherigen Argumente zu wiederholen, trägt sie nichts vor, was
das Bundesgericht zur Änderung seiner Rechtsprechung veranlassen könnte. Allein
der Umstand, dass die Beschwerdeführerin gegen den besagten Entscheid den EGMR
angerufen hat, ist nicht geeignet, die im erwähnten Entscheid gezogene
Schlussfolgerung (wonach die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde des Kantons
Thurgau ein Gericht im Sinn von Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 und Art. 5
Ziff. 4 EMRK ist) in Zweifel zu ziehen.

5. 

Aus den dargelegten Gründen ist auf die Beschwerde nicht einzutreten. Damit
wird die Beschwerdeführerin kosten- (Art. 66 Abs. 1 BGG), nicht hingegen
entschädigungspflichtig (Art. 68 Abs. 3 BGG). Wie die vorstehenden Erwägungen
zeigen, konnte der Beschwerde von Anfang an kein Erfolg beschieden sein;
zufolge Aussichtslosigkeit ist das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

2. 

Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
wird abgewiesen.

3. 

Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

4. 

Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Kindes- und
Erwachsenenschutzbehörde U.________ und dem Obergericht des Kantons Thurgau
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 28. Januar 2020

Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Herrmann

Die Gerichtsschreiberin: Scheiwiller