Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.662/2019
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

5A_662/2019

Urteil vom 25. September 2019

II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Herrmann, Präsident,

Bundesrichter von Werdt, Schöbi,

Gerichtsschreiberin Scheiwiller.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

vertreten durch Rechtsanwalt Roger Burges,

Beschwerdeführerin,

gegen

Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde B.________.

Gegenstand

Anordnung ambulanter Massnahmen,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern, Kindes- und
Erwachsenenschutzgericht, vom 30. Juli 2019 (KES 19 452, KES 19 468).

Sachverhalt:

A.

A.a. A.________ leidet unter einer seit 1998 chronisch rezidivierend
auftretenden paranoiden schizophrenen Psychose (ICD-10 F.20.0). Aufgrund ihrer
psychischen Erkrankung wurde sie mehrfach fürsorgerisch untergebracht. Mit
ärztlicher Verfügung vom 26. April 2019 wurde A.________ wegen einer
psychischen Störung in die Privatklinik C.________ eingewiesen.

A.b. Am 1. Mai 2019 ordnete die KESB B.________ (nachfolgend KESB) eine
psychiatrische Begutachtung der Betroffenen an. Die Ärzte PD Dr. med.
D.________ und E.________ haben am 31. Mai 2019 ihr Gutachten erstattet. Sie
empfahlen die Anordnung von ambulanten Massnahmen, sofern eine antipsychotische
Medikation sichergestellt werden könne. Weil A.________ die Teilnahme an einer
förmlichen Anhörung ablehnte, besuchte sie das instruierende Behördenmitglied
in der Privatklinik C.________. Mit Entscheid vom 13. Juni 2019 ordnete die
KESB als ambulante Massnahme die regelmässige Behandlung durch die Hausärztin
Dr. F.________ zwecks Verabreichung einer Depotmedikation (z.B. Abilify
Maintena) an.

A.c. Am 6. Juni 2019 wurde A.________ aus der Privatklinik C.________
entlassen.

B. 

Gegen diesen Entscheid wandten sich A.________ am 15. Juni 2019 persönlich und
am 19. Juni 2019 auch der von ihr mandatierte Anwalt an das Kindes- und
Erwachsenenschutzgericht des Obergerichts des Kantons Bern. Sie beantragten, es
sei von der angeordneten ambulanten Massnahme abzusehen. Das Obergericht wies
die Beschwerde ab (Entscheid vom 30. Juli 2019).

C. 

Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 26. August 2019 (Postaufgabe) wendet sich
A.________ (Beschwerdeführerin) an das Bundesgericht. Sie beantragt, den
angefochtenen Entscheid aufzuheben und von einer zwangsweisen ambulanten
Behandlung abzusehen; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Ausserdem ersucht sie um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung.

Das Bundesgericht hat die kantonalen Akten eingeholt. Auf Einladung hin haben
sich die KESB am 12. September 2019 und das Obergericht am 16. September 2019
zur Frage der Zustellung der Akten an die Beschwerdeführerin bzw. deren Anwalt
geäussert.

Erwägungen:

1. 

Angefochten ist der Endentscheid eines oberen kantonalen Gerichts als
Rechtsmittelinstanz (Art. 75 Abs. 1 und 2, Art. 90 BGG). Er beschlägt die
gestützt auf Art. 437 Abs. 2 ZGB nach Entlassung aus der fürsorgerischen
Unterbringung erlassenen ambulanten Massnahmen und damit einen
öffentlich-rechtlichen Entscheid in unmittelbarem Zusammenhang mit dem
Zivilrecht (Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 6 BGG; Urteil 5A_386/2016 vom 27.
Oktober 2016 E. 2). Die Beschwerdeführerin erfüllt die
Legitimationsvoraussetzungen von Art. 76 Abs. 1 BGG. Auf die fristgerecht (Art.
100 Abs. 1 BGG) erhobene Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten.

2.

2.1. Die Beschwerdeführerin beanstandet zunächst, das Obergericht habe ohne die
explizit beantragte Parteiverhandlung und ohne das explizit beantragte
Gutachten entschieden. In rechtlicher Hinsicht führt sie an, was
verfahrensrechtlich für die fürsorgerische Unterbringung gelte, müsse "wohl"
auch für die sog. ambulanten Massnahmen gelten. Deshalb müsse die
Beschwerdeinstanz die betroffene Person anhören (Art. 450e Abs. 4 ZGB) und
könne jene bei psychischen Störungen nur gestützt auf das Gutachten einer
sachverständigen Person entscheiden (Art. 450e Abs. 3 ZGB).

2.2. Die medizinische Behandlung von einer unter einer psychischen Störung
leidenden Person, die deswegen fürsorgerisch untergebracht wird, ist in Art.
433 ff. ZGB geregelt. Bei derartigen Massnahmen handelt es sich um solche des
Bundesrechts. Für die Nachbehandlung nach der Entlassung aus der
fürsorgerischen Unterbringung sind die Kantone zuständig (Art. 437 Abs. 1 ZGB).
Dabei können sie namentlich ambulante Massnahmen vorsehen (Art. 437 Abs. 2
ZGB). Bei derartigen Massnahmen handelt es sich nicht um solche des
Bundesrechts, sondern des kantonalen Rechts (BGE 142 III 795 E. 2.2). Der
angefochtene Entscheid stützt sich denn auch auf Art. 33 Abs. 1 lit. d des
kantonalbernischen Gesetzes vom 1. Februar 2012 über den Kindes- und
Erwachsenenschutz (KESG; BSG 213.316) und damit auf kantonales Recht.

2.3. Die Beschwerdeführerin bezieht sich zur Untermauerung ihrer Argumentation
auf Art. 450e ZGB. Diese Bestimmung enthält besondere Regeln für das
Beschwerdeverfahren gegen einen Entscheid auf dem Gebiet der fürsorgerischen
Unterbringung. Erfasst werden damit die Unterbringungs- und
Entlassungsentscheide nach Art. 426 und Art. 428 ZGB sowie Entscheide über
Massnahmen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit nach Art. 438 ZGB (THOMAS
Geiser, in: Basler Kommentar ZGB, 6. Aufl., N. 8 zu Art. 450e ZGB). Vorliegend
dreht sich der Streit gerade nicht um einen Entscheid auf dem Gebiet der
fürsorgerischen Unterbringung, sondern um einen Entscheid über eine ambulante
medizinische Massnahme im Sinn von Art. 437 Abs. 2 ZGB. Damit war Art. 450e ZGB
im vorinstanzlichen Verfahren nicht anwendbar. Dass sich die Pflicht der
Rechtsmittelinstanz, die Beschwerdeführerin persönlich anzuhören und nur
gestützt auf ein Gutachten zu entscheiden, aus einer anderen gesetzlichen
Bestimmung ergäbe, behauptet die Beschwerdeführerin nicht. Ebenso wenig macht
sie geltend, unter den gegebenen Umständen wäre entscheidend gewesen, dass das
Gericht einen persönlichen Eindruck über die Beschwerdeführerin gewinnen konnte
(vgl. BGE 142 I 188 E. 3.3). Damit erweist sich die Beschwerde mit Bezug auf
die beiden eingangs erwähnten Vorhalte als unbegründet.

3. 

Sodann macht die Beschwerdeführerin geltend, das Obergericht habe ihr entgegen
ihrem expliziten Antrag keine Akten ausgehändigt, insbesondere nicht das
Gutachten der Privatklinik C.________ vom 31. Mai 2019, und damit ihren
Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.

3.1. In tatsächlicher Hinsicht trifft zu, dass der Anwalt der
Beschwerdeführerin in seiner Eingabe vom 19. Juni 2019 ausdrücklich um
Zustellung der Akten erbeten hat. Ebenso trifft zu, dass das Obergericht dem
Anwalt die Akten nicht zugestellt hat.

3.2. Nach Art. 449b Abs. 1 ZGB haben die am Verfahren beteiligten Personen
Anspruch auf Akteneinsicht, soweit nicht überwiegende Interessen
entgegenstehen. Diese Bestimmung gilt selbstredend auch für das gerichtliche
Beschwerdeverfahren. Dass die Beschwerdeführerin (bzw. deren Anwalt) Anspruch
auf Akteneinsicht hatte, ist zu Recht unbestritten. Das Recht auf Akteneinsicht
ist ein Teilgehalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV; BGE
144 II 427 E. 3.1). Das Akteneinsichtsrecht bezieht sich grundsätzlich auf
sämtliche Akten eines Verfahrens, die für dieses erstellt oder beigezogen
wurden, ohne dass ein besonderes Interesse geltend gemacht werden müsste und
unabhängig davon, ob aus Sicht der Behörde die fraglichen Akten für den Ausgang
des Verfahrens bedeutsam sind (BGE a.a.O., E. 3.1.1). Die unterlassene
Zustellung der erbetenen Akten verletzt mithin das rechtliche Gehör der
Beschwerdeführerin.

3.3. Worauf das Obergericht allerdings zutreffend hinweist, haben alle an einem
gerichtlichen Verfahren beteiligten Personen, auch der Private im Verkehr mit
den Behörden, nach Treu und Glauben zu handeln (Art. 5 Abs. 3 BV; vgl. auch den
im vorliegenden Verfahren gestützt auf Art. 450f ZGB zumindest subsidiär
anwendbaren Art. 52 ZPO). Sie sind daher gehalten, verfahrensrechtliche
Einwendungen so früh wie möglich vorzubringen, mithin bei erster Gelegenheit
nach Kenntnisnahme des Mangels. Ansonsten können sie diese nicht mehr erheben
(BGE 143 V 66 E. 4.3; 140 I 271 E. 8.4.3; 135 III 334 E. 2.2). Dies gilt auch
für die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. BGE 138
III 97 E. 3.3.2; Urteile 5A_75/2018 vom 18. Dezember 2018 E. 2.3; 1C_114/2016
vom 9. Juni 2016 E. 2.1; 5A_121/2013 vom 2. Juli 2013 E. 4.2).

Das Obergericht hat dem Anwalt der Beschwerdeführerin eine Kopie der an die
KESB gerichteten Einladung zu einer Vernehmlassung am 24. Juni 2019 zugestellt.
Ebenso erhielt dieser mit Post vom 26. Juni 2019 eine Kopie der Vernehmlassung
der KESB vom 25. Juni 2019. Selbst wenn das Obergericht keinen zweiten
Schriftenwechsel anordnete, wusste der Anwalt der Beschwerdeführerin, dass er
sich zur Vernehmlassung äussern durfte (sog. Replikrecht; vgl. BGE 138 I 154 E.
2.3.3; 138 III 252 E. 2.2; 137 I 195 E. 2.3.1; 133 I 100 E. 4.3-4.7; 133 I 98
E. 2.2). Spätestens nach der Zustellung der Stellungnahme der KESB hätte der
Anwalt der Beschwerdeführerin ausreichend Anlass und bis zum Ergehen des
Entscheids am 30. Juli 2019 auch genügend Zeit und Gelegenheit gehabt, die
unterlassene Zustellung der Akten abzumahnen, zumal es nicht so recht
einsichtig ist, wie er sich ohne Aktenkenntnis hätte vernünftig äussern können.

3.4. Hingegen ist zu beachten, dass der angefochtene Entscheid in Anwendung
öffentlichen Rechts erging und die Beschwerdeführerin dem Staat gegenübersteht.
Rechtsprechungsgemäss ist unter solchen Umständen für die Annahme treuwidrigen
Verhaltens - insbesondere wenn es, wie hier, aus passivem Verhalten abgeleitet
wird - Zurückhaltung angebracht (BGE 143 V 66 E. 4.3). Ausserdem - und hier von
besonderer Bedeutung - greift die streitgegenständliche Massnahme wesentlich in
die körperliche Integrität und damit in die (Persönlichkeits-) Rechte der
Beschwerdeführerin ein (Art. 10 Abs. 2 BV; vgl. BGE 130 I 16 E. 3; 126 I 112 E.
3b). In solchen Situationen drängt sich seitens der Behörden eine besondere
Vorsicht im Umgang mit den (prozessualen) Rechten der betroffenen Partei auf
(vgl. Ausführungen zur Interessenabwägung THOMAS GÄCHTER, Rechtsmissbrauch im
öffentlichen Recht, 2005, S. 203 f.). In Abwägung der hier auf dem Spiel
stehenden Interessen kann der Beschwerdeführerin kein treuwidriges Verhalten
vorgeworfen werden, so dass sie mit ihrer Gehörsrüge zu hören ist.

3.5. Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (E. 3.2 oben) führt
ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der
Beschwerde. Namentlich kommt es nicht darauf an, ob die Gewährung des
Akteneinsichtsrechts im konkreten Fall für den Ausgang der materiellen
Streitentscheidung von Bedeutung ist (vgl. Urteil 4A_453/2016 vom 16. Februar
2017 E. 4.2.2 mit Hinweisen).

4.

4.1. Aus den dargelegten Gründen ist die Beschwerde gutzuheissen und die Sache
zur Gewährung des rechtlichen Gehörs und zu neuem Entscheid an das Obergericht
zurückzuweisen. Mit diesem Rückweisungsentscheid befindet sich das Verfahren
wieder im oberinstanzlichen Instruktionsstadium. Nachdem die KESB einer
allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung entzogen, das Obergericht
diese nicht wiederhergestellt und die Beschwerdeführerin im bundesgerichtlichen
Verfahren nicht um aufschiebende Wirkung ersucht hat, ist die von der KESB
angeordnete ambulante Massnahme weiterhin vollstreckbar.

4.2. Auf die Erhebung von Gerichtskosten ist zu verzichten (Art. 66 Abs. 4
BGG). Hingegen hat der Kanton Bern die Beschwerdeführerin bzw. deren Anwalt zu
entschädigen (Art. 68 Abs. 1 BGG). Damit wird das Gesuch der Beschwerdeführerin
um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Obergerichts des Kantons
Bern, Kindes- und Erwachsenenschutzgericht, vom 30. Juli 2019 wird aufgehoben.
Die Angelegenheit wird zur Gewährung des rechtlichen Gehörs und neuem Entscheid
an das Obergericht zurückgewiesen.

2. 

Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird als gegenstandslos
abgeschrieben.

3. 

Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4. 

Der Kanton Bern hat Rechtsanwalt Roger Burges mit Fr. 1'000.-- zu entschädigen.

5. 

Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Kindes- und
Erwachsenenschutzbehörde B.________ und dem Obergericht des Kantons Bern,
Kindes- und Erwachsenenschutzgericht, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 25. September 2019

Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Herrmann

Die Gerichtsschreiberin: Scheiwiller