Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.936/2019
Zurück zum Index II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2019
Retour à l'indice II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2019


TypeError: undefined is not a function (evaluating '_paq.toString().includes
("trackSiteSearch")') https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/
index.php?highlight_docid=aza%3A%2F%2Faza://22-11-2019-2C_936-2019&lang=de&zoom
=&type=show_document:1840 in global code 
 

Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

2C_936/2019

Urteil vom 22. November 2019

II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Seiler, Präsident,

Bundesrichter Stadelmann,

Bundesrichterin Hänni,

Gerichtsschreiber Businger.

Verfahrensbeteiligte

A.________,

Beschwerdeführer,

vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Rudolf Bak,

gegen

Migrationsamt des Kantons Zürich,

Bezirksgericht Zürich, Zwangsmassnahmengericht.

Gegenstand

Fortsetzung Ausschaffungshaft,

Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich, 1.
Abteilung, Einzelrichter,

vom 11. Oktober 2019 (VB.2019.00621).

Erwägungen:

1.

1.1. A.________ ist Staatsangehöriger von Afghanistan. Er reiste am 9. Juni
2016 in die Schweiz ein und ersuchte erfolglos um Asyl. Das
Bundesverwaltungsgericht bestätigte den Vollzug der Wegweisung mit Urteil vom
18. Juli 2018. In der Folge wurde A.________ in Ausschaffungshaft genommen. Das
Zwangsmassnahmengericht des Bezirksgerichts Zürich bestätigte die Fortsetzung
der Ausschaffungshaft am 11. September 2019 und bewilligte die Haft bis zum 18.
Dezember 2019. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Zürich am 11. Oktober 2019 ab.

1.2. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 7. November
2019 beantragt A.________ dem Bundesgericht, er sei umgehend aus der Haft zu
entlassen. Zudem sei seine vorläufige Aufnahme zu beantragen, ein Vollzugsstopp
für die Dauer des bundesgerichtlichen Verfahrens anzuordnen und ihm die
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren. Das Bundesgericht
hat keine Instruktionsmassnahmen verfügt. Mit dem vorliegenden Entscheid in der
Sache wird das Gesuch um Erlass vorsorglicher Massnahmen gegenstandslos.

2.

Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten steht gegen kantonal
letztinstanzliche Entscheide betreffend ausländerrechtliche Haft zur Verfügung
(Art. 82 lit. a, Art. 83 e contrario, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 sowie
Art. 90 BGG; vgl. BGE 142 I 135 E. 1.1.3 S. 139 f. mit Hinweisen).
Streitgegenstand vor Bundesgericht ist dabei ausschliesslich die
Rechtmässigkeit der Haft. Soweit der Beschwerdeführer beantragt, es sei seine
vorläufige Aufnahme zu beantragen, kann auf die Beschwerde nicht eingetreten
werden.

3.

3.1. Im Haftverfahren ist grundsätzlich nicht über den Vollzug der Wegweisung
zu entscheiden; hierfür sind die Asyl- und Ausländerbehörden zuständig. Weil
die Haft aber beendet wird, wenn der Wegweisungsvollzug aus rechtlichen oder
tatsächlichen Gründen undurchführbar ist (Art. 80 Abs. 6 lit. a AIG [SR
142.20]), müssen Vollzugshindernisse vorfrageweise geprüft werden (BGE 127 II
168 E. 2c S. 172). Als rechtliche Vollzugshindernisse kommen dabei die
Unzulässigkeit des Vollzugs (Art. 3 EMRK, Art. 25 Abs. 3 BV sowie Art. 83 Abs.
3 AIG) sowie die Unzumutbarkeit des Vollzugs (Art. 83 Abs. 4 AIG) infrage. Das
Haftgericht ist bei Vollzugsfragen an den Entscheid der zuständigen Sachbehörde
gebunden, sofern dieser nicht offensichtlich unrichtig ist (BGE 125 II 217 E. 2
S. 220 f.). Dies gilt insbesondere für im Asylverfahren ergangene
Wegweisungsentscheide der hierfür eingesetzten Fachbehörden (BGE 128 II 193 E.
2.2.2 S. 198). Das Gericht muss eine nachträgliche Änderung der Sachlage
berücksichtigen, doch obliegt es primär den Fachbehörden, über den Vollzug -
allen-falls im Rahmen eines Revisions- bzw. Wiedererwägungsgesuchs - zu
befinden (Urteil 2C_445/2007 vom 30. Oktober 2007 E. 4.2 f.).

3.2. Der Beschwerdeführer erachtet eine Rückkehr nach Kabul aufgrund der dort
herrschenden Lage als unzulässig.

3.2.1. Das Verwaltungsgericht hat erwogen, dass sowohl im Wegweisungsentscheid
wie auch im Beschwerdeentscheid des Bundesverwaltungsgerichts eingehend die
Zulässigkeit des Wegweisungsvoll-zugs bezogen auf die konkrete Situation des
Beschwerdeführers geprüft worden sei. Der Entscheid wirke nicht offensichtlich
unrichtig. In den zahlreichen Hinweisen des Beschwerdeführers auf die Situation
in Afghanistan bzw. Kabul seien keine massgeblichen neuen Sachumstände zu
erblicken. Es sei nicht ersichtlich, dass sich die Situation tatsächlich anders
präsentiere als im Zeitpunkt des Wegweisungs- bzw. Beschwerdeentscheids. Der
vom Beschwerdeführer vorgelegte Bericht belege keine massive Zuspitzung,
sondern eine Stagnation der zivilen Opfer auf sehr hohem Niveau (vgl. E. 4.3
des angefochtenen Urteils).

3.2.2. Der Beschwerdeführer bringt dagegen zusammengefasst vor, dass sich die
Sicherheitslage in Kabul massiv verschlechtert habe. Seit Ende 2017 würden
gezielte Anschläge stattfinden. Dabei seien die zivilen Opfer stark
angestiegen. Es sei eine Zunahme an Entführungen, Raubüberfällen und
Drogenkriminalität festzustellen. Zudem fehle es an infrastrukturellen
Kapazitäten und an einer hinreichenden Versorgung. Es sei von einer generellen
Unzulässigkeit von Rückführungen nach Kabul auszugehen. Das
Bundesverwaltungs-gericht habe bei der Wegweisung des Beschwerdeführers die
Ver-schlechterung der Sicherheitslage und der humanitären Situation nicht
berücksichtigt.

3.2.3. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich im Urteil D-5800/2016 vom 13.
Oktober 2017 eingehend mit der Lage in Afghanistan befasst. Dabei hat es
zahlreiche Quellen ausgewertet (vgl. die Auflistung in E. 6.3.2) und sich
detailliert mit den Anschlägen dort auseinandergesetzt (E. 8.2.2). Es hat
erwogen, dass die Sicherheitslage in Kabul äusserst prekär sei (E. 8.2.3), eine
Mehrheit der Bevölkerung in Siedlungen lebe, die einen schlechten oder keinen
Zugang zur grundlegenden Infrastruktur (Strom, Trinkwasser etc.) hätten (E.
8.3.1), die Gesundheitsversorgung mangelhaft sei (E. 8.3.2) und der starke
Bevölkerungszuwachs die bestehenden Probleme weiter verschärfe (E. 8.3.3). Die
Sicherheitslage wie auch die humanitäre Situation habe sich klar verschlechtert
und die Lage in Kabul sei grundsätzlich als existenzbedrohend und deshalb
unzumutbar zu qualifizieren. Nur beim Vorliegen besonders günstiger
Voraussetzungen könne von der Zumut-barkeit des Vollzugs ausgegangen werden (E.
8.4).

3.2.4. Im Wegweisungsverfahren des Beschwerdeführers hat das
Bundesverwaltungsgericht auf diese Rechtsprechung Bezug genommen (vgl. Urteil
des Bundesverwaltungsgerichts D-3318/2018 vom 18. Juli 2018). Es hat erwogen,
dass es keine Hinweise gebe, wonach dem Beschwerdeführer bei der Rückkehr nach
Afghanistan Folter oder eine unmenschliche Behandlung drohe; der Vollzug der
Wegweisung sei deshalb zulässig (E. 4.2). Weiter hat es besonders begünstigende
Umstände beim Beschwerdeführer bejaht und den Vollzug nach Kabul trotz der
prekären Lage auch als zumutbar erachtet (E. 4.3). Der Vorwurf, das
Bundesverwaltungsgericht habe die Situation in Kabul im Urteilszeitpunkt
verkannt, ist durch nichts belegt. Der vorher zitierte Leitentscheid des
Gerichts war im Juli 2018 erst neun Monate alt, und das
Bundesverwaltungsgericht hat keinen Anlass gesehen, darauf zu-rückzukommen. Mit
dem blossen Hinweis, dass sich die Situation seit Ende 2017 verschlechtert
habe, ist die offensichtliche Unrichtigkeit der Beurteilung durch das
Bundesverwaltungsgericht nicht dargetan.

3.2.5. Auch die vom Beschwerdeführer detailliert dargelegte Entwicklung seit
dem Beschwerdeentscheid führt nicht dazu, dass die Beurteilung des
Bundesverwaltungsgerichts aus heutiger Sicht als offensichtlich überholt
qualifiziert werden müsste. Was die Zulässigkeit des Vollzugs betrifft, so hat
das Bundesgericht in einem neueren Ent-scheid betreffend Afghanistan bzw. Kabul
erwogen, dass die Rückkehr in eine Situation, die in einem Staat allgemein
üblich sei, ohne Hin-weise auf eine konkrete Gefährdung der Einzelperson
grundsätzlich nicht gegen Art. 3 EMRK verstosse (vgl. Urteil 2C_915/2017 vom
24. November 2017 E. 5.2 f.).

Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht in einem aktuellen
Urteil davon aus, dass Rückführungen nach Afghanistan aufgrund der dort
herrschenden Lage nicht generell unzulässig seien (Urteil des EGMR A.A. gegen
die Schweiz vom 5. November 2019 [Nr. 32218/17], Rz. 46). Betreffend die
Zumutbarkeit des Vollzugs ist unbestritten, dass die Lage in Kabul kritisch und
instabil ist. Wie erwähnt hat das Bundesverwaltungsgericht die prekäre
Sicherheitslage und die schlechte humanitäre Situation im damaligen
Grundsatz-urteil berücksichtigt und ist davon ausgegangen, dass der Vollzug
nach Kabul grundsätzlich unzumutbar ist, wenn nicht besondere Verhältnisse
vorliegen. An dieser Rechtsprechung hält es nach wie vor fest (Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts E-4365/2018 vom 21. Oktober 2019 E. 7.2).

Dies ist auch dem Beschwerdeführer bekannt. Er hat davon abgesehen, ein
Wiedererwägungs- bzw. Revisionsgesuch bei den zuständigen Behörden einzureichen
(vgl. S. 22 f. Ziff. 67 der Beschwerde). Vor diesem Hintergrund ist die
Vorinstanz zu Recht davon ausgegangen, dass die in der Beschwerde vorgebrachte
Verschlechterung der Sicherheitslage (z.B. Anstieg der zivilen Opfer um 5 % im
Jahr 2018; vgl. S. 6 Ziff. 12 der Beschwerde) und die nach wie vor prekäre
humanitäre Situation nicht genügen, um den Vollzug der Wegweisung als
offensichtlich unzulässig oder unzumutbar erscheinen zu lassen.

3.3. Der Beschwerdeführer bringt weiter vor, dass die Rückkehr nach Kabul
aufgrund seiner individuellen Umstände unzumutbar sei. Seine Familie sei nicht
mehr wohlhabend und er könne auf keine finanzielle Unterstützung zählen.

3.3.1. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen, der Beschwerdeführer sei ein
junger und gesunder Mann. Es könne ihm zugemutet werden, sich in Kabul eine
neue Existenz aufzubauen. Er verfüge über eine mehrjährige Schulbildung,
Auslanderfahrung und Berufser-fahrung. Er stamme aus äusserst wohlhabenden
Verhältnissen und könne auf die finanzielle Unterstützung seiner Familie
zählen. Seine Familie besitze Liegenschaften und über siebzig
Verkaufsgeschäfte. Neben dem Vermögen entspreche bereits das Einkommen seiner
Familie einem Vielfachen des Durchschnittseinkommens in Afghani-stan. Der
Beschwerdeführer kehre in keinen ihm unbekannten Kultur-kreis zurück, sondern
in sein Heimatland, in dem er den grössten Teil seines Lebens verbracht habe
(Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-3318/2018 vom 18. Juli 2018 E. 4.3.5).

3.3.2. Der Beschwerdeführer stellt diese Ausführungen nicht substanziiert
infrage, wie die Vorinstanz zu Recht erwogen hat. Angesichts der weitreichenden
Mitwirkungspflichten im asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren (Art. 8 AsylG
[SR 142.31] bzw. Art. 90 AIG) und vor dem Hintergrund des rechtskräftigen
Wegweisungsentscheids kann sich der Beschwerdeführer nicht darauf beschränken,
lediglich pauschal einen veränderten Sachverhalt zu behaupten. Der Vorwurf in
der Beschwerde, der strikte Beweis für die nicht mehr vorhandenen
Finanzressourcen sei nicht möglich, geht an der Sache vorbei. Aus den
Ausführungen des Beschwerdeführers ist nicht ersichtlich, weshalb die Familie
ihre Liegenschaften und zahlreichen Verkaufsgeschäfte innerhalb von knapp
eineinhalb Jahren verloren haben soll. Der Tod des Vaters alleine vermag dies
nicht zu erklären. Auch fehlen jegliche Belege für diese Behauptung. Ist somit
nach wie vor davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in Kabul auf
finanzielle Mittel zurückgreifen kann, relativiert dies auch die unklare Wohn-
und Arbeitssituation. Eine massgebliche Änderung des Sachverhalts ist deshalb
offensichtlich nicht glaubhaft gemacht.

3.4. Zusammenfassend ist das Verwaltungsgericht unter Berücksichtigung der
beschränkten Kognition des Haftgerichts (vgl. vorne E. 3.1) zu Recht davon
ausgegangen, dass der Durchführbarkeit des Wegweisungsvollzugs keine
rechtlichen Hindernisse entgegenstehen. Nachdem die übrigen Haftvoraussetzungen
nicht bestritten werden, ist die Beschwerde im vereinfachten Verfahren als
offensichtlich unbegründet abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann
(Art. 109 Abs. 2 lit. a und Abs. 3 BGG).

4. 

Es rechtfertigt sich, auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten (Art.
66 Abs. 1 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird damit
gegenstandslos. Das Gesuch um unent-geltliche Verbeiständung ist wegen
Aussichtslosigkeit abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG e contrario).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.

2. 

Das Gesuch um Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsbeistands wird abgewiesen.

3. 

Es werden keine Kosten erhoben.

4. 

Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des
Kantons Zürich, 1. Abteilung, Einzelrichter, und dem Staatssekre-tariat für
Migration schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 22. November 2019

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Seiler

Der Gerichtsschreiber: Businger