Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.655/2019
Zurück zum Index II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2019
Retour à l'indice II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2019


 

Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

2C_655/2019

Urteil vom 26. Juli 2019

II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Seiler, Präsident,

Bundesrichter Zünd,

Bundesrichter Donzallaz,

Gerichtsschreiberin Mayhall.

Verfahrensbeteiligte

A.________, zzt. in Ausschaffungshaft im Flughafengefängnis, Postfach 141, 8058
Zürich,

Beschwerdeführer,

gegen

Migrationsamt des Kantons Zürich,

Berninastrasse 45, 8090 Zürich,

Bezirksgericht Zürich,

Zwangsmassnahmengericht,

Postfach, 8036 Zürich.

Gegenstand

Bestätigung Ausschaffungshaft,

Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich,
Einzelrichterin,

vom 4. Juli 2019 (VB.2019.00370).

Sachverhalt:

A. 

A.________ (Jahrgang 1961) ist libanesischer Staatsangehöriger. Am 1. September
2003 verfügte das Bundesamt für Zuwanderung, Integration und Auswanderung
(IMES; mittlerweile Staatssekretariat für Migration [SEM]) gegen A.________ ein
unbefristetes Einreiseverbot. Nach eigenen Angaben reiste A.________ am 14.
April 2019 von Frankreich kommend in die Schweiz ein. Mit Verfügung vom 30.
April 2019 wies das Migrationsamt des Kantons Zürich A.________ aus der Schweiz
weg und ordnete an, er sei in Anwendung von Art. 76 Abs. 1 des Bundesgesetzes
vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die
Integration (AIG; SR 142.20) in Ausschaffungshaft zu nehmen. Gleichentags
beantragte das kantonale Migrationsamt beim Zwangsmassnahmengericht des
Bezirksgerichts Zürich, seine Haftanordnung sei zu bestätigen und die Haft sei
bis am 28. Juli 2019 zu bewilligen. Mit Entscheid vom 2. Mai 2019 bestätigte
das Zwangsmassnahmengericht die Ausschaffungshaft und bewilligte sie
antragsgemäss bis zum 28. Juli 2019.

B. 

Die Einzelrichterin am Verwaltungsgericht des Kantons Zürich wies die von
A.________ gegen den Entscheid vom 2. Mai 2019 am 31. Mai 2019 aufgegebene
Beschwerde mit Urteil vom 4. Juli 2019 ab.

C. 

Mit Eingabe vom 7. Juli 2019, aufgegeben am 9. Juli 2019, gelangt A.________ an
das Bundesgericht.

Das kantonale Migrationsamt und das Zwangsmassnahmengericht des Bezirksgerichts
Zürich verzichten auf eine Vernehmlassung. Das SEM beantragt Abweisung der
Beschwerde.

Erwägungen:

1.

1.1. Die fristgerecht (Art. 100 Abs. 1 BGG) eingereichte Eingabe richtet sich
gegen ein kantonal letztinstanzliches (Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG) Endurteil
(Art. 90 BGG) eines oberen Gerichts (Art. 86 Abs. 2 BGG), mit dem die
Ausschaffungshaft des Beschwerdeführers bestätigt wurde. Die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, die nicht unter den Ausschlussgrund von
Art. 83 lit. c Ziff. 4 BGG fällt (BGE 142 I 135 E. 1.1.3 S. 139 f., mit
Hinweisen), ist zulässig. Der Beschwerdeführer, der am vorinstanzlichen
Verfahren teilgenommen hat und mit seinen Anträgen unterlegen ist, ist zur
Beschwerde berechtigt (Art. 89 Abs. 1 BGG). Die Eingabe, mit welcher sich der
Beschwerdeführer in einer Amtssprache gegen seine Inhaftierung wendet und
sinngemäss seine Entlassung zwecks Rückkehr nach Frankreich beantragt (Art. 42
Abs. 1 BGG), ist als Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
entgegen zu nehmen und darauf ist einzutreten.

1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann
namentlich die Verletzung von Bundes- und Völkerrecht gerügt werden (Art. 95
lit. a und lit. b BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an
(Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen
Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Vorbringen, sofern allfällige weitere rechtliche Mängel nicht
geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S. 280 f. mit Hinweis). Die
Verletzung von Grundrechten untersucht das Bundesgericht in jedem Fall nur
insoweit, als eine solche Rüge in der Beschwerde präzise vorgebracht und
begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 142 I 135 E. 1.5 S. 144; 139 II
404 E. 3 S. 415). Von den tatsächlichen Grundlagen des vorinstanzlichen Urteils
weicht das Bundesgericht nur ab, wenn diese offensichtlich unrichtig sind oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen und die Behebung
des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1,
Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 142 I 135 E. 1.5 S. 145 f.; 140 III 16 E. 1.3.1 S. 17
f.).

2.

2.1. Die für den Vollzug der Weg- oder Ausweisung zuständige Behörde kann nach
Art. 76 Abs. 1 AIG, wenn ein erstinstanzlicher Weg- oder Ausweisungsentscheid
eröffnet oder eine erstinstanzliche strafrechtliche Landesverweisung (vgl. Art.
66a f. StGB [SR 311.0]) ausgesprochen wurde, zur Sicherstellung des Vollzugs
die Ausschaffungshaft anordnen, sofern ein Haftgrund (Art. 76 Abs. 2 lit. b
AIG) vorliegt. Die Vorinstanz stützte die Inhaftierung des Beschwerdeführers
auf Art. 76 Abs. 1 lit. b Ziff. 1 AIG in Verbindung mit Art. 75 Abs. 1 lit. c
AIG, wonach ein Haftgrund vorliegt, wenn trotz Einreiseverbot das Gebiet der
Schweiz betreten wird und die ausländische Person nicht sofort weggewiesen
werden kann. Diesen Haftgrund habe der Beschwerdeführer, der mit einem
unbefristeten Einreiseverbot belegt sei, bei seiner dagegen verstossenden
Einreise ohne gültige Reisepapiere erfüllt.

2.2. Im Zuge der Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes wurde Art. 67 AIG
am 18. Juni 2010 geändert (AS 2010 5925; in Kraft seit 1. Januar 2011) (JÖRGER
ANDREAS/PATRICK SUTTER, Einreiseverbot nach Art. 67 AuG: Konkretisierungen auf
dem Weg zu einer verhältnismässigen Praxis, in: Sicherheit und Recht 2/2013, S.
82, unter Verweis auf die Botschaft vom 18. November 2009 über die Genehmigung
und die Umsetzung des Notenaustauschs zwischen der Schweiz und der EG
betreffend die Übernahme der EG-Rückführungsrichtlinie [Richtlinie 2008/115/EG]
[Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands] und über eine Änderung des
Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer [Automatisierte
Grenzkontrolle, Dokumentenberaterinnen und Dokumentenberater,
Informationssystem MIDES]). Nach Art. 67 Abs. 2 lit. a AIG kann ein
Einreiseverbot verfügt werden gegenüber Ausländern, die gegen die öffentliche
Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland verstossen haben oder
diese gefährden. Das Einreiseverbot wird für eine Dauer von höchstens fünf
Jahren verfügt. Es kann für eine längere Dauer verfügt werden, wenn die
betroffene Person eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und
Ordnung darstellt (Art. 67 Abs. 3 AIG). Liegt eine Gefahr für die öffentliche
Sicherheit und Ordnung im Sinne von Art. 67 Abs. 3 Satz 2 AIG vor, ist ein
Einreiseverbot für eine Dauer von mehr als fünf Jahren zulässig, unabhängig
davon, ob sich der Betroffene auf Art. 5 Anhang I des Abkommens vom 21. Juni
1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der
Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die
Freizügigkeit (FZA; SR 0.142.112.681) berufen kann oder nicht (BGE 139 II 121
E. 6.2 S. 129 f.; Urteile 2C_365/2018 vom 1. April 2019 E. 5.1.1; 2C_270/2015
vom 6. August 2015 E. 4.1; MARC SPESCHA/ANTONIA KERLAND/PETER BOLZLI, Handbuch
zum Migrationsrecht, 3. Aufl. 2015, S. 303 f.).

2.3. Aus der Begründung, welche der Verfügung des IMES vom 1. September 2003 zu
Grunde liegt, geht hervor, dass das Verhalten des Beschwerdeführers zu Klagen
Anlass gegeben hatte (strafrechtliche Verurteilungen in der Schweiz und im
Ausland), weshalb er aus polizeipräventiven Gründen als unerwünschter Ausländer
mit einem sofortig gültigen, unbefristeten Einreiseverbot belegt wurde.

2.3.1. Nach der bei der Auslegung von Art. 67 Abs. 3 AIG, welcher den Inhalt
von Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den
Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger
(ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008 S. 98 ff.) übernommen hat, zu
berücksichtigenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) (BGE
139 II 121 E. 6.2 S. 130; HANSJÖRG SEILER, Einfluss des europäischen Rechts und
der europäischen Rechtsprechung auf die schweizerische Rechtspflege, ZBJV 150/
2014 S. 298), beurteilt sich die Aufrechterhaltung der Wirkung von vor
Inkrafttreten dieser Richtlinie ausgesprochenen Einreiseverboten ab dem
Zeitpunkt, in dem der Betroffene das Territorium tatsächlich verlassen hat, und
unter Einbezug des vor Inkrafttreten der Richtlinie abgelaufenen Zeitraums
(Urteile EuGH C-225/16 vom 26. Juli 2017 [ Ouhrami], N. 33 ff., C-297/12 vom
19. September 2013 [ Filev und Osmani], N. 40 ff.). Art. 67 Abs. 3 AIG
verbietet somit, die Wirkung unbefristeter Einreiseverbote, die vor dem
Inkrafttreten der Richtlinie verhängt wurden, über die (ab dem Zeitpunkt des
Verlassens des Territoriums einsetzende) Höchstdauer des Verbots von fünf
Jahren aufrechtzuerhalten, es sei denn, diese Verbote wurden gegen
Drittstaatsangehörige ausgesprochen, die eine schwerwiegende Gefahr für die
öffentliche Ordnung, die öffentliche oder die nationale Sicherheit darstellen
(zit. Urteil Filev und Osmani, N. 40 ff.; zit. Urteil Ouhrami, N. 58). Ob eine
solche Gefährdung vorliegt, beurteilt sich jeweils anhand des Einzelfalles,
wobei insbesondere Gefährdungen besonders hochwertiger Rechtsgüter (Leben,
körperliche oder sexuelle Integrität, Gesundheit), vorangegangene
terroristische Akte, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder organisierte
Kriminalität ein Überschreiten der Regelhöchstdauer von fünf Jahren zu
rechtfertigen vermögen (BGE 139 II 121 E. 6.3 S. 130 f.; Urteile 2C_832/2015
vom 22. Dezember 2015 E. 5 f.; 2C_270/2015 vom 6. August 2015 E. 7; 2C_387/2017
vom 29. Mai 2018 E. 6; SPESCHA/KERLAND/BOLZLI, a.a.O., S. 304).

2.3.2. Dem Auszug aus dem Schweizerischen Strafregister lässt sich entnehmen,
dass der Beschwerdeführer mit Urteil des Tribunal pénal de la Sarine et
Ministère public vom 11. Juni 2003 wegen Betrugs, Urkundenfälschung und
Erschleichens einer falschen Beurkundung zu einer Gefängnisstrafe von 15
Monaten und einem Landesverweis von sieben Jahren verurteilt worden ist. Nach
eigenen Angaben hat der Beschwerdeführer die Schweiz unmittelbar nach Erhalt
des als unbefristet verfügten Einreiseverbots vom 1. September 2003 verlassen
(zur Qualifikation des Einreiseverbots als Fernhaltemassnahme zur Abwendung
einer künftigen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung SPESCHA/KERLAND
/BOLZLI, a.a.O., S. 301). Die Gefahr für die öffentliche Ordnung, die
öffentliche oder die nationale Sicherheit, welche vom Beschwerdeführer gemäss
der Aktenlage ausgeht, vermag im Lichte der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
zu Art. 67 Abs. 3 AIG (oben, E. 2.3.1) kein über die Höchstgrenze von fünf
Jahren, dessen Zeitlauf vorliegend im September 2003 einsetzte, hinausgehendes
Einreiseverbot zu rechtfertigen. Anlässlich der Einreise des Beschwerdeführers
im April 2019 in die Schweiz waren somit sowohl die strafrechtliche
Landesverweisung von sieben Jahren wie auch die Fernhaltemassnahme in Form des
unbefristet ausgesprochenen Einreiseverbots in ihrer Wirkung aufgehoben,
weshalb der Haftgrund von Art. 76 Abs. 1 lit. b Ziff. 1 AIG in Verbindung mit
Art. 75 Abs. 1 lit. c AIG offensichtlich nicht vorliegt. Die Beschwerde erweist
sich als begründet, das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der
Beschwerdeführer ist unverzüglich aus der Haft zu entlassen.

3. 

Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs.
1 und Abs. 4 BGG). Die Vorinstanz wird die Kosten- und Entschädigungsfolgen neu
verlegen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 

Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts des
Kantons Zürich vom 4. Juli 2019 wird aufgehoben. Der Beschwerdeführer ist
unverzüglich aus der Haft zu entlassen.

2. 

Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 

Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des
Kantons Zürich, Einzelrichterin, und dem Staatssekretariat für Migration
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 26. Juli 2019

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Seiler

Die Gerichtsschreiberin: Mayhall