Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 835/2017
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_835/2017  
 
 
Urteil vom 13. August 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber R. Widmer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Zimmermann, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
17. Oktober 2017 (VBE.2017.382). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1957 geborene A.________, von Beruf Schreiner, nach einer von der
Invalidenversicherung übernommenen Umschulung als Büroangestellter AVOR bei der
B.________ GmbH tätig, bezog wegen der Folgen von Rückenbeschwerden von Juli
1998 bis April 1999 eine halbe Invalidenrente. Ab 1. Mai 1999 sprach ihm die
IV-Stelle des Kantons Aargau eine ganze Invalidenrente zu, die in der Folge in
mehreren Revisionsverfahren bestätigt wurde. Im Rahmen eines erneuten, im
Dezember 2012 eingeleiteten Revisionsverfahrens holte die IV-Stelle eine
bidisziplinäre Expertise des Medizinischen Gutachtenszentrums Region St. Gallen
GmbH, Rorschach (MGSG), vom 27. August 2013 ein, worauf sie die Invalidenrente
mit Verfügung vom 24. Oktober 2014 wiedererwägungsweise aufhob. In Gutheissung
der hiegegen eingereichten Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau die Verfügung vom 24. Oktober 2014 auf und wies die Sache zur Vornahme
weiterer Abklärungen und neuer Verfügung an die Verwaltung zurück (Entscheid
vom 7. Mai 2015). Nach Beizug eines psychiatrischen Gutachtens des Dr. med.
C.________ vom 5. Dezember 2016 sowie gestützt auf eine Stellungnahme des
Regionalen Ärztlichen Dienstes vom 20. Dezember 2016 hielt die IV-Stelle mit
Verfügung vom 21. März 2017 an der wiedererwägungsweise erfolgten Aufhebung der
Invalidenrente per 30. November 2014 fest. 
 
B.   
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher A.________ die Aufhebung der
Verfügung vom 21. März 2017 und die weitere Gewährung einer ganzen
Invalidenrente, eventuell die Vornahme zusätzlicher Abklärungen, hatte
beantragen lassen, wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit
Entscheid vom 17. Oktober 2017 ab. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ das
vorinstanzlich gestellte Hauptbegehren im Umfange der Zusprechung einer
"IV-Rente" erneuern; eventuell sei die Sache zu weiteren Abklärungen an das
kantonale Gericht zurückzuweisen. 
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann eine Beschwerde aus
anderen als den geltend gemachten rechtlichen Gründen abweisen oder gutheissen
(Art. 106 Abs. 1 BGG; statt vieler Urteil 9C_720/2007 vom 28.4.2008 E. 4 a.A.
mit Hinweis auf BGE 132 II 47 E. 1.3 S. 50). 
 
2.   
Gemäss Art. 53 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 IVG kann
der Versicherungsträger auf formell rechtskräftige Verfügungen oder
Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und
wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Die Wiedererwägung dient
der Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung einschliesslich
unrichtiger Feststellung im Sinne der Würdigung des Sachverhalts. 
Das Erfordernis der zweifellosen Unrichtigkeit ist in der Regel erfüllt, wenn
eine Leistungszusprache aufgrund falsch oder unzutreffend verstandener
Rechtsregeln erfolgt ist oder wenn massgebliche Bestimmungen nicht oder
unrichtig angewandt wurden. Anders verhält es sich, wenn der
Wiedererwägungsgrund im Bereich materieller Anspruchsvoraussetzungen liegt,
deren Beurteilung notwendigerweise Ermessenszüge aufweist. Erscheint die
Beurteilung einzelner Schritte bei der Feststellung solcher
Anspruchsvoraussetzungen (Invaliditätsbemessung, Arbeitsunfähigkeitsschätzung,
Beweiswürdigung, Zumutbarkeitsfragen) vor dem Hintergrund der Sach- und
Rechtslage, wie sie sich im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung
darbot, als vertretbar, scheidet die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus.
Zweifellos ist die Unrichtigkeit, wenn kein vernünftiger Zweifel daran möglich
ist, dass die Verfügung unrichtig war. Es ist nur ein einziger Schluss -
derjenige auf die Unrichtigkeit der Verfügung - denkbar (SVR 2010 IV Nr. 5 S.
10, 8C_1012/2008; Urteile 9C_215/2015 vom 10. Juni 2015, 9C_135/2014 vom 14.
Mai 2014, 9C_629/2013 vom 13. Dezember 2013, 9C_339/2010 vom 30. November 2010
E. 3, 9C_760/2010 vom 17. November 2010 E. 2 und 9C_575/2007 vom 18. Oktober
2007 mit Hinweisen). 
Um wiedererwägungsweise auf eine verfügte Leistung zurückkommen zu können,
genügt es nicht, wenn ein einzelnes Anspruchselement rechtswidrig festgelegt
wurde. Vielmehr hat sich die Leistungszusprache auch im Ergebnis als
offensichtlich unrichtig zu erweisen. So muss etwa, damit eine zugesprochene
Rente wegen einer unkorrekten Invaliditätsbemessung wiedererwägungsweise
aufgehoben werden kann, nach damaliger Sach- und Rechtslage erstellt sein, dass
eine korrekte Invaliditätsbemessung hinsichtlich des Leistungsanspruchs zu
einem andern Ergebnis geführt hätte (BGE 140 V 77 E. 3.1 S. 79). 
 
3.   
 
3.1. Die IV-Stelle hat die Invalidenrente, welche der Beschwerdeführer laut
Verfügungen vom 5. Januar 1999 und 14. März 2000 seit Juli 1998 (halbe Rente)
und seit 1. Mai 1999 (ganze Invalidenrente) bezogen hatte, mit Verfügung vom
21. März 2017 rückwirkend auf den 30. November 2014 wiedererwägungsweise
aufgehoben. Die hiegegen eingereichte Beschwerde hat die Vorinstanz nicht unter
dem Gesichtswinkel einer Wiedererwägung beurteilt. Sie hat den
Invalidenrentenanspruch vielmehr analog einem erstmals gestellten Rentengesuch
geprüft und gestützt auf ein von der IV-Stelle in Nachachtung ihres
Rückweisungsentscheides eingeholtes psychiatrisches Gutachten des Dr. med.
C.________ vom 5. Dezember 2016 den Anspruch auf eine Invalidenrente verneint.
 
 
3.2. Die Vorinstanz hätte die angefochtene Verfügung kraft Rechtsanwendung von
Amtes wegen unter dem Titel der Wiedererwägung überprüfen müssen. Die
Rentenaufhebung aufgrund einer Wiedererwägung bildete Anfechtungs- und
Streitgegenstand des kantonalen Beschwerdeverfahrens. Deren Voraussetzungen
wurden von der IV-Stelle als erfüllt betrachtet, und die Invalidenrente wurde
aus diesem Grund aufgehoben. Im Rahmen der Rechtsanwendung von Amtes wegen
gemäss Art. 106 Abs. 1 BGG ist diese Prüfung nunmehr vom Bundesgericht
vorzunehmen, auch wenn der Versicherte sich in der Begründung der Beschwerde
nicht auf Art. 53 Abs. 2 ATSG stützt.  
 
3.3. Der Verfügung vom 14. März 2000, mit der die IV-Stelle dem
Beschwerdeführer ab 1. Mai 1999 eine ganze Invalidenrente gewährt hatte, lagen
in medizinischer Hinsicht mehrere Berichte des Dr. med. D.________, FMH
Orthopädische Chirurgie, u.a. vom 2. März, 29. September und 30. November 1999
zugrunde. Danach litt der Versicherte an chronisch rezidivierender
Lumboischialgie beidseits bei Diskopathie L4/L5. Ein operativer Eingriff
(Teilfixation mittels Fixateur externe L4/L5 am 24. Februar 1999) zeigte laut
Austrittsbericht des Dr. med. D.________ (vom 2. März 1999) keinen Erfolg,
worauf der Fixateur externe am 3. März 1999 wieder entfernt wurde. Die
IV-Stelle ging bei der Ermittlung des Invaliditätsgrades in der Folge von einer
Arbeitsfähigkeit von 25 % (halbtätige Arbeit mit halber Leistung) aus, wie sie
Dr. med. D.________ als zumutbar beschrieben hatte.  
Im Vergleich dazu lassen sich der Expertise des MGSG Medizinisches
Gutachtenzentrum Region St. Gallen GmbH, Rorschach, vom 27. August 2013 laut
dem Orthopäden Dr. med. E.________ als Diagnosen mit Auswirkung auf die
Arbeitsfähigkeit eine Lumbopseudoischialgie links bei Osteochondrose L4/5 mit
nach links caudal hernierter Diskushernie ohne neurale Kompression entnehmen.
Die Leistungsfähigkeit als Arbeitsvorbereiter schätzt der Orthopäde seit
Februar 1999 auf 10 %, wobei er festhält, die "Beurteilungen des Orthopäden Dr.
D.________ bezüglich der Arbeitsfähigkeit in bisheriger Tätigkeit (seien) nicht
nachvollziehbar". Dieser habe im September 1999 keine und drei Monate später
plötzlich eine Arbeitsunfähigkeit von 75 % bei unverändertem Gesundheitszustand
befürwortet. In psychischer Hinsicht stellte keiner der beteiligten Fachärzte -
Dr. med. F.________ im Gutachten des MGSG und Dr. med. C.________ im Gutachten
vom 5. Dezember 2016 - ein psychisches Leiden mit Einfluss auf die
Arbeitsfähigkeit fest. 
 
4.   
Der (allfällige) Wiedererwägungsgrund liegt hier im Bereich der materiellen
Anspruchsvoraussetzungen und damit in einem Bereich, in welchem das Ermessen
der rechtsanwendenden Behörde eine wesentliche Rolle spielt. Mit Blick auf die
medizinischen Unterlagen aus der Zeit unmittelbar vor der Rentenzusprechung,
namentlich die Antwort des Dr. med. D.________ vom 30. November 1999 auf die
Ergänzungsfragen der IV-Stelle, kann nicht auf zweifellose Unrichtigkeit der
Verfügung vom 5. Januar 1999 (halbe Invalidenrente) und derjenigen vom 14. März
2000 (ganze Invalidenrente) geschlossen werden. Dr. med. D.________ erklärte am
30. November 1999, der Versicherte leide nach wie vor an erheblichen
Beschwerden, die seit Februar 1999 unter 75 % Arbeitsreduktion akzeptabel sind.
Er könne deshalb die vom Hausarzt attestierte Arbeitsunfähigkeit von 75 %, das
heisst halbtags mit halber Leistung, unterstützen. Medizinisch-theoretisch sei
dem Versicherten eine rückenschonende Arbeit ganztags sicherlich zumutbar
(...). Die Einschätzung der IV-Stelle, die dem Beschwerdeführer zunächst eine
befristete halbe und anschliessend gemäss Verfügung vom 14. März 2000 eine
ganze Invalidenrente zugesprochen hat, ist mit Rücksicht auf die damalige
medizinische Situation vertretbar. Zweifellose Unrichtigkeit im Sinne der
zitierten Rechtsprechung (E. 2 hievor) kann nicht angenommen werden. Im
vorliegenden Fall vermögen die Erkenntnisse, welche von begutachtenden Ärzten
erst Jahre nach Erlass der rechtskräftigen Verwaltungsakte gewonnen wurden, die
zweifellose Unrichtigkeit nicht zu begründen. Dass Gutachter Dr. med.
E.________ vom MGSG am 27. August 2013 festhielt, der Versicherte sei seit
Februar 1999 als Arbeitsvorbereiter zu 90 % einsatzfähig, rechtfertigt die
Annahme zweifelloser Unrichtigkeit der ursprünglichen, rund 13 Jahre früher
ergangenen Rentenverfügungen aus den Jahren 1999/2000 nicht. 
Die Aufhebung der Invalidenrente gemäss angefochtenem Entscheid ist demzufolge
bundesrechtswidrig. 
 
5.   
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat dem
Beschwerdeführer zudem eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und
2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
In Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Aargau vom 17. Oktober 2017 und die Verfügung der IV-Stelle des
Kantons Aargau vom 21. März 2017 aufgehoben. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Pensionskasse der Helvetia Versicherungen, St. Gallen, und dem Bundesamt
für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 13. August 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Meyer 
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer 

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben