Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 822/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_822/2017  
 
 
Urteil vom 19. Februar 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann, 
Gerichtsschreiber Fessler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Claudia Hazeraj, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, 
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern 
vom 19. Oktober 2017 (200 16 142 IV 
und 200 16 291 IV). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. A.________ bezog ab 1. November 1991 eine ganze Rente der
Invalidenversicherung. Als Ergebnis des im Juli 2005 eingeleiteten (dritten)
Revisionsverfahrens hob die IV-Stelle Bern, u.a. gestützt auf die Expertise des
ABI Ärztliches Begutachtungsinstitut GmbH vom 20. Juli 2006, mit Verfügung vom
1. Dezember 2006 die Rente auf, was das Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 11. September 2007
bestätigte. Mit Urteil 9C_720/2007 vom 28. April 2008 hob das Bundesgericht
Gerichtsentscheid und Verwaltungsverfügung auf und wies die Sache an die
IV-Stelle zurück, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre. Nach Mitteilung
der Weiterausrichtung der Rente ohne Unterbruch verfügte die IV-Stelle am 6.
August 2008 die Nachzahlung der Rentenbetreffnisse für die Monate Februar 2007
bis Juli 2008.  
 
A.b. Am 2. März 2009 wurde A.________ von Dr. med. B.________, Fachärztin für
Allgemeine Medizin FMH, vom regionalen ärztlichen Dienst der IV-Stellen Bern/
Freiburg/Solothurn (RAD) untersucht (Bericht vom 6. März 2009). Ab 4. Mai 2009
begann sie ein Belastbarkeitstraining, welchem sie nach zwei Wochen fernblieb.
Der Aufforderung zur Wiederaufnahme unter Hinweis auf ihre Mitwirkungspflicht
leistete sie keine Folge. Die Massnahme wurde daher am 15. Juni 2009
rückwirkend auf den 20. Mai 2009 abgebrochen. Am 8. Dezember 2010 wurde
A.________ an der Wirbelsäule lumbal operiert.  
 
A.c. Im Rahmen eines weiteren im Juli 2012 eingeleiteten Revisionsverfahrens
nahm Dr. med. B.________ am 31. Januar 2013 eine Beurteilung der medizinischen
Situation vor. In der Folge ordnete die IV-Stelle eine
Arbeitsmarktliche-Medizinische Abklärung vom 20. Januar bis 2. März 2014 an.
Die Massnahme wurde in der vierten Woche abgebrochen, nachdem A.________ am
dritten Tag wegen Rückenschmerzen nicht mehr erschienen war. Am 26. November
2014 nahm die RAD-Ärztin zum Zumutbarkeitsprofil der Versicherten Stellung. Am
20. Juli 2015 wurde A.________ an der linken Hand operiert. Einem vorgesehenen
Belastbarkeitstraining vom 9. November 2015 bis 21. Februar 2016 blieb sie
fern. Zwei Ärztliche Zeugnisse des Zentrums C.________ vom 11. und 19. November
2015 attestierten eine Arbeitsunfähigkeit von 100 % bis 7. Dezember 2015. Mit
Verfügung vom 13. Januar 2016 verneinte die IV-Stelle einen Anspruch auf
weitere Eingliederungsmassnahmen, und mit Verfügung vom 8. Februar 2016 hob sie
die Rente auf.  
 
B.   
A.________ erhob gegen beide Verfügungen Beschwerde, welche das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung,
nach Vereinigung der Verfahren mit Entscheid vom 19. Oktober 2017 abwies. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den
Rechtsbegehren, der Entscheid vom 19. Oktober 2017 und die Verfügung vom 8.
Februar 2016 seien aufzuheben; es sei ihr eine ganze Rente zuzusprechen;
eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an das kantonale
Verwaltungsgericht zurückzuweisen; der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung
zu erteilen und ihr das Recht auf unentgeltliche Prozessführung zu gewähren. 
Die IV-Stelle Bern beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz auf Rüge hin oder von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen,
wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne
von Artikel 95 beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs.
1 BGG). Eine solche Verletzung von Bundesrecht liegt etwa vor, wenn der
angefochtene Entscheid eine entscheidwesentliche Tatfrage, im Streit um eine
Rente der Invalidenversicherung namentlich Gesundheitszustand und
Arbeitsfähigkeit einer versicherten Person, auf unvollständiger Beweisgrundlage
beantwortet (Urteil 9C_ 558/2016 vom 4. November 2016 E. 3 mit Hinweis; vgl.
auch BGE 132 III 83 E. 3.5 S. 88). 
 
2.   
Mit Urteil 9C_720/2007 vom 28. April 2008 (Dispositiv-Ziffer 1 i.V.m. E. 4.2)
verpflichtete das Bundesgericht die Beschwerdegegnerin, die zur erwerblichen
Verwertbarkeit der Arbeitsfähigkeit erforderlichen Vorkehren zu treffen und
danach über die im Grundsatz gebotene Rentenrevision in zeitlicher und
masslicher Hinsicht neu zu verfügen. 
 
3.   
Die Vorinstanz hat zur letztinstanzlich einzig noch streitigen Aufhebung der
ganzen Rente durch die Beschwerdegegnerin erwogen, die vom Bundesgericht als
notwendig erachteten Eingliederungsmassnahmen hätten aufgrund der mangelnden
Mitwirkung der Beschwerdeführerin nicht durchgeführt werden können. Das im voll
beweiskräftigen ABI-Gutachten vom 20. Juli 2006 festgelegte Zumutbarkeitsprofil
habe sich nur minim verändert. Es bestehe nach wie vor eine 80%ige Arbeits- und
Leistungsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit, jedoch mit der
zusätzlichen Einschränkung, dass nach der Rückenoperation vom 8. Dezember 2010
keine schweren (und auch keine mittelschweren) Arbeiten mehr zumutbar seien.
Der Einkommensvergleich in der angefochtenen Verfügung, welcher einen nicht
anspruchsbegründenden Invaliditätsgrad von 20 % ergeben hatte (Art. 28 Abs. 2
IVG), gebe zu keinen Bemerkungen Anlass und werde auch nicht beanstandet. 
 
4.   
Für die Festsetzung der Arbeitsfähigkeit sowie die Beurteilung der Zumutbarkeit
der verschiedenen, allesamt vorzeitig abgebrochenen Eingliederungsmassnahmen
(Belastbarkeitstrainings, Arbeitsmarktlich-Medizinische Abklärung) in der Zeit
nach dem Urteil 9C_720/2007 vom 28. April 2008 hat die Vorinstanz neben dem
ABI-Gutachten vom 20. Juli 2006 wesentlich auf die Berichte der RAD-Ärztin Dr.
med. B.________ vom 6. März 2009, 31. Januar 2013 und 26. November 2014
abgestellt. Danach ist "seit 2010 nach der Wirbelsäulenoperation dahingehend
ein neuer Zustand gegeben (...), als schwere (und auch mittelschwere) Arbeiten
nicht mehr zumutbar sind". 
Die Beschwerdeführerin bestreitet den Beweiswert der RAD-ärztlichen
Beurteilung. 
 
4.1. Einem ärztlichen Bericht kommt Beweiswert zu, wenn er für die streitigen
Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die
geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese)
erstellt worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Situation und
Zusammenhänge einleuchtet und wenn die Schlussfolgerungen des Arztes begründet
sind (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232).  
 
4.1.1. Nach der Rechtsprechung ist es zulässig, im Wesentlichen oder einzig auf
versicherungsinterne medizinische Unterlagen abzustellen. In solchen Fällen
sind an die Beweiswürdigung jedoch strenge Anforderungen in dem Sinne zu
stellen, dass bei auch nur geringen Zweifeln an der Zuverlässigkeit und
Schlüssigkeit der ärztlichen Feststellungen ergänzende Abklärungen vorzunehmen
sind (BGE 139 V 225 E. 5.2 S. 229; 122 V 157 E. 1d S. 162).  
 
4.1.2. Selbst nicht auf eigenen Untersuchungen beruhende Berichte und
Stellungnahmen regionaler ärztlicher Dienste können beweiskräftig sein, sofern
ein lückenloser Befund vorliegt und es im Wesentlichen nur um die Beurteilung
eines an sich feststehenden medizinischen Sachverhalts geht, mithin die direkte
fachärztliche Befassung mit der versicherten Person in den Hintergrund rückt
(Urteil 9C_558/2016 vom 4. November 2016 E. 6.1 mit Hinweis).  
 
4.2. Gemäss dem Operationsbericht vom 8. Dezember 2010litt die
Beschwerdeführerin an einer "Lumboischialgie links bei Foraminalstenose L4/5
und L5/S1 links". Beim Eingriff wurde eine "Dekompression L4/5 und L5/S1 inkl.
Foraminotomie und Rhizotomie" vorgenommen. Die Einschätzung der Folgen der
Operation betrifft in erster Linie die Fachgebiete Orthopädische Chirurgie,
Orthopädie und Rheumatologie. Dr. med. B.________ ist Fachärztin für Allgemeine
Medizin. Es kommt dazu, dass sie die Versicherte zwar am 2. März 2009, danach
jedoch nicht mehr persönlich untersucht hat. Darin ist mit Blick auf die
Bedeutung der klinischen Untersuchung bei die Wirbelsäule betreffenden
Diagnosen (vgl. Urteil 9C_335/2015 vom 1. September 2015 E. 4.2.2) und das
Fehlen einer fachärztlichen Einschätzung der Arbeitsfähigkeit sowie einer
Umschreibung des funktionellen Leistungsvermögens seit der Operation vom 8.
Dezember 2010 eine unvollständige Tatsachenfeststellung zu erblicken. Daran
vermag der vorinstanzlich erwähnte Umstand nichts zu ändern, dass das MRI der
Lendenwirbelsäule vom 6. Februar 2014 im Vergleich zur Voruntersuchung vom 16.
Oktober 2012, welche insgesamt keine eindeutigen Anhaltspunkte für eine
radikuläre Kompression ergeben hatte, keine wesentlichen Veränderungen,
insbesondere kein Diskushernienrezidiv, zeigte. Eine lumbale Symptomatik kann,
je nach Ausprägung und Schweregrad, die Arbeitsfähigkeit auch ohne radikuläre
Beteiligung einschränken (Urteil 9C_870/2010 vom 24. Januar 2011 E. 4.3).  
 
4.3. Nach dem Gesagten erlauben die medizinischen Unterlagen nicht, die
Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin (zeitlicher Umfang und
Belastungsprofil) in zuverlässiger Weise einzuschätzen. Der angefochtene
Entscheid beruht somit in einem wesentlichen Punkt auf unvollständiger
Beweisgrundlage (E. 1). Die Beschwerdegegnerin wird ein fachärztliches
Gutachten einzuholen haben und danach über die im Grundsatz gebotene
Rentenrevision in zeitlicher und masslicher Hinsicht neu verfügen.  
Bei diesem Ergebnis braucht auf die Vorbringen in der Beschwerde zur Frage, ob
die Versicherte ihre Mitwirkungspflichten verletzt habe, nicht eingegangen zu
werden. 
 
5.   
Mit dem Entscheid in der Sache ist das Gesuch, der Beschwerde sei aufschiebende
Wirkung zu erteilen, gegenstandslos. 
 
6.   
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (
Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung,
vom 19. Oktober 2017 und die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 8. Februar 2016
werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung im Sinne der Erwägungen an
die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde
abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Gerichtskosten und der Parteientschädigung
des vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 19. Februar 2018 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler 

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