Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 762/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_762/2017  
 
 
Urteil vom 30. Mai 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber Grünenfelder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
12. September 2017 (VBE.2017.278). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1953 geborene A.________ meldete sich im Mai 2016 erneut bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an, nachdem die IV-Stelle des Kantons
Aargau einen Anspruch auf eine Invalidenrente verneint hatte (Verfügung vom 25.
Februar 2010). Der Versicherte gab an, er sei aufgrund einer unfallbedingten
Unterschenkelfraktur nicht mehr in der Lage, ohne Hilfe verschiedene
alltägliche Lebensverrichtungen ausführen zu können, und beantragte eine
Hilflosenentschädigung. Die IV-Stelle veranlasste unter anderem eine Abklärung
an Ort und Stelle (Bericht vom 29. November 2016). Gestützt darauf lehnte sie
das Leistungsbegehren mit Verfügung vom 17. Februar 2017 ab. 
 
B.   
Die von A.________ eingereichte Beschwerde wies das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau mit Entscheid vom 12. September 2017 ab. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________
beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihm eine
Hilflosenentschädigung zuzusprechen; eventuell sei die Sache zu ergänzenden
Abklärungen an das kantonale Gericht zurückzuweisen. Sodann ersucht er um
unentgeltliche Rechtspflege. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde, während das Bundesamt für
Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
 
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (
Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
1.2. Die Beachtung der Beweiswürdigungsregeln durch das kantonale Gericht nach 
Art. 61 lit. c ATSG - und somit der Anforderungen an den Beweiswert eines
Abklärungsberichtes an Ort und Stelle (Art. 69 Abs. 2 IVV; BGE 133 V 450 E.
11.1.1 f. S. 468 f.) - ist eine Rechtsfrage und als solche im Rahmen der den
Parteien obliegenden Rügepflicht (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE
133 II 249 E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254) frei überprüfbar (Urteil 9C_204/2009 vom
6. Juli 2009 E. 4.1 nicht publ. in BGE 135 V 254, aber in SVR 2009 IV Nr. 53 S.
164; Urteil 8C_850/2014 vom 4. Mai 2015 E. 1.2).  
 
2.   
Strittig ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf eine
Hilflosenentschädigung. 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die
Hilflosigkeit (Art. 9 ATSG), den Anspruch auf Hilflosenentschädigung und die
für deren Höhe wesentliche Unterscheidung dreier Hilflosigkeitsgrade (Art. 42
Abs. 1 und 2 IVG; Art. 37 Abs. 1 bis 3 IVV) sowie betreffend die sechs
massgeblichen alltäglichen Lebensverrichtungen (Ankleiden, Auskleiden;
Aufstehen, Absitzen, Abliegen; Essen; Körperpflege; Verrichten der Notdurft und
Fortbewegung; BGE 127 V 94 E. 3c S. 97; 125 V 297 E. 4a S. 303) zutreffend
dargelegt. Dies gilt auch hinsichtlich der gesetzlichen Grundlage (Art. 42 Abs.
3 Satz 1 IVG; Art. 38 IVV) und Rechtsprechung (BGE 133 V 450; 133 V 472 E.
5.3.1 S. 475) zur lebenspraktischen Begleitung. Darauf wird verwiesen. 
 
3.   
 
3.1. Der Abweisung des Gesuchs um Hilflosenentschädigung liegt hauptsächlich
der Bericht über die Abklärung an Ort und Stelle vom 29. November 2016
zugrunde. Darin kam die Abklärungsperson zum Schluss, der Versicherte sei in
den alltäglichen Lebensverrichtungen selbständig und bedürfe keiner
lebenspraktischen Begleitung von mindestens zwei Stunden pro Woche.  
Der Beschwerdeführer macht unter Berufung auf eine Verletzung seines Anspruchs
auf rechtliches Gehör (Art. 6 EMRK und Art. 29 Abs. 2 BV) in erster Linie
geltend, dem Abklärungsbericht komme kein Beweiswert zu. Er habe nicht selber
Auskunft über seine Einschränkungen geben können, sondern es sei einzig seine
Tochter befragt worden. Nur diese habe ihre Wahrnehmungen betreffend ihren
Vater dargelegt, wohingegen mit dem Versicherten kein Gespräch geführt worden
sei. Die IV-Stelle habe ihn daher als blosses Verfahrensobjekt behandelt,
anstatt ihn aktiv in die Abklärung miteinzubeziehen. 
 
3.2. Ein Abklärungsbericht betreffend die Hilflosigkeit (Art. 9 ATSG) hat
folgenden Anforderungen zu genügen: Als Berichterstatterin wirkt eine
qualifizierte Person, welche Kenntnis der örtlichen und räumlichen Verhältnisse
sowie der Beeinträchtigungen und Hilfsbedürftigkeiten hat, die sich aus den von
den Medizinalpersonen gestellten Diagnosen ergeben. Bei Unklarheiten über
physische oder psychische Störungen und/oder deren Auswirkungen auf alltägliche
Lebensverrichtungen sind Rückfragen an die medizinischen Fachpersonen nicht nur
zulässig, sondern notwendig. Weiter sind die Angaben der Hilfe leistenden
Personen zu berücksichtigen, wobei divergierende Meinungen der Beteiligten im
Bericht aufzuzeigen sind. Der Berichtstext muss plausibel, begründet und
detailliert bezüglich der einzelnen alltäglichen Lebensverrichtungen sein.
Schliesslich hat er in Übereinstimmung mit den an Ort und Stelle erhobenen
Angaben zu stehen. Das Gericht greift, sofern der Bericht eine zuverlässige
Entscheidungsgrundlage im soeben umschriebenen Sinne darstellt, in das Ermessen
der die Abklärung tätigenden Person nur ein, wenn klar feststellbare
Fehleinschätzungen vorliegen. Dies gebietet insbesondere der Umstand, dass die
fachlich kompetente Abklärungsperson näher am konkreten Sachverhalt ist als das
im Beschwerdefall zuständige Gericht (BGE 140 V 543 E. 3.2.1 S. 547; 133 V 450
E. 11.1.1 S. 468; 130 V 61 E. 6.2 S. 63; 128 V 93; Urteil 9C_497/2014 vom 2.
April 2015 E. 4.1.1).  
Nach Rz. 8131, 1. und 3. Satz, des Kreisschreibens über Invalidität und
Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH; in der ab 1. Januar 2015
geltenden Fassung [Stand 1. Januar 2017]) nimmt die IV-Stelle eine Abklärung an
Ort und Stelle vor, in deren Rahmen die Angaben der versicherten Person, der
Eltern oder des/der gesetzlichen Vertreters/Vertreterin kritisch zu würdigen
sind. 
 
3.3. Wie die Vorinstanz verbindlich (E. 1.1) festgestellt hat, beantwortete
alleine die Tochter des Beschwerdeführers die Fragen der Abklärungsperson.
Diese wurde gemäss den vorangegangenen Anweisungen der Beschwerdegegnerin an
den Versicherten (Schreiben vom 30. August 2016) als Übersetzungsperson
beigezogen. Dem Abklärungsbericht lässt sich entnehmen, das Gespräch sei nur
mit der Tochter geführt worden, weil der Versicherte zu wenig deutsch spreche.
Dieser habe sich denn auch zu keiner Frage geäussert.  
Folglich stützt sich die Abklärung nicht auf ein zwischen der von der
Invalidenversicherung beauftragten Person und dem Versicherten selber geführtes
Gespräch, sondern auf Angaben, die ausschliesslich von einer Drittperson
gemacht wurden, die nicht die Vertreterin des Beschwerdeführers war. Dabei
sollen vor Ort gerade die Ausführungen der versicherten Person darüber
eingeholt werden, welche Verrichtungen sie noch vornehmen kann. Es sind ihre
(eigenen) Antworten zu berücksichtigen. Wohl schliesst dies nicht aus, dass
andere Beteiligte - wie Hilfe leistende Personen - ebenfalls in das Gespräch
einbezogen werden. Der betroffene Versicherte soll aber jedenfalls persönlich
zu seinem Zustand und den Fähigkeiten in den alltäglichen Verrichtungen
Auskunft geben. Die als Übersetzerin beigezogene Person hat die Aufgabe, das
Gespräch zwischen dem Versicherten und der Abklärungsperson zu ermöglichen,
nicht aber es gänzlich zu ersetzen. Vorliegend wird der Verzicht auf
persönliche Angaben einzig mit den mangelnden Deutschkenntnissen des
Beschwerdeführers begründet. Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte, dass
dieser das Gespräch verweigert hätte. Dennoch wurde das Abklärungsgespräch
ausschliesslich mit der Tochter geführt. Diese Vorgehensweise verletzt den
Anspruch des Versicherten, bei der Abklärung selber Stellung nehmen zu dürfen
und missachtet überdies die Anforderungen an die Beweiserhebung im Zusammenhang
mit der Erstellung eines Abklärungsberichts. 
 
3.4. Zu keinem anderen Ergebnis führen die Erörterungen des kantonalen
Gerichts, wonach sich der Beschwerdeführer bei medizinischen Untersuchungen
durchaus in deutscher Sprache habe verständigen können. Demnach wäre er - wie
die Vorinstanz weiter erwogen hat - mit Hilfe seiner Tochter in der Lage
gewesen, sich zu äussern, habe jedoch während des Gesprächs zu keinem Zeitpunkt
angedeutet, auf eine Frage selber antworten zu wollen.  
 
3.4.1. Erstellt ist, dass das Abklärungsgespräch zwar in Anwesenheit des
Beschwerdeführers stattfand, er aber nicht in dieses einbezogen wurde. Die
Abklärungsperson verzichtete offenbar darauf, die Fragen durch die Tochter
übersetzen zu lassen sowie die (übersetzten) Antworten des Beschwerdeführers
entgegen zu nehmen und aufzuzeichnen. Indem das Gespräch nur zwischen der
Vertreterin der IV-Stelle und der Tochter des Versicherten geführt wurde, kann
diesem nicht vorgeworfen werden, er habe sich nicht daran beteiligt. Inwiefern
der Beschwerdeführer sich zu einer Frage hätte äussern oder einen Einwand
spontan hätte einbringen können, wenn die Abklärungsperson gleichzeitig
feststellte, er spreche zu wenig deutsch, um am Abklärungsgespräch
teilzunehmen, ist nicht ersichtlich. Vielmehr wäre es Aufgabe der beauftragten
Fachperson gewesen, die Fragen direkt an den Versicherten zu richten. Zumindest
hätte es dieser oblegen, dem Beschwerdeführer mit Hilfe der Tochter das Ziel
und den Ablauf der Abklärung zu erklären. Erst wenn der Versicherte
ausdrücklich einverstanden gewesen wäre, sich von seiner Tochter vertreten zu
lassen, oder das Gespräch gänzlich verweigert hätte, hätte die Abklärungsperson
ausschliesslich auf die Antworten eines Familienmitglieds abstellen dürfen.  
 
3.4.2. Wenn die Vorinstanz weiter erwogen hat, der Beschwerdeführer habe im
kantonalen Verfahren nicht vorgebracht, seine Tochter habe falsche oder
unvollständige Antworten gegeben, greift dies ebenfalls zu kurz: Das rechtliche
Gehör als Mitwirkungsrecht bei der Beweisaufnahme beinhaltet das Erfordernis,
dass die versicherte Person im Rahmen einer Abklärung an Ort und Stelle selber
befragt wird und sich äussern darf. Wurde diesem Aspekt nicht Rechnung
getragen, kommt es mit Blick auf die formelle Natur des Anspruchs auf
rechtliches Gehör nicht darauf an, ob die Anhörung im konkreten Fall für den
materiellen Ausgang der Streitsache von Bedeutung ist (BGE 132 V 387 E. 5.1 S.
390; 127 V 431 E. 3d/aa S. 437).  
 
3.5. Da dem Abklärungsbericht vom 29. November 2016 nach dem Gesagten kein
Beweiswert beigemessen werden kann, ist der angefochtene Entscheid - wie auch
die Verfügung der IV-Stelle - in Missachtung der Beweiswürdigungsregeln
ergangen und daher aufzuheben. Es rechtfertigt sich, die Sache an die
Beschwerdegegnerin zurückzuweisen, damit sie eine neue rechtskonforme Abklärung
in Auftrag gebe und anschliessend über den Anspruch auf Hilflosenentschädigung
neu befinde.  
 
4.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 12. September 2017 und die Verfügung der IV-Stelle des
Kantons Aargau vom 17. Februar 2017 werden aufgehoben. Die Sache wird im Sinne
der Erwägungen zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Aargau
zurückgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 30. Mai 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Meyer 
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder 

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