Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 732/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_732/2017  
 
 
Urteil vom 5. März 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless. 
Gerichtsschreiberin Oswald. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Zimmermann, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin, 
 
 Pensionskasse B.________, 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
14. September 2017 (VBE.2017.301). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________ zuletzt bis Februar 2016 im Kinderheim C.________ in der
Hauswirtschaft angestellt gewesen (letzter effektiver Arbeitstag im August
2014), meldete sich am 29. Juli 2014 unter Verweis auf Rückenschmerzen bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau
führte erwerbliche und medizinische Abklärungen durch und holte u.a. ein
polydisziplinäres Gutachten der D.________ AG (Expertise vom 6. Juli 2016 in
den Disziplinen Allgemeine und Innere Medizin, Orthopädie, Psychiatrie sowie
Neurologie) ein. Die Gutachter attestierten aufgrund einer mittelgradigen
depressiven Störung (ICD-10 F32.10) und einer anhaltenden somatoformen
Schmerzstörung (ICD-10 F45.50) eine Arbeitsunfähigkeit von 50 %. Die IV-Stelle
verneinte mit Verfügung vom 24. Februar 2017 einen Anspruch auf Leistungen der
Invalidenversicherung. 
 
B.   
Die von A.________ hiergegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau mit Entscheid vom 14. September 2017 ab. Dabei liess es
offen, ob die diagnostizierten psychischen Störungen ihre Erklärung im
psychosozialen Umfeld fänden und daher aus versicherungsrechtlicher Sicht
unberücksichtigt zu bleiben hätten. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Antrag, der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 14.
September 2017 sei aufzuheben und ihr seien die gesetzlich geschuldeten
Leistungen, insbesondere eine mindestens halbe Rente der Invalidenversicherung,
zuzusprechen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts durch die Vorinstanz nur, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (
Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von 
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Strittig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht zu Recht das Vorliegen
eines invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschadens verneint
hat. 
 
2.1. Das Versicherungsgericht erwog, leichte bis höchstens mittelschwere
Störungen aus dem depressiven Formenkreis bewirkten aufgrund ihrer in der Regel
guten Therapierbarkeit keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit. Da die bei der
Beschwerdeführerin diagnostizierte mittelgradige depressive Episode von
sämtlichen Fachärzten als therapierbar beurteilt worden sei, sei diese nicht
invalidisierend (vorinstanzliche Erwägung 2.1.1).  
 
2.2. In der Folge führte die Vorinstanz hinsichtlich der anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung ein strukturiertes Beweisverfahren gemäss BGE 141 V
281 durch (vorinstanzliche Erwägung 2.1.2), wobei sie das depressive Geschehen
- aus dem in E. 2.1 aufgezeigten Grund - nicht als Komorbidität
berücksichtigte. Mangels funktionellen Schweregrads verneinte sie unter
Verzicht auf eine Konsistenzprüfung das Vorliegen eines invalidisierenden
Gesundheitsschadens.  
 
2.3. Schliesslich liess die Vorinstanz offen, ob die diagnostizierten Störungen
im psychosozialen Umfeld ihre Erklärung fänden.  
 
3.   
Die Beschwerdeführerin rügt, eine rechtliche Sonderbehandlung der depressiven
Erkrankung rechtfertige sich nicht. Gestützt auf die mittelgradige Depression
sei eine Einschränkung der Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit von 50 % durch das
versicherungsmedizinische Gutachten der D.________ AG sowie die Einschätzung
des RAD ausgewiesen. Die gutachterliche Stellungnahme sei nach eingehender
Prüfung und Darstellung der Standardindikatoren gemäss bundesgerichtlicher
Rechtsprechung erfolgt; für die Rechtsanwender bestehe kein Anlass, davon
abzuweichen. Die Vorinstanz habe den massgeblichen Sachverhalt nicht korrekt
unter die bundesgerichtlichen Kriterien (Standardindikatoren) subsumiert und
damit Bundesrecht verletzt. 
 
4.  
 
4.1.  
 
4.1.1. Die Rechtsanwender prüfen die medizinischen Angaben frei insbesondere
daraufhin, ob die Ärzte sich an die massgebenden normativen Rahmenbedingungen
gehalten haben und ob bzw. in welchem Umfang deren Feststellungen anhand der
rechtserheblichen Indikatoren auf Arbeitsunfähigkeit schliessen lassen (BGE 141
V 281 E. 5.2.3 S. 307; zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenes
Urteil 8C_130/2017 vom 30. November 2017 E. 6; Urteil 8C_260/2017 vom 1.
Dezember 2017 E. 4.2.5 mit Hinweis). Aus rechtlicher Sicht kann von einer
medizinischen Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit abgewichen werden, ohne dass
diese per se ihren Beweiswert verliert (Urteil 9C_648/2017 vom 20. November
2017 E. 2.3.2 i.f. mit Hinweisen).  
 
4.1.2. Vorliegend äusserte sich der psychiatrische Experte zwar einlässlich zu
den Standardindikatoren, nahm hierauf aber im Rahmen seiner
Arbeitsfähigkeitsschätzung keinen Bezug. Diese begründete er vielmehr damit,
dass bei einer mittelgradigen depressiven Episode die Bescheinigung einer 50
%-igen Arbeitsunfähigkeit "üblich" sei. Daraus erhellt, dass seiner
Stellungnahme eine schematische Vorstellung darüber zu Grunde liegt, zu welcher
Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit die Diagnose der mittelgradigen
depressiven Episode in der Regel führe. Damit genügte die gutachterliche
Beurteilung der Arbeitsfähigkeit den normativen Rahmenbedingungen nicht,
weshalb sie durch die Vorinstanz korrigiert werden durfte (zitiertes Urteil
8C_260/2017 E. 4.2.5 mit Hinweisen).  
 
4.2. Die bisherige Rechtsprechung betreffend die Voraussetzungen, unter denen
leichten bis mittelschweren Depressionen invalidisierende Wirkung zukommen kann
(BGE 140 V 193 E. 3.3 S. 197; Urteil 9C_892/2015 vom 22. Januar 2016 E. 2), ist
mit den zur Publikation in der amtlichen Sammlung bestimmten Urteilen 8C_130/
2017 und 8C_841/2016 vom 30. November 2017 geändert worden. Gemäss Urteil
8C_130/2017 (E. 7) sind neu sämtliche psychischen Leiden, laut Urteil 8C_841/
2016 (E. 4.5.2) namentlich auch leichte bis mittelschwere Depressionen, einem
strukturierten Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 zu unterziehen. Diese neue
Rechtsprechung ist auf alle im Zeitpunkt der Praxisänderung noch nicht
erledigten Fälle anzuwenden (vgl. etwa Urteil 9C_580/2017 vom 16. Januar 2018
E. 3.1 mit Hinweisen).  
 
4.3.  
 
4.3.1. Dass das kantonale Gericht das depressive Geschehen sowohl zum
vornherein als relevanten Gesundheitsschaden als auch als Komorbidität mit
Verweis auf die regelmässig gute Therapierbarkeit solcher Störungen
ausklammerte, hält vor der neuen Rechtsprechung (vgl. E. 4.2 soeben) zwar nicht
stand, ist doch im Rahmen des strukturierten Beweisverfahrens davon abzusehen,
einzelne Beschwerden und Störungen ohne Einzelfallprüfung wegen grundsätzlich
fehlender invalidenversicherungsrechtlicher Relevanz auszuscheiden (vgl.
zitiertes Urteil 8C_130/2017, E. 8.1). Indes gilt unverändert, dass ein
invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden nur gegeben sein kann, wenn
das klinische Beschwerdebild nicht einzig in psychosozialen und
soziokulturellen Umständen seine Erklärung findet, sondern davon psychiatrisch
unterscheidbare Befunde umfasst (zitiertes Urteil 9C_648/2017 E. 2.3.1 und E.
3.2.4.1, mit Hinweisen).  
 
4.3.1.1. Der Sachverhalt lässt sich diesbezüglich anhand der Akten ergänzen (E.
1 und E. 2.3 oben) : Der psychiatrische Gutachter der D.________ AG vermutete
eine psychosoziale Genese der gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Eheprobleme,
Auszug der Kinder und Verlust der Arbeitsstelle). Im Gutachtenszeitpunkt erhob
er (persistierende) Wechselwirkungen insbesondere zwischen den psychosozialen
Belastungen und der psychischen Befindlichkeit. Dessen ungeachtet ging er von
einer verselbständigten depressiven Störung aus, die unabhängig von den
psychosozialen Faktoren eine mittelschwere Funktionseinschränkung bewirke.  
 
4.3.1.2. Dieser Schluss ist nicht nachvollziehbar. So attestiert der
psychiatrische Experte wohl Einschränkungen in den Bereichen Belastbarkeit,
Planung und Strukturierung von Aufgaben, Flexibilität und Umstellungsfähigkeit,
Ausübung fachlicher Kompetenzen als Reinigungskraft und Küchenhilfe,
Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit sowie Durchhaltefähigkeit,
Selbstbehauptungsfähigkeit und Kontaktfähigkeit. Seine entsprechenden
Ausführungen sind jedoch sehr allgemein gehalten. Dazu erhellt aus dem
psychiatrischen Gutachten, dass die Arbeitsfähigkeit der Versicherten durch
eine (im Gutachtenszeitpunkt für zumutbar erachtete) berufliche und soziale
Reintegration wahrscheinlich gesteigert werden kann; angeregt wird insbesondere
eine störungsspezifische Behandlung mit Rücksichtnahme auf die - nota bene
psychosozialen (E. 4.3.1.1 soeben) - Entstehungsfaktoren. Dies unterstreicht,
dass invaliditätsfremde Faktoren die Störung nach wie vor massgeblich
unterhalten (vgl. dazu Urteil 9C_307/2017 vom 11. Januar 2018 E. 5.3.2). Dem
Austrittsbericht der Klinik E.________ vom 6. November 2011 ist ebenfalls zu
entnehmen, dass der drohende Verlust der Arbeitsstelle die Patientin in ihrem
Selbstwertgefühl empfindlich getroffen habe; ausserdem wird ausgeführt, dass
die Distanzgewinnung von zu Hause, die Tagesstrukturierung und die sozialen
Kontakte zu einer spürbaren Besserung geführt hätten.  
 
4.3.1.3. Von den psychosozialen und soziokulturellen Faktoren psychiatrisch
unterscheidbare Befunde sind aus den Akten nicht erkennbar. Sie ergeben sich
vor allem nicht aus der Stellungnahme des konsiliarisch beigezogenen
Psychiaters des RAD vom 27. Juli 2016. Darum wird die Frage, ob nach Abgrenzung
der psychosozialen Faktoren und Prüfung der Standardindikatoren eine
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 50 % ausreichend nachvollziehbar sei,
lediglich mit "Ja" beantwortet. Eine Begründung fehlt gänzlich, weshalb nicht
darauf abgestellt werden kann (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S.
352 mit Hinweis). Die materielle Beweislast für das Vorliegen eines
versicherten Gesundheitsschadens trägt die versicherte Person (vgl. etwa BGE
142 V 106 E. 4.4 S. 110 f.; zitiertes Urteil 9C_648/2017 E. 3.2.3.1). Demnach
hat die Vorinstanz das depressive Geschehen im Ergebnis zu Recht
unberücksichtigt gelassen.  
 
4.3.2. Im Weiteren vermag die Beschwerdeführerin nicht aufzuzeigen, inwiefern
die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz bezüglich Behandlungserfolg,
Persönlichkeitsstruktur und sozialem Kontext offensichtlich unrichtig oder
sonstwie bundesrechtswidrig wären. Sie bleiben daher für das Bundesgericht
verbindlich (E. 1 oben). Die daraus gezogene Schlussfolgerung des fehlenden
funktionellen Schweregrads überzeugt. Das Bundesgericht hat keine Veranlassung,
davon abzuweichen.  
 
5.   
Der vorinstanzliche Entscheid hält im Ergebnis vor Bundesrecht stand. Die
Beschwerde ist unbegründet. 
 
6.   
Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1
Satz 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, der Pensionskasse B.________, dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 5. März 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Oswald 

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