Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 720/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_720/2017  
 
 
Urteil vom 21. Juni 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino, 
Gerichtsschreiber Fessler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________ 
vertreten durch Rechtsanwalt Claude Wyssmann, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung 
(Rente; Revision), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern 
vom 4. September 2017 (200 17 224 IV). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Mit Verfügung vom 24. August 2004 sprach die IV-Stelle Bern A.________ u.a.
gestützt auf das psychiatrische Gutachten des ZVMB (Zentrum für
versicherungsmedizinische Begutachtung GmbH) vom 11. Juni 2004 rückwirkend ab
1. April 2003 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zu. Mit Mitteilungen
vom 12. Januar 2007 und 20. Mai 2010 bestätigte sie den Anspruch bei
unverändertem Invaliditätsgrad (90 %). Im Oktober 2014 leitete die IV-Stelle
ein weiteres Revisionsverfahren ein. U.a. liess sie den Versicherten durch das
ZVMB interdisziplinär abklären (Gutachten vom 26. Januar 2016 und
Ergänzungsbericht vom 20. Juli 2016). Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren
hob sie mit Verfügung vom 26. Januar 2017 die ganze Rente auf Ende Februar 2017
auf. 
 
B.   
Die Beschwerde des A.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern;
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 4. September 2017
ab. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
hauptsächlichen Rechtsbegehren, der Entscheid vom 4. September 2017 sei
aufzuheben, und es seien ihm weiterhin die gesetzlichen Leistungen im
bisherigen Umfang (ganze Rente) zuzusprechen. 
 
Die IV-Stelle Bern beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts (durch die Vorinstanz; Art. 105 Abs. 1 BGG) kann
nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig bzw. wie die
Beweiswürdigung willkürlich ist (BGE 142 II 433 E. 4.4 S. 444) oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Unter diesem eingeschränktem Blickwinkel ist etwa die Frage zu prüfen, ob
eine im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG erhebliche Änderung der tatsächlichen
Verhältnisse vorliegt (BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 10; Urteil 9C_ 388/2016 vom 2.
November 2016 E. 1 mit Hinweis). Dagegen ist eine im Rahmen der Rechtsanwendung
von Amtes wegen (Art. 106 Abs. 1 BGG) frei überprüfbare Rechtsfrage, ob ein
Grundlage für eine Rentenrevision bildendes Gutachten Beweiswert hat (Urteil
9C_858/2014 vom 3. September 2015 E. 2.2; vgl. auch Urteil 8C_422/2012 vom 5.
Oktober 2012 E. 3.1). 
 
2.   
Streitgegenstand bildet die von der Vorinstanz bestätigte Aufhebung der ganzen
Rente durch die Beschwerdegegnerin gestützt auf Art. 17 Abs. 1 ATSG auf Ende
Februar 2017 bzw. die Frage, ob der Beschwerdeführer ab 1. März 2017 weiterhin
Anspruch auf eine (ganze) Rente hat. 
 
3.   
Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines
Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin
für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs.
1 ATSG [i.V.m. Art. 1 Abs. 1 IVG und Art. 2 ATSG]). Anlass zu einer in
rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassenden Überprüfung des
Rentenanspruchs geben u.a. Änderungen des Gesundheitszustandes im
Vergleichszeitraum (BGE 133 V 108; Urteil 9C_46/2009 vom 14. August 2009 E.
3.1, in: SVR 2010 IV Nr. 4 S. 7), die sich auf die Arbeitsfähigkeit auswirken.
Hingegen ist die lediglich unterschiedliche Beurteilung eines im Wesentlichen
gleich gebliebenen medizinischen Sachverhalts im revisionsrechtlichen Kontext
unbeachtlich (BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 10 mit Hinweisen). 
 
4.   
Die Vorinstanz hat erwogen, aufgrund des Gutachtens des ZVMB vom 26. Januar
2016 samt ergänzender Stellungnahme vom 20. Juli 2016 sei erstellt, dass seit
der erstmaligen Rentenzusprechung mit Verfügung vom 24. August 2004 eine
wesentliche Veränderung des Gesundheitszustandes eingetreten sei, welche sich
funktionell auf die Arbeits- und Leistungsfähigkeit auswirke. Die früher
beschriebene versicherungsmedizinisch relevante psychische Symptomatik habe
2016 nicht mehr bestanden, die depressive Episode sowie die Anpassungsstörung
seien abgeklungen; aktuell sei keine Ermüdbarkeit und Konzentrationsschwäche
beobachtet worden; vom Beschwerdeführer hätten keine relevanten Symptome einer
posttraumatischen Belastungsstörung berichtet werden können. Aufgrund der
geänderten Befunde sei ihm nunmehr eine angepasste Tätigkeit zu 80 % (sechs
Stunden am Tag ohne Leistungseinbusse oder acht Stunden täglich mit einer
Leistungseinbusse von 20 % für Erholungspausen) zumutbar. Die Experten hätten
nicht eine andere Beurteilung eines an sich unverändert gebliebenen Zustandes
vorgenommen. Die Gründe, weshalb sie nicht exakt die chronologische Veränderung
der Arbeits- und Leistungsfähigkeit zu begründen vermochten, würden in der
Stellungnahme vom 20. Juli 2016 unmissverständlich dargelegt. "Massgeblich ist
denn auch, dass eine Veränderung festgestellt wurde und nicht, wann exakt eine
solche eingetroffen ist", zumal eine allfällige Herabsetzung oder Aufhebung der
Rente nicht rückwirkend erfolgen würde. Auf der Grundlage der
Zumutbarkeitsbeurteilung im Gutachten des ZVMB vom 26. Januar 2016 hat die
Vorinstanz durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG i.V.m. Art. 28a Abs. 1 IVG)
einen Invaliditätsgrad von 36 % ermittelt, was für den Anspruch auf eine Rente
nicht ausreicht (Art. 28 Abs. 2 IVG). 
 
5.   
Der Beschwerdeführer rügt, der angefochtene Entscheid verletze unter
verschiedenen Gesichtspunkten Bundesrecht. Vergleichsbasis sei nicht die
Verfügung vom 24. August 2004, sondern die Mitteilung vom 12. Januar 2007,
worin gestützt auf das psychiatrische Gutachten des Dr. med. B.________ vom 30.
November 2006 die ganze Rente bei unverändertem Invaliditätsgrad bestätigt
worden sei. Sodann beruhe die Annahme, der Gesundheitszustand habe sich seither
in revisionsrechtlich relevanter Weise verbessert, nicht auf einer
rechtsgenüglichen Beweisgrundlage. Das psychiatrische Teilgutachten des ZVMB
vom 26. Januar 2016 halte den beweisrechtlichen Anforderungen an einen im
Revisionskontext erstellten ärztlichen Bericht (vgl. dazu Urteil 8C_441/2012
vom 25. Juli 2013 E. 6.1.2 mit Hinweis, in: SVR 2013 IV Nr. 44 S. 134) nicht
Stand. In der Expertise sei bloss eine nicht relevante Andersbewertung zu
erblicken. Schliesslich liege ein Fall kompletter beruflicher Desintegration
vor, sodass die Unmöglichkeit der Selbsteingliederung offensichtlich sei,
weshalb die ganze Rente nicht ohne vorgängige Umsetzung von beruflichen
Eingliederungsmassnahmen hätte aufgehoben werden dürfen. 
 
6.   
 
6.1. Der psychiatrische Gutachter des ZVMB hielt im Rahmen der Beurteilung des
objektivierbaren medizinischen Sachverhalts u.a. fest, retrospektiv sei in
Bezug auf die gegenwärtige Situation davon auszugehen, dass beim Versicherten
auf dem Boden einer narzisstischen Persönlichkeit damals aufgrund der Kündigung
des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber im Jahre 2002 eine depressive
Episode auftrat, auch als Folge der Verunsicherung in Bezug auf seine
berufliche Zukunft, zumal er zu dem Zeitpunkt im Begriff war, seine berufliche
und soziale Position in der Schweiz zu festigen. Es sei auch von einer
Anpassungsstörung zu diesem Zeitpunkt auszugehen, ohne dass angenommen werden
könne, dass diese dauerhaft funktionelle Einschränkungen und ein schweres
anhaltendes subjektives Leiden verursacht hatte. Es könne nicht bewiesen
werden, dass der Versicherte schon vorher an Depressionen oder anderen
psychischen Symptomen gelitten hatte. Gegenwärtig bestünden weder eine
affektive Störung noch eine PTBS, ein kognitives Defizit, eine psychotische
Störung, eine somatoforme Störung oder eine versicherungspsychiatrisch
relevante Persönlichkeitsstörung gemäss ICD, abgesehen von einer narzisstischen
Persönlichkeitsakzentuierung, welche die Leistungsfähigkeit nicht einschränke.
Es würden jedoch psychosoziale Faktoren überwiegen. Aus retrospektiver Sicht
ergebe sich, dass spätestens seit dem Untersuchungszeitpunkt die früher
beschriebene versicherungsmedizinisch relevante psychische Symptomatik nicht
mehr bestehe. "Möglicherweise besteht auch retrospektiv bereits seit 2004 eine
bessere als die damals angegebene Arbeitsfähigkeit".  
 
6.2. Der Psychiater der Gutachterstelle (Art. 72bis Abs. 1 IVV) hatte somit
Zweifel, ob die Beurteilung des Gesundheitszustandes und der Arbeitsfähigkeit
in den Gutachten vom 11. Juni 2004 und 30. November 2006, welche Grundlage für
die Zusprechung der ganzen Rente (Verfügung vom 24. August 2004) und deren
Bestätigung (Mitteilung vom 12. Januar 2007) gebildet hatten, richtig war. Dass
er sich nicht abschliessend dazu äusserte, mindert indessen den Beweiswert der
Expertise nicht. Ebenso wenig kann aus seiner Feststellung, dass spätestens
seit dem Zeitpunkt der eigenen Untersuchung die früher beschriebene
versicherungsmedizinisch relevante psychische Symptomatik nicht mehr bestanden
habe, gefolgert werden, bei seiner Einschätzung handle es sich um eine reine
Momentaufnahme. Revisionsrechtlich entscheidend ist, dass nicht mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt ist, dass bereits damals der
Gesundheitszustand wesentlich gebessert hatte und die Arbeitsfähigkeit
tatsächlich höher war als angenommen, sodass nicht bloss eine unterschiedliche
Beurteilung des gleichen Sachverhalts vorliegt, wie der Beschwerdeführer
geltend macht.  
 
6.3. Aufgrund des Gutachtens des ZVMB vom 16. Januar 2016 ist somit von einer
Verbesserung des psychischen Gesundheitszustandes mit Auswirkung auf die
Arbeits- und Erwerbsfähigkeit im Vergleichszeitraum auszugehen. Dabei spielt es
keine Rolle, ob als Vergleichsbasis die Verfügung vom 24. August 2004 oder die
Mitteilung vom 12. Januar 2007 genommen wird.  
 
7.   
Ist ein Revisionsgrund nach Art. 17 Abs. 1 ATSG gegeben, ist der Rentenanspruch
in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen (Ermittlung des
Invaliditätsgrades auf der Grundlage eines richtig und vollständig
festgestellten Sachverhalts ohne Bindung an frühere Invaliditätsschätzungen;
BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 11). 
 
7.1. Nach der Rechtsprechung sind bei Personen, deren Rente revisionsweise
herabgesetzt oder aufgehoben werden soll, nach mindestens fünfzehn Jahren
Bezugsdauer oder wenn sie das 55. Altersjahr zurückgelegt haben, in der Regel
vorgängig Massnahmen zur Eingliederung durchzuführen, bis sie in der Lage sind,
das medizinisch-theoretisch (wieder) ausgewiesene Leistungspotenzial mittels
Eigenanstrengung auszuschöpfen und erwerblich zu verwerten (Urteil 9C_ 543/2017
vom 7. November 2017 E. 3.1 mit Hinweisen). Diese Grundsätze sind auch in
Grenzfällen zu beachten, wo die versicherte Person diese Grenzwerte in Bezug
auf Alter und Bezugsdauer knapp nicht erreicht (BGE 141 V 5 E. 4.2.2 S. 8).  
 
7.2. Die Vorinstanz hat für das Bundesgericht verbindlich festgestellt (E. 1),
der Beschwerdeführer sei im Zeitpunkt der Rentenaufhebung auf Anfang März 2017
54 Jahre und fünf Monate alt gewesen und habe während vierzehn Jahren eine
ganze Rente bezogen. Anhaltspunkte, dass ihm eine Verwertung des massgeblichen
Leistungspotenzials ohne vorgängige Durchführung befähigender Massnahmen allein
mittels Eigenanstrengung nicht möglich wäre, seien den Akten nicht zu entnehmen
und würden denn auch nicht vorgebracht.  
 
7.3. Der Beschwerdeführer bringt vor, bis 1999 sei eine berufs- und
arbeitsmarktliche Total-Abstinenz einhergegangen. In der Schweiz habe er nur
gerade etwas mehr als ein Jahr beim C.________ gearbeitet, wo ihm gekündigt
worden sei. Für diese Tätigkeit sei er nicht mehr arbeitsfähig und wohl auch
nicht qualifiziert gewesen. Im Übrigen spreche er nur schlecht Deutsch. Diese
Vorbringen sind abgesehen von der Tätigkeit beim C.________ neu. Im
vorinstanzlichen Verfahren hatte er einzig geltend gemacht, aufgrund seines
Alters (54 Jahre) und der Rentenbezugsdauer (vierzehn Jahre) liege mindestens
ein gleich schwerer Fall vor, wie wenn er eines der beiden Kriterien
(mindestens fünfzehn Jahre Bezugsdauer oder das 55. Altersjahr zurückgelegt)
erfüllen würde. Der Beschwerdeführer legt nicht dar, dass und aus welchen Akten
sich diese Tatsachen ergeben sollen. Sie sind daher als unzulässige Noven im
Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG zu betrachten (BGE 136 V 362 E. 3.3.1 S. 364).  
 
7.4. Die vorinstanzliche Invaliditätsbemessung durch Einkommensvergleich (E. 4)
ist unbestritten geblieben.  
 
8.   
Die Beschwerde ist unbegründet. 
 
9.   
Ausgangsgemäss wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 21. Juni 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler 

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