Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 70/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     

{T 0/2}            
9C_70/2017

Urteil vom 15. Mai 2017

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch
Rechtsanwalt und dipl. Steuerexperte Beat Hunziker,
Beschwerdeführer,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 12. Dezember 2016.

Sachverhalt:

A. 
A.________ ist Eigentümer der Liegenschaft B.________. Bis 1973 führte er das
Restaurant B.________ als Selbstständigerwerbender. Auf den 1. April 1973 gab
er diese Tätigkeit auf und vermietete die Liegenschaft. Mit Revers vom 15.
Dezember 1976 erklärte er, das Gebäude Restaurant B.________ und die
Betriebseinrichtungen blieben auch nach dieser Vermietung Bestandteil des
Geschäftsvermögens. Die in diesen Wirtschaftsgütern allenfalls enthaltenen
stillen Reserven würden daher erst dann als Einkommen oder Liquidationsgewinn
steuerbar, wenn die Güter ihre Eigenschaft als Bestandteile seines
Geschäftsvermögens verlören.
Gestützt auf Meldungen des kantonalen Steueramtes Aargau setzte die
Ausgleichskasse mit Verfügungen vom 4. Juli 2016 die von A.________ für die
Jahre 2009 bis 2012 geschuldeten Beiträge aus selbstständiger Erwerbstätigkeit
auf Fr. 9'148.80 (2009), Fr. 12'768.- (2010), Fr. 10'951.20 (2011) und Fr.
12'872.40 (2012), je zuzüglich Verwaltungskosten, fest. Den Beitragsverfügungen
zugrunde lagen die mit der Vermietung der Liegenschaft B.________ erzielten
Erträge.
Auf Einsprache von A.________ hin hielt die Ausgleichskasse an ihren
Beitragsverfügungen fest (Entscheid vom 12. September 2016).

B. 
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher A.________ die Aufhebung des
Einspracheentscheids und der Beitragsverfügungen für die Jahre 2009 bis 2012
hatte beantragen lassen, wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab
(Entscheid vom 12. Dezember 2016).

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ in
formeller Hinsicht das Rechtsbegehren um Rückweisung der Sache an die
Ausgleichskasse stellen, damit diese auf die im Einspracheverfahren erhobenen
Einwände eingehe und in der Folge neu verfüge; in materieller Hinsicht lässt er
den vorinstanzlich gestellten Antrag erneuern.
Während die Ausgleichskasse auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet
das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Mit dem formellen Antrag macht der Beschwerdeführer eine Verletzung der
Begründungspflicht und des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch das kantonale
Gericht geltend. Dabei wiederholt er die im kantonalen Verfahren gegenüber dem
Einspracheentscheid der Ausgleichskasse erhobenen Einwendungen, welche die
Vorinstanz bereits entkräftet hat. Ferner stellt er die Rechtmässigkeit des
Sonderbeitrags auf dem Überführungsgewinn in Frage, der nicht Streitgegenstand
bildet. Schliesslich wendet er sich gegen die fehlende Begründung dafür, dass
seit 1973 bis 2008 keine Steuermeldungen erstellt und damit auch keine Beiträge
auf Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit erhoben wurden. Er begründet
jedoch nicht, inwiefern sich dieser Umstand auf die im angefochtenen Entscheid
bestätigte Beitragspflicht für die Jahre 2009 bis 2012 auswirken könnte, die
allein Streitgegenstand bildet. Dass sodann die Steuermeldungen an einem
relevanten formellen Mangel leiden sollten, ist nicht erkennbar, wie bereits
das kantonale Gericht festgestellt hat, während allfällige Fragen im
Zusammenhang mit dem Revers vom 15. Dezember 1976 materielles und nicht
formelles Recht beschlagen.

2. 
Im angefochtenen Entscheid sind die massgebenden Bestimmungen über das
Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit (Art. 9 Abs. 1 AHVG; Art. 17
AHVV), dessen Ermittlung durch die kantonalen Steuerbehörden und Meldung an die
Ausgleichskassen (Art. 9 Abs. 3 AHVG) sowie die Rechtsprechung zur
beitragsrechtlichen Qualifikation von Liegenschaften, die als Alternativgüter
zum Geschäfts- oder zum Privatvermögen gehören können (Urteil 2A.52/2003 vom
23. Januar 2004 E. 2.3) richtig wiedergegeben. Zutreffend dargelegt hat die
Vorinstanz auch die Rechtsprechung, wonach bei fehlender Abrechnung über die
stillen Reserven auf den zum Geschäftsvermögen gehörenden Liegenschaften bei
Geschäftsaufgabe die Liegenschaften im Geschäftsvermögen bleiben und die
laufenden Erträge der AHV-Beitragspflicht unterliegen (BGE 140 V 241).

3. 

3.1. Das kantonale Gericht hat die Beschwerde abgewiesen und sämtliche Einwände
des Beschwerdeführers gegen die mit dem Einspracheentscheid bestätigten
Beitragsverfügungen vom 4. Juli 2016 für die Jahre 2009 bis 2012 verworfen. So
erachtete es die Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Reverses
noch keine gesetzliche Grundlage für die Erhebung von Beiträgen vorgelegen
habe, als unerheblich. Es fänden sich im Gesetz, in den Materialien oder der
Rechtsprechung keine Hinweise darauf, dass vor 1984 abgeschlossene Reverse für
die Frage der Beitragspflicht verbindlich wären. Für die Beitragsveranlagung
2009 bis 2012 kämen demnach auch für den Beschwerdeführer und seine sich aus
steuer- und AHV-rechtlicher Sicht im Geschäftsvermögen befindliche Liegenschaft
B.________ die im Zeitpunkt der jeweiligen Beitragsperiode gültigen Normen zur
Anwendung. Entgegen den Behauptungen des Beschwerdeführers liege vor diesem
Hintergrund weder ein Verstoss gegen das Rückwirkungsverbot noch gegen das
Gebot von Treu und Glauben vor. Echte Rückwirkung läge nur vor, wenn vom
Beschwerdeführer persönliche Beiträge für einen Zeitraum vor dem für ihn
massgeblichen Stichtag (1. Januar 1984) gefordert würden; ob von unechter
Rückwirkung, d.h. der Anwendung neuen Rechts auf Dauersachverhalte, die schon
unter der Herrschaft des alten Rechts entstanden und bei Inkrafttreten des
neuen Rechts noch andauern, auszugehen ist, könne offen bleiben. Unechte
Rückwirkung sei grundsätzlich zulässig, es sei denn, die betroffene Person habe
im Vertrauen auf die Weitergeltung des bisherigen Rechts Dispositionen
getroffen, die sich ohne Nachteil nicht wieder rückgängig machen lassen. In
solchen Fällen sei den Betroffenen eine angemessene Übergangszeit zu gewähren.
Eine entsprechende Übergangszeit wäre 2009, rund 25 Jahre nach der vom
Beschwerdeführer genannten Gesetzesänderung, längst abgelaufen gewesen. Dass
bis 2009 nie AHV-Beiträge auf dem Ertrag aus der Liegenschaft B.________
erhoben wurden, sei darauf zurückzuführen, dass die Ausgleichskasse mangels
Steuermeldung keine Kenntnis von einem Ertrag aus der Vermietung der
Liegenschaft hatte. Von einem Verzicht auf die entsprechenden Beiträge könne
keine Rede sein.

4. 

4.1. Der Auffassung der Vorinstanz ist beizupflichten. Die in der Beschwerde
unter dem Titel "Materielles" vorgebrachten Einwendungen sind nicht geeignet,
zu einem abweichenden Ergebnis zu führen. Die Steuermeldungen für die
Beitragsjahre 2009 bis 2012 waren für die Ausgleichskasse verbindlich. Sie
enthalten keine klar ausgewiesenen Irrtümer, die ein Abweichen hievon erlauben
würden (BGE 110 V 83 E. 4 S. 86; E. 6 des in BGE 141 V 377 auszugsweise
publizierten Urteils 9C_797/2014 vom 28. Mai 2015). Vielmehr waren darin die
Einkünfte aus der Vermietung der Liegenschaft B.________ aufgeführt. Ob der
Beschwerdeführer nach 35 Jahren ohne Beitragszahlung auf den genannten
Einkünften aus der Liegenschaft durch die Verfügungen überrascht wurde, wie er
geltend macht, ist unerheblich. Ein gesetzwidriges Verhalten hat ihm die
Vorinstanz sodann nicht vorgeworfen, und die Tatsache, dass er während 35
Jahren keine Beiträge als Selbstständigerwerbender entrichtet hat, entbindet
ihn nicht von der Beitragszahlung für die Jahre 2009 bis 2012. Es mag
zutreffen, dass die Veranlagung für die direkte Bundessteuer neu Einkommen aus
selbstständiger Erwerbstätigkeit enthalten hat. Dies ist jedoch unerheblich und
auch für die Belange des AHV-Beitragsrechts nicht entscheidend. Nach ständiger
Praxis des Bundesgerichts kommt einer Veranlagung bei periodischen Steuern nur
für die betreffende Periode Rechtskraft zu; die tatsächlichen und rechtlichen
Verhältnisse können daher in einem späteren Veranlagungszeitraum durchaus
anders gewürdigt werden (Urteil 2C_361/2011 vom 8. November 2011 E. 3.3 mit
Hinweisen). Im Übrigen hätte der Beschwerdeführer Unklarheiten in der
Steuerveranlagung direkt mit der Veranlagungsbehörde bereinigen oder im
Steuerjustizverfahren geltend machen müssen. Beim erst letztinstanzlich
erhobenen Einwand, Steuerveranlagung und Steuermeldung stimmten hinsichtlich
der Höhe des Einkommens aus dem Liegenschaftsvermögen nicht überein, handelt es
sich um eine unzulässige neue Tatsachenbehauptung, die bereits im
erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren hätte vorgebracht werden können (Art. 99
Abs. 1 BGG).

4.2. Wie sich der Ausgang des vorliegenden AHV-rechtlichen Beschwerdeverfahrens
auf die Steuerveranlagungen für die Jahre 2009 bis 2012 auswirkt, namentlich
bezüglich der Frage, ob die Einkünfte aus der Vermietung der Liegenschaft als
Einkommen aus selbstständiger oder unselbstständiger Erwerbstätigkeit zu gelten
haben, ist hier nicht zu prüfen.

4.3. Unerheblich ist sodann der Rechtszustand, wie er 1976, bei Unterzeichnung
des Reverses, gegolten hat. Für die Beitragsfestsetzung für die Jahre 2009 bis
2012 finden die Rechtssätze Anwendung, die in diesem Zeitraum gegolten haben.
Im Übrigen scheint der Beschwerdeführer zu verkennen, dass es im vorliegenden
Fall nicht um einen Überführungsgewinn geht, der beim Übergang der Liegenschaft
vom Geschäfts- ins Privatvermögen entsteht, sondern um den Ertrag aus der
Vermietung der Liegenschaft B.________, welcher als Einkommen aus
selbstständiger Erwerbstätigkeit der Beitragspflicht unterliegt, solange die
Liegenschaft zum Geschäftsvermögen gehört. Entgegen der beschwerdeweise
vorgetragenen Behauptung ist nirgends ersichtlich, dass die Ausgleichskasse den
Versicherten schon im Jahre 1973 qualifiziert und in Kenntnis der
Steuerveranlagungen - sei es ausdrücklich, stillschweigend oder konkludent -
aus der Beitragspflicht entlassen hat. Der Beschwerdeführer vermag denn auch
keine Beweismittel für eine solche Handlungsweise der Ausgleichskasse zu
nennen.

4.4. Schliesslich ist die wiederholte Berufung des Beschwerdeführers auf den
Grundsatz von Treu und Glauben, der den Bürger unter bestimmten Voraussetzungen
in seinem berechtigten Vertrauen auf behördliches Verhalten schützt, auch im
Zusammenhang mit der materiellen Seite des Rechtsstreits unbegründet. Dass die
Ausgleichskasse AHV-Beiträge verfügt hat, die bei Unterzeichnung des Reverses
im Jahre 1976 nicht absehbar waren, verletzt diesen Grundsatz nicht. Ebenso
wenig lässt sich ein Verstoss gegen den Vertrauensschutz im Umstand erkennen,
dass die Ausgleichskasse vor 2009 keine Beiträge erhoben hat und die nunmehr
festgesetzten AHV-Beiträge nicht mehr rentenbildend sind. Immerhin ist darauf
hinzuweisen, dass nach Art. 6quarter Abs. 2 AHVV Männer, die das 65. Altersjahr
vollendet haben, vom Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit nur für den
Teil Beiträge entrichten, der Fr. 16'800.- im Jahr übersteigt. Nach den
verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 97 Abs. 1 und 105 Abs. 1 BGG)
hatte die Ausgleichskasse bis zur erstmaligen Meldung der Liegenschaftserträge
durch die Steuerbehörden keine Kenntnis von einem beitragspflichtigen Einkommen
aus selbstständiger Erwerbstätigkeit, weshalb ihr kein Fehlverhalten
vorgeworfen werden kann, das für den Beschwerdeführer unter Umständen eine
Vertrauensposition des Inhalts hätte schaffen können, dass er nach Treu und
Glauben auch in den Jahren 2009 bis 2012 keine Beiträge auf den
Liegenschaftseinkommen zu bezahlen hat. Aus einer allfälligen, während Jahren
andauernden Unterlassung der Steuerverwaltung, entsprechende
Liegenschaftserträge der Ausgleichskasse zu melden, könnte der Beschwerdeführer
im AHV-Beitragsverfahren nicht zu seinen Gunsten ableiten. Ob ein solches
Fehlverhalten vorliegt, ist daher nicht zu prüfen.

5. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 3'500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 15. Mai 2017

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Pfiffner

Der Gerichtsschreiber: Widmer

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