Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 677/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_677/2017  
 
 
Urteil vom 8. Juni 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin N. Möckli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
SWICA Krankenversicherung AG, Rechtsdienst, Römerstrasse 38, 8400 Winterthur, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (medizinische Massanhmen), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 7. September 2017 (IV 2016/61). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 2005 geborene A.________ leidet aufgrund einer im Alter von wenigen Wochen
erlittenen Meningoencephalitis und Sepsis insbesondere an einer spastischen
Cerebralparese, zentralen Sehstörung und allgemeinen Entwicklungsverzögerung.
Die Invalidenversicherung erbrachte verschiedene Leistungen, wobei sie u.a. von
August 2010 bis April 2015 Kostengutsprache für Ergotherapie gewährte
(Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 7. Februar 2011aufgehoben
durch den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 29.
Oktober 2012, Mitteilungen der IV-Stelle vom 8. Januar und 28. März 2013). 
Die Verwaltung prüfte in der Folge, ob A.________ weiterhin Anspruch auf durch
die Invalidenversicherung finanzierte Ergotherapie habe. Sie holte hierzu
namentlich Berichte der Ergotherapeutin B.________ von Juni 2015sowie des Dr.
med. C.________, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderspital
D.________, vom 25. August 2015 ein und unterbreitete die Akten dem Regionalen
Ärztlichen Dienst (RAD; Stellungnahme vom 23. Oktober 2015). Nach Durchführung
des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 28. Januar
2016 einen Anspruch auf medizinische Massnahmen in Form von Ergotherapie im
Wesentlichen mit der Begründung, die Versicherte könne prognostisch später
beruflich nicht in die freie Wirtschaft integriert werden. Damit seien die
Voraussetzungen von Art. 12 IVG nicht erfüllt. 
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde des zuständigen obligatorischen
Krankenversicherers, der SWICA Krankenversicherung AG, hiess das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen gut und stellte fest, A.________
habe über den 30. April 2015 hinaus Anspruch auf Kostenvergütung der
Ergotherapie (Entscheid vom 7. September 2017). 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Bestätigung ihrer
Verfügung vom 28. Januar 2016. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob Bundesrecht verletzt wurde, indem die
Vorinstanz die Beschwerdeführerin verpflichtete, ab Mai 2015 weiterhin die
Kosten für Ergotherapie als medizinische Massnahme im Rahmen von Art. 12 IVG zu
übernehmen.  
 
2.2. Gemäss Art. 12 IVG und Art. 2 Abs. 1 IVV besteht ein Anspruch auf
Übernahme medizinischer Massnahmen durch die Invalidenversicherung, wenn durch
diese Vorkehr stabile oder wenigstens relativ stabilisierte Folgezustände von
Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall (im Einzelnen: Beeinträchtigungen der
Körperbewegung, der Sinneswahrnehmung oder der Kontaktfähigkeit) behoben oder
gemildert werden, um die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern
oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Der Eingliederungserfolg
ist bei jüngeren Versicherten als dauernd zu betrachten, wenn er wahrscheinlich
während eines bedeutenden Teils der konkreten Aktivitätserwartung, welche
ihrerseits nicht wesentlich herabgesetzt sein darf, erhalten bleiben wird (AHI
2000 S. 297, I 626/99 E. 1c mit Hinweisen). Bestehen Nebenbefunde, welche
geeignet sind, die Aktivitätserwartung trotz der medizinischen Massnahme
wesentlich herabzusetzen, ist die Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolgs zu
verneinen (Urteil 9C_695/2009 vom 1. Dezember 2009 E. 2.1). Ob der
Eingliederungserfolg dauerhaft sein wird, ist prognostisch zu beurteilen.
Massgebend ist der medizinische Sachverhalt vor Durchführung der Massnahme in
seiner Gesamtheit. Die erforderliche Prognose bei einem Kind muss zwei Aussagen
enthalten: Zunächst muss erstellt sein, dass ohne die vorbeugende Behandlung in
naher Zukunft mit Wahrscheinlichkeit eine bleibende Beeinträchtigung eintreten
würde; zugleich muss erstellt sein, dass durch die Behandlung ein stabiler
Zustand herbeigeführt werden kann, in welchem vergleichsweise erheblich
verbesserte Voraussetzungen für die spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit
bestehen (Urteile 8C_632/2017 vom 6. März 2018 E. 5.3.1; Silvia Bucher,
Eingliederungsrecht der Invalidenversicherung, 2011, S. 155 Rz. 245 mit
Hinweisen).  
 
3.  
 
3.1. Das kantonale Gericht begründet seine Bejahung der Leistungspflicht gemäss
Art. 12 IVG damit, bei der knapp elfjährigen Versicherten sei eine plausible
Prognose zur späteren Eingliederungsfähigkeit nicht möglich. Daran änderten die
Angaben der behandelnden Ärzte, die berufliche Eingliederung werde später wohl
nur im geschützten Rahmen möglich sein, nichts. Nachdem hier bei
Beweislosigkeit eine Beweislastumkehr angezeigt sei, habe die Versicherte
weiterhin Anspruch auf Kostenvergütung der Ergotherapie.  
 
3.2. Die Beschwerdeführerin bringt dagegen im Wesentlichen vor, aufgrund der
vorliegenden Berichte könne nicht überwiegend wahrscheinlich davon ausgegangen
werden, dass die Versicherte in den ersten Arbeitsmarkt integrierbar sein
werde. Vielmehr bestehe eine ungünstige Prognose. Die Vorinstanz habe
diesbezüglich den Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt, weshalb
daran nicht festgehalten werden könne.  
 
4.   
 
4.1. Indem das kantonale Gericht generell auf Beweislosigkeit bezüglich einer
Eingliederungsprognose bei Kindern schloss, anstatt diese konkret auf den Fall
bezogen prognostisch zu beurteilten, verletzte es Bundesrecht.  
 
4.2. Der angefochtene Entscheid beinhaltet betreffend den Eingliederungserfolg
keine abschliessenden Feststellungen. Aus den Akten ergibt sich (Art. 105 Abs.
2 BGG), dass die 2005 geborene Versicherte in Folge einer im Alter von wenigen
Wochen erlittenen Meningoencephalitis und Sepsis an einer spastischen
Cerebralparese, zentralen Sehstörung und allgemeinen Entwicklungsverzögerung
leidet. Bei der entwicklungspädiatrischen Untersuchung vom 12. Mai 2015 durch
Dr. med. C.________ zeigte sich im Bereich kognitive Entwicklung/Spielverhalten
und Sprache der Entwicklungsstand eines etwa vierjährigen Kindes. Der Arzt
erachtete im Bericht vom 25. August 2015 die Prognose bezüglich Verhinderung
muskoloskelettaler Komplikationen und einer späteren Integration in den
Arbeitsprozess im geschützten Rahmen als gut (vgl. auch ebenso die
Stellungnahme des RAD vom 23. Oktober 2015).  
 
4.3. Angesichts der ärztlichen Einschätzung ist somit davon auszugehen, dass
die Versicherte später in der Lage sein wird, eine Tätigkeit in einer
geschützten Werkstätte zu verrichten. Die Tatsache an sich, dass keine
Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt möglich sein wird, genügt entgegen der
Auffassung der Beschwerdeführerin aber nicht, um eine Leistungsverweigerung zu
begründen. Ein prognostischer Eingliederungserfolg erfordert lediglich, dass
die versicherte Person mit der zukünftigen beruflichen Tätigkeit
voraussichtlich ein Einkommen von einigen hundert Franken (und nicht bloss ein
"Nulleinkommen") erwirtschaften wird können (Urteile I 408/06 vom 15. März 2007
E. 4.2 und I 196/94 vom 30. Dezember 1994 E. 2b). Ein solches Einkommen kann
durchaus mit einer Arbeit in einer geschützten Werkstätte erzielt werden. Eine
Eingliederung in einer geschützten Werkstatt schliesst somit eine günstige
Prognose des Eingliederungserfolgs und damit einen Anspruch auf medizinische
Massnahmen nach Art. 12 IVG nicht aus. Sofern die Beschwerdeführerin einen
Anspruch auf medizinische Massnahmen unter Verweis auf das Urteil 9C_842/2016
vom 27. April 2016 (E. 5.3) mit der Begründung verneint, die Versicherte könne
voraussichtlich dereinst nicht in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden,
greift diese Begründung zu kurz.  
Die Abklärungen und Ausführungen der Beschwerdeführerin geben keinen Anhalt,
dass die Versicherte später nur eine reine Beschäftigungstätigkeit ohne
Erzielung eines im hiesigen Kontext relevanten Einkommens ausüben wird können.
Vielmehr ist, prognostisch beurteilt, gemäss den medizinischen Angaben die
Ausübung einer Arbeit im geschützten Bereich möglich, was das Erwirtschaften
eines Einkommens von monatlich einigen hundert Franken als realistisch
erscheinen lässt. Folglich ist von einer günstigen Prognose im Sinne des
Gesetzes auszugehen und der vorinstanzliche Entscheid im Ergebnis zu
bestätigten. Wie die Vorinstanz zutreffend erwogen hat, steht dieses Ergebnis
einer späteren revisionsweisen Überprüfung des Anspruchs nicht entgegen. 
 
5.   
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, A.________ und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich
mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 8. Juni 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Möckli 

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