Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 651/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_651/2017  
 
 
Urteil vom 19. Juni 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Huber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, 
vertreten durch die Soziale Dienste der Stadt Winterthur,
Sozialversicherungsfachstelle, Pionierstrasse 5, 8403 Winterthur, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 14. Juli 2017 (IV.2016.01132). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________ meldete sich mit Gesuch vom 10. Februar 2014 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich
holte bei der Academy of Swiss Insurance Medicine (asim) ein bidisziplinäres
Gutachten vom 21. April 2016 ein und wies das Leistungsbegehren nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens mit Verfügung vom 7. September 2016 ab. 
 
B.   
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 14. Juli 2017
ab. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und der Verfügung vom
7. September 2016 "eine Rente der Invalidenversicherung". Eventualiter verlangt
sie die Rückweisung an die IV-Stelle "zur rechtsgenüglichen
Sachverhaltsabklärung". Ausserdem ersucht sie um unentgeltliche
Prozessführung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (
Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht zu Recht in Bestätigung
der Verfügung vom 7. September 2016 einen Rentenanspruch verneinte. 
 
3.   
 
3.1. Die Vorinstanz erwog, dem asim-Gutachten vom 21. April 2016 komme in
medizinischer Hinsicht Beweiswert zu. Danach leide die Versicherte an einer
chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10
F45.41). Aus rheumatologischer Sicht beständen keine Einschränkungen. Der
Schlussfolgerung der Gutachter, wonach die Beschwerdeführerin aus
psychiatrischen Gründen in der bisherigen Tätigkeit 40 bis 50 % arbeitsunfähig
sowie mindestens 70 % arbeitsfähig in einer angepassten Tätigkeit sei, könne
indessen nach Prüfung der gemäss BGE 141 V 281 massgebenden Indikatoren nicht
gefolgt werden.  
 
3.2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, aufgrund der 50 %igen
Arbeitsfähigkeit und der Unüberwindbarkeit der chronischen Schmerzstörung habe
sie einen Anspruch auf eine Invalidenrente.  
 
4.  
 
4.1. Im Hinblick auf die Beurteilung, ob die chronische Schmerzstörung
invalidisierend wirkt, zählen als Tatsachenfeststellungen, welche das
Bundesgericht nur eingeschränkt überprüfen kann, alle Feststellungen der
Vorinstanz, die auf der Würdigung von ärztlichen Angaben und Schlussfolgerungen
betreffend Diagnose und Folgenabschätzung beruhen. Als Rechtsfrage frei
überprüfbar ist hingegeben, ob und in welchem Umfang die ärztlichen
Feststellungen anhand der rechtserheblichen Indikatoren auf die
Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG) schliessen lassen (BGE 141 V 281 E. 7 S. 308
f.).  
 
4.2.  
 
4.2.1. Bei der Anspruchsprüfung nach BGE 141 V 281 ist zunächst auf den Verlauf
und Ausgang von Therapien als wichtige Schweregradindikatoren einzugehen (BGE
141 V 281 E. 4.3.1.2 S. 299 f.). Die Vorinstanz erkannte dazu unter anderem,
von einer Behandlungsresistenz und von der Ausschöpfung der
Behandlungsmöglichkeiten könne nicht die Rede sein. Gemäss Expertise würden die
Laborergebnisse auf eine teilweise medikamentöse Incompliance hindeuten. Die
asim-Gutachter seien jedoch zum Schluss gekommen, bei der Versicherten liege
aus psychiatrischer Sicht kein Endzustand vor und die Arbeitsfähigkeit könne
durch medizinische Massnahmen verbessert werden.  
Rückschlüsse auf den Schweregrad einer Gesundheitsschädigung ergeben sich nicht
nur aus der medizinischen Behandlung, sondern auch aus der Eingliederung im
Rechtssinne. Denn so wie die zumutbare ärztliche Behandlung die versicherte
Person als eine Form von Selbsteingliederung in die Pflicht nimmt, hat sich
jene in beruflicher Hinsicht primär selbst einzugliedern und, soweit angezeigt,
hat sie an entsprechenden Eingliederungs- und Integrationsmassnahmen
teilzunehmen (BGE 141 V 281 E. 4.3.1.2 S. 300). Laut kantonalem Gericht ist die
Motivation der Versicherten, alternative Arbeitstätigkeiten auszuüben,
fraglich, und invaliditätsfremde Gründe erschweren eine berufliche Integration.
Es stützte sich bei diesen Feststellungen auf den Zwischenbericht der
B.________, vom 9. Juni 2015. Danach sieht die Beschwerdeführerin keine reale
Optionen für sich und lässt sich bis jetzt nicht motiviert auf alternative
Arbeitsmöglichkeiten ein. Sie vermag mit der Rüge, die Vorinstanz hätte ihren
Arbeitsversuch im Rahmen der Prüfung der Standardindikatoren zu ihren Gunsten
werten müssen, keine willkürliche Sachverhaltsfeststellungen aufzuzeigen,
weshalb das Bundesgericht an die vorinstanzlichen Feststellungen gebunden ist
(E. 1 hiervor). Sie führt denn auch nicht aus und es ist auch nicht
ersichtlich, inwiefern dieser Arbeitsversuch mit Blick auf die vorinstanzlichen
Feststellungen und den Umstand, dass sie das ihr medizinisch durchaus zumutbare
Pensum von 50 % aufgrund diverser Absenzen nicht umzusetzen vermochte, zu ihren
Gunsten gewertet werden kann. 
 
4.2.2. Unter dem Indikator Komorbidität (BGE 141 V 281 E. 4.3.1.3 S. 300 ff.)
ist eine Gesamtbetrachtung der Wechselwirkungen und sonstigen Bezüge der
Schmerzstörung zu sämtlichen begleitenden krankheitswertigen Störungen
erforderlich. In Präzisierung von BGE 141 V 281 E. 4.3.1.3 fallen Störungen
unabhängig von ihrer Diagnose bereits dann als rechtlich bedeutsame
Komorbidität in Betracht, wenn ihnen im konkreten Fall ressourcenhemmende
Wirkung beizumessen ist (BGE 143 V 418 E. 8.1 S. 429 f.). Der Umstand, dass die
im vorliegenden Fall diagnostizierte chronische Schmerzstörung (ICD-10 F45.41)
somatische und psychische Faktoren beinhaltet, führt entgegen der Versicherten
nicht dazu, dass diese bereits bei der Diagnosestellung berücksichtigten
Faktoren darüber hinaus als rechtlich bedeutsame Komorbiditäten heranzuziehen
sind. Laut Expertise der asim vom 21. April 2016 würden die Beschwerdebilder
aus rheumatologischer Sicht (muskuläre Dysbalance und chronisches
thorako-lumbales Schmerzsyndrom) keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit nach
sich ziehen. Dass diese Diagnosen ressourcenhemmende Wirkungen hätten, geht aus
dem Gutachten nicht hervor. Das kantonale Gericht stellte darüber hinaus fest,
der psychiatrische Gutachter habe nachvollziehbar dargelegt, weshalb keine
weiteren psychiatrischen Diagnosen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit
vorhanden seien. So seien die Experten zum Schluss gekommen, es läge keine
somatische oder psychiatrische Komorbidität vor.  
 
4.2.3. Die Vorinstanz gelangte ferner zum Schluss, beim sozialen Kontext (BGE
141 V 281 E. 4.3.3 S. 303) sei auf die invaliditätsfremden psychosozialen
Belastungsfaktoren hinzuweisen (Migrationshintergrund, fehlende
Deutschkenntnisse und die Kündigung aus betrieblichen Gründen). Der
Lebenskontext der Versicherten lasse auf vorhandene Ressourcen schliessen
(Freizeitaktivitäten, Hobbys, unauffällige soziale Kontakte innerhalb der
Herkunftsfamilie sowie eine Partnerschaft, welche sie als unterstützend und
fürsorglich erlebe). Das kantonale Gericht erkannte ausserdem, weder die
behandelnden Ärzte noch die Gutachter hätten von einer auffälligen
Persönlichkeitsstruktur (BGE 141 V 281 E. 4.3.2 S. 302) berichtet. Mit Blick
auf die grundlegenden intakten psychischen Funktionen seien keine wesentlichen
funktionellen Einschränkungen ersichtlich. Auffällige oder für die
Schmerzaufrechterhaltung relevante Persönlichkeitsfaktoren hätten nicht
nachgewiesen werden können. Es sei von einer blanden Krankheitsgeschichte
auszugehen. Diese Sachverhaltsfeststellungen bestreitet die Beschwerdeführerin
nicht, weshalb sie letztinstanzlich verbindlich sind (E. 1 hiervor).  
 
4.2.4. Im Rahmen der Konsistenzprüfung (BGE 141 V 281 E. 4.4 S. 303 f.)
erkannte die Vorinstanz, der begutachtende Psychiater habe einen nicht
erheblichen Widerspruch zwischen dem Ausmass der geschilderten Beschwerden und
der Intensität der bisherigen Inanspruchnahme therapeutischer Hilfe
festgestellt. Die Blutspiegelkonzentrationen der verordneten Medikamente seien
etwas auffällig. Einerseits sei das Saroten retard nicht mehr nachweisbar
gewesen. Andererseits hätten die Werte des Lyrica unter der Norm gelegen. Dies
weise auf eine teilweise medikamentöse Incompliance hin. Die Versicherte bringt
vor, die Vorinstanz habe fälschlicherweise behauptet, es würden Inkonsistenzen
bestehen. Soweit sie diese Rüge mit einem Zitat aus dem Gutachten begründet,
vermag sie nicht darzutun, inwiefern die vorinstanzlichen
Sachverhaltsfeststellungen diesbezüglich offensichtlich unrichtig sein sollen
(E. 1 hiervor). Es bleibt darauf hinzuweisen, dass die Inkonsistenzen zwischen
dem geltend gemachten hohen Leidensdruck und der mangelnden Bereitschaft, sich
auf alternative Arbeitstätigkeiten einzulassen (vgl. E. 4.2.1 hiervor), als
Indiz dafür zu werten sind, dass die Beeinträchtigungen anders zu begründen
sind als durch eine versicherte Gesundheitsschädigung.  
 
4.3. Nach dem Gesagten zeigt die vorinstanzliche Würdigung des Gutachtens in
Anwendung der Rechtsprechung schlüssig auf, weshalb die von den asim-Gutachtern
gestellte Diagnose einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und
psychischen Faktoren trotz medizinisch attestierter 30%iger Arbeitsunfähigkeit
in einer angepassten Tätigkeit keine invalidenversicherungsrechtlich relevante
Einschränkung zu begründen vermag. Eine Abweichung hiervon bzw. eine andere
Würdigung des Sachverhalts steht dem Bundesgericht nur zu, wenn die Vorinstanz
den Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt hat. Es reicht nicht aus,
die vom kantonalen Gericht gezogenen Schlüsse als willkürlich zu bezeichnen,
wenn sie nicht mit den Darstellungen der Beschwerdeführerin übereinstimmen. Die
Versicherte vermag sodann nicht darzulegen, inwiefern die Erwägungen im
angefochtenen Entscheid Bundesrecht verletzen. Indem das kantonale Gericht
anhand der medizinischen Indikatorenprüfung schlüssig die massgeblichen
Beweisthemen im Rahmen einer umfassenden Betrachtung eines stimmigen
Gesamtbildes abhandelte, schloss es rechtsprechungsgemäss, dass aus
juristischer Sicht der medizinisch attestierten Arbeitsunfähigkeit nicht
gefolgt werden kann (BGE 141 V 281 E. 5.2 S. 306 f. und 140 V 193). Demnach
stellt es keine Rechtsverletzung dar, wenn es der gutachterlich attestierten
30%igen Arbeitsunfähigkeit die rechtliche Relevanz absprach und feststellte, es
liege kein invalidisierender Gesundheitsschaden vor.  
 
4.4. Die Beschwerdeführerin bemängelt, die Vorinstanz habe es unterlassen, die
Gutachterstelle zu befragen, wie ihr Arbeitsversuch zu werten sei bzw. ob sich
diese Tatsache auf das Gutachten auswirken würde. Ob und gegebenenfalls welche
Berichte in der Expertise erwähnt und diskutiert werden, liegt im Ermessen der
Gutachter (Urteil 9C_24/2015 vom 19. Juni 2015 E. 4.2). Entscheidend ist, dass
den Experten sämtliche Unterlagen zur Verfügung standen. Das Gutachten verweist
einleitend unter der Überschrift "2. Grundlagen für das Gutachten; vorhandene
Akten" auf das vollständige Dossier im Zeitpunkt des Auftrags (29. Oktober
2016). Es ist mithin davon auszugehen, dass die Expertise in Kenntnis des
Berichtes vom 9. Juni 2015 verfasst wurde. Die Vorinstanz handelt entgegen der
Versicherten nicht willkürlich, wenn sie im Rahmen der Beweiswürdigung zum
Schluss kam, in Bezug auf die funktionellen Einschränkungen komme der
medizinischen Beurteilung - und nicht dem Bericht über den Arbeitsversuch -
Vorrang zu. Es besteht kein Anlass für die letztinstanzlich beantragte weitere
Sachverhaltsabklärung. Die Beschwerde ist unbegründet.  
 
5.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die unterliegende
Beschwerdeführerin grundsätzlich die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1
Satz 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Prozessführung kann jedoch
entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Sie hat
indessen der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage
ist (Art. 64 Abs. 4 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Prozessführung gewährt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 19. Juni 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber 

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