Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 639/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_639/2017  
 
 
Urteil vom 22. März 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless. 
Gerichtsschreiber Fessler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dieter Studer, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, St. Gallerstrasse
11, 8500 Frauenfeld, 
Beschwerdegegnerin, 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Rente), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
12. Juli 2017 (VV.2016.254). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________ meldete sich im Februar 2014 bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. In diesem Zeitpunkt stand sie in teilstationärer Behandlung
in der B.________, Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, wo sie sich
bereits vom 13. September bis 31. Oktober 2013 aufgehalten hatte. Es folgten
eine weitere stationäre Behandlung vom 22. Oktober bis 19. November 2014 sowie
eine teilstationäre Behandlung vom 8. April bis 14. August 2015. U.a. gestützt
auf das polydisziplinäre Gutachten des ABI Ärztliches Begutachtungsinstitut
GmbH vom 12. Januar 2016 verneinte die IV-Stelle des Kantons Thurgau nach
durchgeführtem Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom 2. August 2016 einen
Rentenanspruch. 
 
B.   
Die Beschwerde der A.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
als Versicherungsgericht nach Einholung einer Stellungnahme der
Gutachterstelle, wozu sich die Parteien äussern konnten, mit Entscheid vom 12.
Juli 2017 ab. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 12. Juli 2017 sei aufzuheben; es sei ihr ab 1. August 2014
eine ganze Rente und ab 1. Juni 2016 mindestens eine halbe Rente zuzusprechen;
eventualiter sei die Sache zur Vornahme ergänzender Abklärungen an das
kantonale Verwaltungsgericht oder an die IV-Stelle zurückzuweisen. 
 
Die IV-Stelle ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerdeführerin hat einen Bericht der B.________ vom 11. September 2017
eingereicht. Dieses Dokument hat als echtes Novum ausser Acht zu bleiben (Art.
105 Abs. 1 BGG; BGE 140 V 543 E. 3.2.2.2 S. 548). In Bezug auf die beigelegten
zwei Vorberichte vom 17. Mai und 29. Juni 2017 wird mit keinem Wort gesagt,
inwiefern erst der angefochtene Entscheid Anlass gibt, sie vorzubringen. Sie
können somit ebenfalls nicht berücksichtigt werden (Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE 134
V 223 E. 2.2.1 S. 226). 
 
2.   
Streitgegenstand bildet der Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Rente der
Invalidenversicherung. 
 
3.   
Die Vorinstanz hat durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG i.V.m. Art. 28a Abs.
1 IVG) einen Invaliditätsgrad von 30 % ([[Fr. 72'111.- - Fr. 50'597.-]/Fr.
72'111.-] x 100 %; zum Runden BGE 130 V 121) ermittelt, was für den Anspruch
auf eine Rente nicht ausreicht (Art. 28 Abs. 2 IVG). Dabei ist sie entsprechend
dem ABI-Gutachten vom 12. Januar 2016 von einer Arbeitsfähigkeit von 70 % in
der angestammten und in jeder anderen angepassten Tätigkeit seit April 2014
ausgegangen. 
 
4.   
Die Beschwerdeführerin bestreitet einzig den Beweiswert des psychiatrischen
ABI-Teilgutachtens. Sie macht im Wesentlichen geltend, entgegen dem Experten
könne aufgrund der Angaben der behandelnden Fachärzte nicht ab 2013 "gemittelt
über den Verlauf" durchgehend von einer Arbeitsfähigkeit von 70 % in der
angestammten Tätigkeit als Gewerkschaftssekretärin ausgegangen werden. 
 
5.   
 
5.1. Einem ärztlichen Bericht kommt Beweiswert zu, wenn er für die streitigen
Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die
geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese)
erstellt worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Situation und
Zusammenhänge einleuchtet und wenn die Schlussfolgerungen des Arztes begründet
sind (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232).  
 
5.2.  
 
5.2.1. Im Gutachten des ABI vom 12. Januar 2016 wurden folgende Diagnosen mit
Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit gestellt: 1. Leichte depressive Episode
(ICD-10 F32.0). 2. Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43.1). 3.
Rezidivierende Diarrhoe (ICD-10 K52.9). Auf dieses Beschwerdebild ist die
Rechtsprechung gemäss BGE 141 V 281 anwendbar (vgl. BGE 142 V 342 und BGE 143 V
409). Danach beurteilt sich das Vorliegen einer rechtlich relevanten Arbeits-
und Erwerbsunfähigkeit im Rahmen eines strukturierten Beweisverfahrens anhand
von systematisierten Indikatoren, die - unter Berücksichtigung von
leistungshindernden äusseren Belastungsfaktoren einerseits und von
Kompensationspotentialen (Ressourcen) anderseits - erlauben, das tatsächlich
erreichbare Leistungsvermögen einzuschätzen (Urteil 9C_590/2017 vom 15. Februar
2018 E. 5.1).  
 
Der psychiatrische Gutachter des ABI orientierte sich an den normativen
Vorgaben gemäss BGE 141 V 281. 
 
5.2.2. Mit BGE 143 V 418 hat das Bundesgericht BGE 141 V 281 E. 4.3.1.3 S. 300
insofern präzisiert, dass Störungen unabhängig von ihrer Diagnose bereits dann
als rechtlich bedeutsame Komorbidität in Betracht fallen, wenn ihnen im
konkreten Fall ressourcenhemmende Wirkung beizumessen ist. In diesem Rahmen
stellen Verlauf und Ausgang von Therapien wichtige Schweregradindikatoren dar
(Urteil 9C_563/2017 vom 23. Februar 2018 E. 8.1). Es ist Aufgabe des
medizinischen Sachverständigen, nachvollziehbar aufzuzeigen, weshalb trotz
(leichter bis) mittelschwerer Depression und an sich guter Therapierbarkeit der
Störung im Einzelfall funktionelle Leistungseinschränkungen resultieren, die
sich auf die Arbeitsfähigkeit auswirken (Urteil 9C_590/2017 vom 15. Februar
2018 E. 5.1).  
 
Das ABI-Gutachten vom 12. Januar 2016 wurde vor den Urteilen BGE 143 V 409 und
BGE 143 V 418 erstellt. Dadurch verliert es indessen nicht per se seinen
Beweiswert (Urteil 9C_590/2017 vom 15. Februar 2018 E. 5.2). 
 
6.  
 
6.1. Nach Einschätzung des psychiatrischen Gutachters des ABI besteht bei der
Beschwerdeführerin in der bisherigen Tätigkeit als Gewerkschaftssekretärin eine
Arbeitsfähigkeit von 70 %, realisierbar auch in einem ganztägigen Pensum mit
der Möglichkeit zu vermehrten Pausen. Von dieser Arbeitsfähigkeit könne seit
2013 gemittelt über den Verlauf ausgegangen werden, nachdem auch in den Akten
fachärztlich eine Arbeitsunfähigkeit bestätigt worden sei. In allen ihren
Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten bestehe die aufgrund der heutigen
Untersuchung angegebene Arbeitsfähigkeit. Im Rahmen der Gesamtbeurteilung kamen
die Gutachter des ABI zum Schluss, aus polydisziplinärer Sicht sei seit April
2014 eine Arbeits- und Leistungsfähigkeit von 70 % in der angestammten
Tätigkeit ebenso wie in jeder anderen körperlich leichten bis gelegentlich
mittelschweren angepassten Tätigkeit gegeben. Diese Einschätzung sei über die
Zeit gemittelt anzunehmen, nachdem die Arbeitsfähigkeit von September 2013 bis
März 2014 aufgehoben gewesen sei und vor dem September 2013 keine wesentliche
Arbeitsunfähigkeit vorgelegen habe.  
 
6.2. Diese Beurteilung wirft Fragen auf, wie die Beschwerdeführerin geltend
macht:  
 
6.2.1. Der Ausdruck "über die Zeit gemittelt" muss so verstanden werden, dass
der Grad der Arbeitsfähigkeit schwanken kann, in jeder genügend langen
Zeitspanne jedoch im Durchschnitt etwa 70 % beträgt. Das bedeutet bei Aufhebung
der Arbeitsfähigkeit von September 2013 bis März 2014, dass im Zeitraum von Mai
2012 bis August 2013 und von April 2014 bis Juli 2015 ununterbrochen eine
Arbeitsfähigkeit von 100 % bestand. Betrug sie weniger als 100 %, verlängert
sich diese Zeitspanne entsprechend. Eine durchgehende Arbeitsfähigkeit von 100
% kann indessen weder für die Zeit von Mai 2012 bis August 2013 noch von April
2014 bis Juli 2015 ohne Weiteres angenommen werden. Namentlich stand die
Beschwerdeführerin vom 22. Oktober bis 19. November 2014 und erneut vom 8.
April bis 14. August 2015 in (teil-) stationärer Behandlung. Der psychiatrische
Gutachter äusserte sich nicht zur Arbeitsfähigkeit in dieser Zeitspanne. War
diese indessen nach seiner Einschätzung während den (teil-) stationären
Behandlungen im Zeitraum von September 2013 bis März 2014 aufgehoben, hat
dasselbe auch für diejenigen im Zeitraum von Oktober bis November 2014 und
April bis August 2015 zu gelten.  
 
6.2.2. Im Weitern ist fraglich, ob seit August 2013, d.h. ein Jahr vor dem
frühest möglichen Zeitpunkt der Entstehung eines Rentenanspruchs (Art. 28 Abs.
1 lit. b und c sowie Art. 29 Abs. 1 IVG), längere Perioden mit vollständiger
Arbeitsfähigkeit bestanden. Der psychiatrische Gutachter des ABI hielt im
Rahmen der Stellungnahme zu früheren ärztlichen Einschätzungen fest, ein
deutlicher rezidivierender Verlauf der Depression mit Phasen von
Verschlechterung, Verbesserung und symptomfreien Intervallen sei nicht
erwiesen. Sodann begründete er seine Einschätzung einer Arbeitsfähigkeit von 70
% gemittelt über den Verlauf im Wesentlichen damit, dass auch in den Akten
fachärztlich eine Arbeitsunfähigkeit bestätigt worden sei (E. 6.1). Diese
bezieht sich indessen nicht bloss auf die Zeiten, in welchen die
Beschwerdeführerin in (teil-) stationärer Behandlung stand.  
 
6.3. Nach dem Gesagten ist nicht auszuschliessen, dass spätestens im September
2013 die Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG eröffnet wurde und im August
2014 oder in einem späteren Zeitpunkt bis zum Verfügungserlass (BGE 129 V 1 E.
1.2 S. 4) ein Rentenanspruch entstanden ist (vgl. Urteile 9C_878/2017 vom 19.
Februar 2018 E. 5.3 und 9C_757/2010 vom 24. November 2010 E. 4.1). Die Frage
kann aufgrund des ABI-Gutachtens vom 12. Januar 2016 und auch der übrigen
medizinischen Akten nicht in zuverlässiger Weise beurteilt werden. Der
angefochtene Entscheid beruht daher auf unvollständiger Beweisgrundlage (Art.
43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG).  
 
Die Vorinstanz wird ein psychiatrisches Gutachten einzuholen haben und danach
über den Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Rente der
Invalidenversicherung neu entscheiden. In diesem Sinne ist die Beschwerde
begründet. 
 
7.   
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (
Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau als Versicherungsgericht vom 12. Juli
2017 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der
Erwägungen an dieses zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde
abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 22. März 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler 

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