Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 601/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_601/2017  
 
 
Urteil vom 26. Januar 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterin Glanzmann, 
nebenamtlicher Bundesrichter Weber, 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
1. A.________, 
2. B.________GmbH, 
    beide vertreten durch D.________, 
Beschwerdeführerinnen, 
 
gegen  
 
Ausgleichskasse des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau 1 Fächer, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
12. Juli 2017 (VBE.2016.691, VBE.2016.716). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Am 3. Januar 2016 meldete sich A.________ als Selbständigerwerbende bei der
Ausgleichskasse des Kantons Aargau an, wobei sie angab, sie übe seit September
2012 eine Beratungs- und Verkaufstätigkeit aus. Auf Nachfrage der Kasse legte
A.________ unter anderem einen mit der B.________ GmbH geschlossenen
Vertriebspartnervertrag sowie die dazu gehörenden Allgemeinen
Geschäftsbedingungen (AGB; beide ohne Datum) vor, des Weitern einen
Vertriebspartnervertrag vom 5. Januar 2016 sowie AGB, Stand 1. Januar 2016.
Nach Prüfung der Verhältnisse lehnte die Ausgleichskasse eine Erfassung als
Selbständigerwerbende ab mit der Begründung, A.________ sei in der Zeit von
September 2012 bis Dezember 2015 als Vertriebspartnerin für die B.________ GmbH
in unselbständiger Stellung tätig gewesen (Verfügung vom 28. September 2016).
Mit Entscheid vom 19. Oktober 2016 wies die Kasse die von A.________ dagegen
erhobene Einsprache ab. Gleichzeitig bestätigte sie, dass ab 1. Januar 2016
aufgrund der neuen AGB (Stand 1. Januar 2016) von einer selbständigen
Erwerbstätigkeit im AHV-rechtlichen Sinne ausgegangen werden könne. 
Die Verfügung vom 28. September 2016 und der Einspracheentscheid vom 19.
Oktober 2016 wurden auch der B.________ GmbH zugestellt. 
 
B.   
Beschwerdeweise beantragten A.________ und die B.________ GmbH je separat die
Aufhebung des Einspracheentscheides. Der sozialversicherungsrechtliche Status
von A.________ als Selbständigerwerbende sei anzuerkennen und zu bestätigen.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau vereinigte die beiden Verfahren. Am
11. April 2017 wies es A.________ und die B.________ GmbH darauf hin, dass es
auch die Qualifizierung als Selbständigerwerbende ab 1. Januar 2016 überprüfen
werde. Es setzte ihnen eine Frist, um sich zu der damit in Aussicht gestellten
möglichen reformatio in peius zu äussern oder das Rechtsmittel zurückzuziehen.
Beide hielten an der Beschwerdeerhebung fest (Eingabe vom 25. April 2017). Mit
Entscheid vom 12. Juli 2017 wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
die Beschwerde ab. Es stellte fest, dass A.________ auch nach den
Vertragsbestimmungen vom 1. Januar 2016 als Unselbständigerwerbende gelte. 
 
 
C.   
A.________ (Beschwerdeführerin 1) und die B.________ GmbH (Beschwerdeführerin
2) führen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den
Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben. Es sei der
sozialversicherungsrechtliche Status von A.________ als
Selbständigerwerbstätige anzuerkennen und zu bestätigen. Eventualiter sei die
Sache zur Neubeurteilung an das kantonale Versicherungsgericht zurückzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an    (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es legt seinem
Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105
Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Eine
Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich unrichtig, wenn
sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und augenfällig
unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Es liegt noch keine
offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine andere Lösung ebenfalls in
Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erschiene (vgl. BGE 142
II 369 E. 4.3 S. 380; 129 I 8 E. 2.1 S. 9). Diese Grundsätze gelten auch in
Bezug auf die konkrete Beweiswürdigung (vgl. Urteil 9C_753/2015 vom 20. April
2016 E. 1).  
 
1.2. Die Rüge des fehlerhaft festgestellten Sachverhalts bedarf einer
qualifizierten Begründung (BGE 137 II 353 E. 5.1 S. 356). Es reicht nicht aus,
in allgemeiner Form Kritik daran zu üben oder einen von den tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz abweichenden Sachverhalt zu behaupten oder die
eigene Beweiswürdigung zu erläutern. Die Rüge und ihre qualifizierte Begründung
müssen in der Beschwerdeschrift selber enthalten sein. Der blosse Verweis auf
die Akten oder Ausführungen in anderen Rechtsschriften - vorliegend
insbesondere auf die von der Beschwerdeführerin 2 letztinstanzlich eingereichte
Beschwerde im Verfahren 9C_527/2017 - genügt nicht (Urteil 9C_779/2010 vom 30.
September 2011 E. 1.1.2 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 137 V 446, aber in:
SVR 2012 BVG Nr. 11 S. 44). Auf ungenügend begründete Rügen oder bloss
allgemein gehaltene appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid geht das
Bundesgericht nicht ein (BGE 134 II 244 E. 2.2 S. 246).  
 
1.3. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur soweit vorgebracht werden, als
erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG), was in
der Beschwerde näher darzulegen ist (BGE 133 III 393 E. 3 S. 395; Urteil 9C_221
/2016 vom 21. Juni 2016 E. 1.1).  
 
2.   
Die Beschwerdeführerinnen beantragen die Aufhebung des vorinstanzlichen
Entscheids, jedoch nicht des Einspracheentscheids vom 19. Oktober 2016, obwohl
dieser eine selbständige Erwerbstätigkeit der Beschwerdeführerin 1 für die Zeit
bis 31. Dezember 2015 verneint. Aufgrund der Begründung in der
Beschwerdeschrift ist jedoch davon auszugehen, dass nicht nur eine Aufhebung
des vorinstanzlichen Entscheids, sondern auch des Einspracheentscheids
anbegehrt wird, soweit dieser keine Bestätigung der Beschwerdeführerin 1 in
ihrer Stellung als Selbständigerwerbende beinhaltet. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerinnen berufen sich bei ihrem Antrag, die Beschwerdeführerin
1 sei als Selbständigerwerbende zu betrachten, auf Entscheide anderer
Ausgleichskassen. Sie belegen die behauptete abweichende Haltung anderer Kassen
jedoch nicht und bleiben auch den Nachweis schuldig, dass diese Kassen künftig
- bei unveränderter Sach- und Rechtslage - gleich entscheiden würden. Nur dann
wäre aber ein Anspruch auf eine Gleichbehandlung im Unrecht überhaupt in
Betracht zu ziehen (BGE 139 II 49 E. 7.1 S. 61 sowie HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN,
Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Aufl. 2016, S. 136 N. 599 ff.). 
Überdies zeigt gerade auch das ebenfalls hängige Verfahren 9C_527/2017, von
welchem die Beschwerdeführerinnen die letztinstanzliche Rechtsmittelschrift
eingereicht haben, dass zumindest die Ausgleichskasse Exfour die selbständige
Stellung der Vertriebspartner (so auch der Beschwerdeführerin 1) nicht
akzeptiert und die ihnen von der Beschwerdeführerin 2 zugeflossenen Einnahmen
als beitragspflichtiges Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit erfasst
hat. 
 
 
4.   
Die Vorinstanz hat sich in ihrem Entscheid eingehend mit der
sozialversicherungsrechtlichen Stellung der Beschwerdeführerin 1 sowohl in der
Zeit vom 1. September 2012 bis 31. Dezember 2015 als auch ab 1. Januar 2016
auseinandergesetzt. A.________ und die B.________ GmbH hielten auch nach
Androhung einer reformatio in peius (Art. 61 lit. d ATSG) an ihrer Beschwerde
fest. Ihre Vorbringen im vorliegenden Verfahren vermögen den vorinstanzlichen
Entscheid nicht in Frage zu stellen: 
 
4.1. Die sozialversicherungsrechtliche Beitragspflicht Erwerbstätiger richtet
sich unter anderem danach, ob das in einem bestimmten Zeitraum erzielte
Erwerbseinkommen als solches aus selbständiger oder aus unselbständiger
Erwerbstätigkeit zu qualifizieren ist (vgl. Art. 5 und 9 AHVG sowie Art. 6 ff.
AHVV). Nach Art. 5 Abs. 2 AHVG gilt als massgebender Lohn jedes Entgelt für in
unselbständiger Stellung auf bestimmte oder unbestimmte Zeit geleistete Arbeit;
als Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit gilt nach Art. 9 Abs. 1 AHVG
jedes Einkommen, das nicht Entgelt für in unselbständiger Stellung geleistete
Arbeit darstellt. Nach der Rechtsprechung beurteilt sich die Frage, ob im
Einzelfall selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit vorliegt, nicht
aufgrund der Rechtsnatur des Vertragsverhältnisses zwischen den Parteien.
Entscheidend sind vielmehr die wirtschaftlichen Gegebenheiten. Die
zivilrechtlichen Verhältnisse vermögen dabei gewisse Anhaltspunkte für die
AHV-rechtliche Qualifikation zu bieten, ohne jedoch ausschlaggebend zu sein.
Als unselbständig erwerbstätig ist im Allgemeinen zu betrachten, wer von einem
Arbeitgeber in betriebswirtschaftlicher bzw. arbeitsorganisatorischer Hinsicht
abhängig ist und kein spezifisches Unternehmerrisiko trägt. Aus diesen
Grundsätzen allein lassen sich indessen noch keine einheitlichen, schematisch
anwendbaren Lösungen ableiten. Die Vielfalt der im wirtschaftlichen Leben
anzutreffenden Sachverhalte zwingt dazu, die beitragsrechtliche Stellung einer
erwerbstätigen Person jeweils unter Würdigung der gesamten Umstände des
Einzelfalls zu beurteilen. Weil dabei vielfach Merkmale beider Erwerbsarten zu
Tage treten, muss sich der Entscheid oft danach richten, welche dieser Merkmale
im konkreten Fall überwiegen (BGE 123 V 161 E. 1 S. 162 f.; 122 V 169      E.
3a S. 171; 119 V 161 E. 2 S. 161 f.; SVR 2017 AHV Nr. 7 S. 15, 9C_407/2016 E.
2.1).  
 
4.2. Die Beschwerdeführerinnen legen selber dar, dass der Versand und die
Fakturierung der Produkte nicht durch die Beschwerdeführe-rin 1, sondern durch
die Beschwerdeführerin 2 erfolgt. Dies ergibt sich im Übrigen auch aus Ziff. 18
Satz 1 Teilsatz 1 AGB (Stand 1. Januar 2016). Zwar hat die Beschwerdeführerin 1
der Beschwerdeführerin 2 dafür ein Entgelt zu leisten, das bei der
Provisionsberechnung berücksichtigt wird (Ziff. 18 Satz 1 Teilsätze 2 und 3
AGB). Des Weitern muss die Beschwerdeführerin 1 Zahlungsausfälle für gelieferte
Waren ersetzen, wenn sie fahrlässig oder wider besseres Wissen Aufträge
entgegennimmt und die Beschwerdeführerin 2 zu Lieferungen veranlasst, die
nachher nicht bezahlt werden (Ziff. 18 Satz 2 AGB). Die Vorinstanz hat jedoch
in E. 5.2.2 ihres Entscheids nachvollziehbar dargelegt, dass die Überprüfung
der Zahlungsfähigkeit eines Kunden aus der allgemeinen Sorgfaltspflicht
resultiert und daraus keine selbständige Stellung abgeleitet werden kann.
Ebenso wenig kann aus der Abgeltung für Versand, Fakturierung und Inkasso auf
eine selbständige Erwerbstätigkeit geschlossen werden. Die Beschwerdeführerin 2
versucht, durch die Ausgestaltung ihrer AGB eine Behandlung ihrer
Vertriebspartner als Selbständigerwerbende zu erreichen. Sie beabsichtigt
damit, ihre eigene Beitragspflicht zu vermeiden, ohne dass sich an der im
angefochtenen Entscheid verbindlich festgestellten beträchtlichen
arbeitsorganisatorischen Einbettung der Beschwerdeführerin 1 und am
Abhängigkeitsverhältnis der Beschwerdeführerin 1 von der Beschwerdeführerin 2
faktisch etwas ändern würde. Die Beschwerdeführerinnen geben dies in ihrer
Eingabe vom 25. April 2017 letztlich selber zu, wenn sie ausführen, die AGB
seien überarbeitet und präzisiert worden, ohne dass sich an der Tätigkeit der
Vertriebspartner etwas geändert hätte.  
 
4.3. Die beschwerdeweise vorgetragenen Behauptungen, die Beschwerdeführerin 1
beschäftige eigenes Personal, unterhalte ein eigenes Lager (was in einem
gewissen Widerspruch dazu steht, dass der Versand der Produkte durch die
Beschwerdeführerin 2 erfolgt [vgl. dazu E. 4.2 in initio]), richte Messen aus,
veranstalte Schulungen sowie Trainings und verfüge über eigene
Geschäftsräumlichkeiten, werden nicht belegt. Die Vorinstanz hat für das
Bundesgericht verbindlich festgestellt, dass die Beschwerdeführerin 1 weder
Geschäftsräume besitzt noch Personal beschäftigt und dass auch keine
wesentlichen Investitionen erkennbar sind, die für das Vorliegen eines
spezifischen Unternehmerrisikos sprechen würden. Die Beschwerdeführerinnen
legen nicht dar, dass diese Feststellungen bundesrechtswidrig sein sollen; ihre
rein appellatorische Kritik kann nicht berücksichtigt werden (vgl. E. 1.2).  
 
 
5.   
Die Beschwerdeführerinnen machen letztinstanzlich erstmals geltend, dass die
Vertriebspartner des Konkurrenzunternehmens "C.________ GmbH" als
Selbständigerwerbende betrachtet würden. Sie legen indessen nicht dar,
inwiefern erst der angefochtene Entscheid Anlass gegeben haben soll, diese neue
Tatsache vorzubringen. Dementsprechend hat das (im Übrigen in keiner Weise
belegte) Novum unbeachtet zu bleiben (Art. 99 Abs. 1 BGG; vgl. E. 1.3). 
 
6.   
Die unterliegenden Beschwerdeführerinnen werden zu gleichen Teilen und unter
solidarischer Haftbarkeit kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 und 5 BGG).
Entsprechend dem Verfahrensausgang haben sie keinen Anspruch auf eine
Aufwandentschädigung. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden den Beschwerdeführerinnen zu gleichen
Teilen und unter solidarischer Haftung auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 26. Januar 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann 

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