Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 567/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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9C_567/2017            

 
 
 
Urteil vom 21. November 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
 A.________, 
vertreten durch ihre Beiständin, und diese vertreten durch Rechtsanwältin
Stephanie Schwarz, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 31. Mai 2017 (IV.2015.01170). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1981 geborene A.________ (Mutter von zwei am 5. Dezember 2013 und 31. März
2015 geborenen Kindern, zuletzt bis Dezember 2006 als Servicefachangestellte
tätig gewesen) meldete sich unter Hinweis auf psychische Beschwerden bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich
sprach ihr rückwirkend ab 1. November 2006 eine ganze Invalidenrente zu
(Verfügung vom 7. Dezember 2012). Anlässlich eines nach der Geburt des ersten
Kindes eingeleiteten Revisionsverfahrens hob die IV-Stelle die Rente auf, wobei
sie einer allfälligen dagegen gerichteten Beschwerde die aufschiebende Wirkung
entzog (Verfügung vom 13. Oktober 2015). 
 
B.   
Die von A.________ hiegegen mit dem Antrag auf Aufhebung der angefochtenen
Verfügung und Weiterausrichtung der bisherigen Rente erhobene Beschwerde hiess
das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich in dem Sinne gut, dass es die
angefochtene Verfügung aufhob und die Sache an die IV-Stelle zurückwies, damit
diese nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen neu verfüge. Des Weitern
stellte es fest, dass der Versicherten die bisherige ganze Invalidenrente sowie
die Kinderrenten während der Dauer des Verwaltungsverfahrens bis zu einem
Neuentscheid weiter auszurichten seien (Entscheid vom 31. Mai 2017). 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Rechtsbegehren, es sei festzustellen, dass der Entzug der aufschiebenden
Wirkung der Beschwerde während des Abklärungsverfahrens fortdauert und die
Rente während dieser Zeit nicht auszurichten ist. 
 A.________ lässt beantragen, die Beschwerde sei, soweit darauf eingetreten
werden könne, abzuweisen. Des Weitern ersucht sie um Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege (Prozessführung und Verbeiständung). 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde ans Bundesgericht ist zulässig gegen Endentscheide (Art. 90
BGG), Teilentscheide (Art. 91 BGG), selbständig eröffnete Vor- und
Zwischenentscheide über die Zuständigkeit und den Ausstand (Art. 92 BGG) sowie
gegen andere selbständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide, wenn sie einen
nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können oder wenn die Gutheissung
der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen
bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren
ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. a und b BGG).  
Mit der Beschwerde gegen Entscheide über vorsorgliche Massnahmen, zu welchen
auch diejenigen über die aufschiebende Wirkung gehören (SVR 2012 IV Nr. 40 S.
151, 9C_652/2011 E. 4.1; Urteil 9C_241/2017 vom 14. Juni 2017 E. 1.1 mit
Hinweis), kann nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden (
Art. 98 BGG). 
 
1.2. Die Beschwerde richtet sich nicht gegen die im vorinstanzlichen Entscheid
unter Aufhebung der Verwaltungsverfügung vom 13. Oktober 2015 angeordnete
Rückweisung der Sache zu weiterer Abklärung und neuem Verfügungserlass
(Dispositiv-Ziff. 1 Abs. 1), sondern allein gegen die damit verbundene
Feststellung, die Verwaltung habe die bisherigen Renten während des
Abklärungsverfahrens weiter auszurichten (Dispositiv-Ziff. 1 Abs. 2). Auch
diesbezüglich handelt es sich um einen Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93
BGG und die Eintretensvoraussetzung des nicht wieder gutzumachenden Nachteils (
Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) ist ohne weiteres erfüllt (Urteil 9C_241/2017 vom
14. Juni 2017 E. 1.2; vgl. auch Urteil 9C_301/2010 vom 21. Januar 2011 E. 1.2).
Die IV-Stelle macht eine Verletzung der Begründungspflicht sowie des
rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) und damit zulässige Rügegründe geltend.
 
 
1.3. Die Beschwerdegegnerin stellt sich auf den Standpunkt, auf das
Rechtsmittel könne nicht eingetreten werden, weil es nur ein
Feststellungsbegehren enthalte, was in formeller Hinsicht nicht genüge. Dieser
Einwand ist schon deshalb nicht stichhaltig, weil die gewählte, auf
Feststellung lautende Formulierung der im Dispositiv des angefochtenen
Entscheides verwendeten entspricht und sich aus der Beschwerdebegründung, in
deren Lichte Rechtsbegehren auszulegen sind, zweifelsfrei ergibt, was die
IV-Stelle in der Sache verlangt (vgl. dazu BGE 137 III 617 E. 6.2 S. 622; SVR
2017 IV Nr. 67 S. 208, 9C_19/2017 E. 1.2).  
 
1.4. Auf die Beschwerde der IV-Stelle ist demnach einzutreten.  
 
2.  
 
2.1. Die Vorinstanz erwog, weil nach Erlass der Verfügung vom 13. Oktober 2015,
am 2. Februar 2016 das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
(EGMR) Di Trizio gegen Schweiz (7186/09) ergangen sei, lasse sich die
revisionsweise Rentenaufhebung nicht mehr mit einem (aus der Geburt der Kinder
abgeleiteten) Statuswechsel (Anwendbarkeit der gemischten statt der reinen
Einkommensvergleichsmethode) begründen. Hingegen beständen Anhaltspunkte dafür,
dass sich der Gesundheitszustand der Versicherten verbessert habe, was eine
Rentenaufhebung ebenso rechtfertigen könnte. Weil die medizinischen Akten keine
abschliessende Beurteilung des Gesundheitszustandes und der Arbeitsfähigkeit
der Versicherten zuliessen, sei die Sache zu entsprechenden Abklärungen und
anschliessendem Neuentscheid an die IV-Stelle zurückzuweisen. Da diese die
Rückweisung zu verantworten habe, sei sie zu verpflichten, die Renten für die
Dauer des Verwaltungsverfahrens bis zum neuen Entscheid weiter auszurichten.  
 
2.2. Die IV-Stelle wendet sich zu Recht gegen die vorinstanzlich angeordnete
Weiterausrichtung der Renten für die Dauer des Verwaltungsverfahrens:  
 
2.2.1. Nach ständiger Rechtsprechung dauert der mit der revisionsweise (Art. 17
Abs. 1 ATSG) verfügten Herabsetzung oder Aufhebung einer Rente der
Invalidenversicherung verbundene Entzug der aufschiebenden Wirkung der
Beschwerde (Art. 66 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 97 AHVG) bei Rückweisung
der Sache an die IV-Stelle zu weiteren Abklärungen auch noch für den Zeitraum
dieses Abklärungsverfahrens bis zum Erlass der neuen Verwaltungsverfügung an (
BGE 129 V 370; SVR 2011 IV Nr. 33 S. 96, 8C_451/2010 E. 2-4; Urteile 9C_38/2017
vom 21. März 2017 E. 2.2.1 und 9C_856/2016 vom 9. März 2017 E. 3.1).
Vorbehalten bleibt der Fall, dass die IV-Stelle die angefochtene
Revisionsverfügung, ohne hinreichende Abklärung der Revisionsvoraussetzungen,
nur deshalb erliess, um rechtsmissbräuchlich einen möglichst frühen
Revisionszeitpunkt zu provozieren. Diesfalls hat das kantonale Gericht den in
der Revisionsverfügung entzogenen Suspensiveffekt der Beschwerde für den
Zeitraum wieder herzustellen, den das Verfügungsverfahren in Anspruch genommen
hätte, wenn es formell korrekt durchgeführt worden wäre (BGE 129 V 370 E. 4.3
S. 376; Urteil 8C_236/2014 vom 16. Mai 2014 E. 2.1 mit Hinweis).  
 
2.2.2. Über diese Grundsätze hat sich das kantonale Gericht in Verletzung der
verfassungsrechtlich geforderten Begründungspflicht (Art. 29 Abs. 2 BV; BGE 134
I 83 E. 4.1 S. 88 f.) hinweggesetzt, als es die IV-Stelle zur Weiterausrichtung
der Renten für die Dauer des Verwaltungsverfahrens verpflichtete, weil sie die
Rückweisung "zu verantworten" habe. Es stützte sich damit auf ein sachfremdes
Kriterium, womit es an einer Art. 29 Abs. 2 BV genügenden Begründung fehlt,
ganz abgesehen davon, dass dieses ohnehin nicht einmal erfüllt wäre, weil die
IV-Stelle eine der damaligen Rechtslage (d.h. den Verhältnissen vor dem
erwähnten EGMR-Urteil vom 2. Februar 2016 [7186/09], welches am 4. Juli 2016
endgültig geworden ist) entsprechende Verfügung erlassen hat und sie insoweit
kein Verschulden an der Rückweisung trifft. Es sind keine (eine ausnahmsweise
Wiederherstellung des Suspensiveffektes rechtfertigende) Anhaltspunkte
ersichtlich oder geltend gemacht, dass die IV-Stelle die rentenaufhebende
Verfügung ohne hinreichende Abklärung der Revisionsvoraussetzungen bloss
deshalb erlassen hätte, um rechtsmissbräuchlich einen möglichst frühen
Revisionszeitpunkt zu provozieren (was durch das erstinstanzliche Gericht
wenigstens in den Grundzügen zu begründen wäre [Urteil 9C_856/2016 vom 9. März
2017 E. 3.1 mit Hinweis auf BGE 136 I 184 E. 2.2.1 S. 188 und 229 E. 5.2 S.
236]).  
 
2.2.3. Der Beschwerdegegnerin erwächst, entgegen der von ihr vertretenen
Auffassung, aus der Fortdauer des Entzugs der aufschiebenden Wirkung während
des Abklärungsverfahrens so oder anders kein Schaden: Wird die erste
rentenaufhebende Verfügung vom 13. Oktober 2015 nach Durchführung der
vorinstanzlich angeordneten Abklärungen bestätigt, bleibt es bei der
Leistungssituation, mit der die Beschwerdegegnerin seit der ersten
Revisionsverfügung vom 13. Oktober 2015 zu rechnen hatte. Ergeben die
Abklärungen, dass die Voraussetzungen für die verfügte Rentenaufhebung im
Zeitpunkt der ersten Verfügung am 13. Oktober 2015 (noch) nicht gegeben waren,
werden der Beschwerdegegnerin die bis zur neuen Revisionsverfügung geschuldeten
Leistungen nachbezahlt (SVR 2011 IV Nr. 33 S. 96, 8C_451/2010 E. 4.2.2; Urteil
9C_301/2010 vom 21. Januar 2011 E. 3.2.2).  
 
2.3. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde der IV-Stelle begründet.  
 
3.   
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Da ihrem Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege stattzugeben ist (Art. 64 Abs. 1 BGG), werden die
Kosten vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. Ihre Rechtsvertreterin
wird zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung aus der
Bundesgerichtskasse entschädigt (Art. 64 Abs. 2 BGG). Die Beschwerdegegnerin
wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die Partei der
Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage
ist. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 31. Mai 2017 wird insoweit aufgehoben, als damit die
Weiterausrichtung der bisherigen Invalidenrente sowie der Kinderrenten während
der Dauer des Verwaltungsverfahrens bis zu einem Neuentscheid angeordnet wird
(Dispositiv Ziff. 1 Abs. 2 des Entscheids). 
 
2.   
Der Beschwerdegegnerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt, und
Rechtsanwältin Stephanie Schwarz wird als unentgeltliche Anwältin bestellt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.   
Der Rechtsvertreterin der Beschwerdegegnerin wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2400.- ausgerichtet. 
 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 21. November 2017 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann 

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