Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 560/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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9C_560/2017            

 
 
 
Urteil vom 17. Oktober 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino, 
Gerichtsschreiberin Oswald. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle Uri, Dätwylerstrasse 11, 6460 Altdorf, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
 A.________, 
handelnd durch seine Eltern, und diese vertreten durch Procap für Menschen mit
Handicap, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Hilflosenentschädigung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Uri vom 
23. Juni 2017 (OG V 17 5). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der am 2001 geborene A.________ leidet u.a. an Trisomie 21. Mit Wirkung ab 1.
Januar 2004 bezog er eine Entschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades
(Verfügung der IV-Stelle Uri [fortan: IV-Stelle] vom 30. Juli 2004). Dieser
Anspruch wurde zuletzt am 9. Juni 2015 bestätigt, weil der Versicherte in den
vier alltäglichen Lebensverrichtungen "An- und Auskleiden", "Körperpflege",
"Notdurftverrichtung" und "Fortbewegung" regelmässig in erheblicher Weise auf
die Hilfe Dritter angewiesen war. 
Im Rahmen eines Revisionsverfahrens veranlasste die IV-Stelle eine Abklärung
vor Ort (Abklärungsbericht vom 28. Oktober 2016), führte das
Vorbescheidverfahren durch und verfügte am 15. Dezember 2016, dass ab dem 1.
Februar 2017 nurmehr Anspruch auf eine Entschädigung für Hilflosigkeit leichten
Grades bestehe, da A.________ im Lebensbereich "Verrichtung der Notdurft"
Selbständigkeit erlangt habe. 
 
B.   
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Obergericht des
Kantons Uri mit Entscheid vom 23. Juni 2017 gut, hob die Verfügung vom 15.
Dezember 2016 auf und stellte fest, dass der Versicherte weiterhin Anspruch auf
eine Entschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades habe. 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben, und die Sache sei mit
der Feststellung, dass A.________ bei der Lebensverrichtung "Notdurft"
selbständig sei, an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese über die
Beschwerde vom 26. Januar 2017 - mit welcher der Versicherte Hilflosigkeit auch
in den Lebensverrichtungen "Aufstehen/Absitzen/Abliegen" sowie "Essen" geltend
mache - neu entscheide. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts durch die Vorinstanz nur, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (
Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von 
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Hilflosigkeit (Art.
9 ATSG), den Anspruch auf Hilflosenentschädigung und die für deren Höhe
wesentliche Unterscheidung dreier Hilflosigkeitsgrade (Art. 42 Abs. 1 und 2 IVG
; Art. 37 Abs. 1 bis 3 IVV) sowie die massgebenden sechs alltäglichen
Lebensverrichtungen (An- und Auskleiden; Aufstehen, Absitzen und Abliegen;
Essen; Körperpflege; Verrichtung der Notdurft sowie Fortbewegung und
Kontaktaufnahme; BGE 133 V 450 E. 7.2 S. 463 mit Hinweisen; Urteil 9C_457/2015
vom 21. Oktober 2015 E. 2.1; vgl. auch Ziff. 8010 des Kreisschreibens des
Bundesamt für Sozialversicherungen [BSV] über Invalidität und Hilflosigkeit in
der Invalidenversicherung [KSIH]) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
Zu wiederholen ist, dass eine Hilflosigkeit (u.a.) dann als mittelschwer gilt,
wenn die versicherte Person trotz der Abgabe von Hilfsmitteln in den meisten
alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe
Dritter angewiesen ist (Art. 37 Abs. 2 lit. a IVV). Praxisgemäss ist dies der
Fall, wenn die Dritthilfe in mindestens vier Bereichen notwendig ist (Urteil
9C_809/2015 vom 10. August 2016 E. 6.1; ferner Ziff. 8009 KSIH). 
 
3.   
Das kantonale Gericht ging zunächst auf die von der IV-Stelle bejahte Frage
danach ein, ob die Hilflosigkeit des Versicherten bei der Verrichtung der
Notdurft durch die Benutzung eines Closomaten vermieden werden könne. Hierzu
erwog es im Wesentlichen, dem Versicherten sei die Benutzung eines Closomaten,
bzw. jedenfalls ein diesbezüglicher Versuch, im Sinne der
Schadenminderungspflicht zumutbar. Gestützt auf einen Bericht der behandelnden
Kinderärztin Dr. med. B.________ vom 10. Januar 2017 erachtete die Vorinstanz
jedoch als erstellt, dass auch bei Benutzung dieses Hilfsmittels die Mutter
oder eine Drittperson die Analregion des Versicherten nach dem Stuhlgang mit
einer speziellen Seife waschen und mit Salbe eincremen müsse, um eine
chronische Anitis zu verhindern. Hierbei handle es sich zweifellos um eine
Dritthilfe in direktem Zusammenhang mit der Verrichtung der Notdurft, die
täglich, also regelmässig, notwendig sei. Zusammenfassend ergebe sich, dass der
Versicherte im Bereich "Verrichtung der Notdurft" nach wie vor regelmässig in
erheblicher Weise auf Dritthilfe angewiesen sei. Dies führe dazu, dass er - bei
unbestrittener Hilflosigkeit in den Lebensbereichen "An- und Auskleiden",
"Körperpflege" und "Fortbewegung" - weiterhin Anspruch auf eine Entschädigung
für Hilflosigkeit mittleren Grades habe. Damit erübrige sich die Prüfung der
Hilflosigkeit in den Lebensbereichen "Aufstehen/Absitzen/Abliegen" sowie
"Essen". 
 
4.  
 
4.1. Nach den verbindlichen (E. 1 hievor) und unbestritten gebliebenen
Feststellungen der Vorinstanz sind - auch bei Benutzung eines Closomaten -
Hilfestellungen durch die Mutter (Reinigung mit einer speziellen Seife nach dem
Stuhlgang sowie Eincremen) notwendig, um eine chronische Anitis zu verhindern.
 
 
4.2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Pflege durch die Mutter zur
Verhinderung einer chronischen Anitis stelle eine Behandlungs- und Grundpflege
i.S.v. Art. 39 Abs. 2 IVV dar. Sie beziehe sich nicht auf die alltäglichen
Lebensverrichtungen (diesbezüglich verweist sie auf Ziff. 8032 KSIH). Demnach
sei der Versicherte in der Verrichtung der Notdurft selbständig, sei ihm doch
nach verbindlicher Feststellung des Urner Obergerichts die Benutzung eines
Closomaten zumutbar.  
Dem kann nicht gefolgt werden. Die Körperreinigung nach dem Toilettengang - die
hier mit einer speziellen Seife durchgeführt werden muss - ist nach ständiger
Rechtsprechung eine Teilfunktion der Lebensverrichtung "Notdurft" (BGE 121 V 88
E. 6 S. 93 ff.; Urteil P 42/91 vom 13. Dezember 1991 E. 3c; Urteil 9C_457/2015
vom 21. Oktober 2015 E. 2.3.2; vgl. überdies Ziff. 8010 und 8021 KSIH). Für die
Hilfsbedürftigkeit in einer Lebensverrichtung mit mehreren Teilfunktionen ist
nicht verlangt, dass die versicherte Person bei allen oder einer Mehrzahl
dieser Teilfunktionen fremder Hilfe bedarf. Vielmehr genügt es, wenn sie - wie
in concreto - bei einer Funktion auf Dritthilfe (zur Regelmässigkeit und
Erheblichkeit vgl. E. 4.3 hernach) angewiesen ist (BGE 117 V 146 E. 2 S. 148
mit Hinweis). Unter diesen Umständen ist nicht mehr zu prüfen, wie es sich mit
dem im Anschluss an die Reinigung notwendigen Eincremen verhält, das gemäss der
Beschwerdeführerin nicht zu den alltäglichen Lebensverrichtungen gehört. 
 
4.3. Für den Fall, dass die notwendige Pflege durch die Mutter unter den
Lebensbereich "Verrichtung der Notdurft" zu subsumieren sein sollte, bringt die
Beschwerdeführerin vor, diese sei zwar regelmässig notwendig, jedoch nicht
erheblich im Sinne von Art. 37 Abs. 1 IVV, weil sie von der Mutter oder einem
Lehrer an der Sonderschule des Versicherten ohne Weiteres erwartet werden
dürfe.  
Auch diese Rüge geht fehl. Erheblich ist die Hilfe, wenn die versicherte Person
mindestens eine Teilfunktion einer einzelnen Lebensverrichtung nicht mehr, nur
mit unzumutbarem Aufwand, oder nur auf unübliche Art und Weise selbst ausüben
kann oder wegen ihres psychischen Zustandes ohne besondere Aufforderung nicht
vornehmen würde (erwähntes Urteil 9C_809/2015 E. 5.1.2 mit Hinweisen; vgl.
überdies Ziff. 8026 KSIH). Entsprechend kommt es nicht darauf an, welche
Hilfestellungen von einer Mutter oder einem Sonderschullehrer erwartet werden
dürfen, sondern entscheidend ist allein die Unfähigkeit des Versicherten, eine
Teilfunktion einer Lebensverrichtung selbständig auszuüben. Diese ist hier
gegeben. Konkret kann der Versicherte die Körperreinigung nicht (in genügender
Weise) selbständig vornehmen, sondern bedarf hierzu der Hilfe der Mutter oder
einer Drittperson. Ist er folglich bei der Verrichtung der Notdurft nach wie
vor auf regelmässige und erhebliche Dritthilfe angewiesen, liegt eine
Hilfsbedürftigkeit in (mindestens) vier von sechs Lebensbereichen vor, womit
weiterhin Anspruch auf eine Entschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades
besteht (E. 2 zweiter Absatz). 
 
5.   
Der vorinstanzliche Entscheid ist im Ergebnis zu bestätigen und die Beschwerde
abzuweisen. 
 
6.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Uri,
Verwaltungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 17. Oktober 2017 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Oswald 

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