Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 511/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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9C_511/2017            

 
 
 
Urteil vom 6. September 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann, 
Gerichtsschreiber Attinger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.A.________, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Ausgleichskasse der Aargauischen 
Industrie- und Handelskammer, 
Entfelderstrasse 11, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung 
(Waisenrente; Rückerstattung; Verwirkung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 20. Juni 2017. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.A.________ (geboren am 22. April 1989) bezog nach dem Tod ihres Vaters ab
November 1994 eine Waisenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung. Die
Rente wurde auch nach Vollendung des 18. Altersjahres an die Mutter der
Versicherten, B.A.________, ausbezahlt. Am 19. März 2014 erkundigte sich die
Ausgleichskasse der Aargauischen Industrie- und Handelskammer erstmals nach
allfälligen Erwerbseinkünften von A.A.________. Die Abklärungen ergaben, dass
die Versicherte ab 1. Januar 2011 neben ihrem Bachelorstudiengang in
Wirtschaftsrecht einer Erwerbstätigkeit nachging, bei welcher sie ein deutlich
über dem Grenzwert von Art. 49bis Abs. 3 AHVV liegendes Einkommen erzielte. Mit
Verfügung vom 30. Juni 2014 und Einspracheentscheid vom 13. März 2015 verneinte
die Ausgleichskasse deshalb rückwirkend ab 1. Januar 2011 einen
Waisenrentenanspruch und forderte gleichzeitig die bis 31. März 2014
unrechtmässig bezogenen Rentenbetreffnisse im Betrag von insgesamt Fr. 36'312.-
von B.A.________ zurück. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die
dagegen erhobene Beschwerde, soweit es darauf eintrat, mit Entscheid vom 10.
November 2015 gut, hob den Einspracheentscheid vom 13. März 2015 auf und
stellte fest, dass B.A.________ die Waisenrente als blosse Inkassostelle für
ihre Tochter entgegengenommen habe und demzufolge nicht
rückerstattungspflichtig sei. 
Mit Verfügung vom 15. Februar 2016 und Einspracheentscheid vom 16. August 2016
forderte die Ausgleichskasse daraufhin die zu Unrecht ausgerichteten
Rentenbetreffnisse von A.A.________ zurück, wobei sie bereits entrichtete
Rückzahlungen in Höhe von Fr. 18'000.- vom Gesamtbetrag (Fr. 36'312.-) in Abzug
brachte und auf den Restbetrag von Fr. 18'312.- verzichtete. 
 
B.   
A.A.________ führte Beschwerde beim Versicherungsgericht und beantragte
sinngemäss den Verzicht auf jegliche Rentenrückforderung zufolge Verwirkung.
Nachdem es eine reformatio in peius in Aussicht gestellt und ausdrücklich
Gelegenheit zum Rückzug des Rechtsmittels eingeräumt hatte, hiess das kantonale
Gericht die Beschwerde mit Entscheid vom 20. Juni 2017 teilweise gut. Es
änderte den angefochtenen Einspracheentscheid dahin gehend ab, als es den
Rückerstattungsbetrag auf Fr. 34'456.- herabsetzte und den von der
Ausgleichskasse gewährten teilweisen Rückforderungsverzicht aufhob. 
 
C.   
Mit Beschwerde ans Bundesgericht erneuert A.A.________ ihr vorinstanzliches
Rechtsbegehren. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Unter sämtlichen Verfahrensbeteiligten kann als unbestritten gelten, dass die
ab 1. Januar 2011 bezogenen Rentenbetreffnisse von der Beschwerdeführerin an
sich zurückzuerstatten sind, weil ihr ab diesem Zeitpunkt wegen Überschreitung
der massgebenden Einkommensgrenze keine Waisenrente mehr zustand (Art. 25 Abs.
1 erster Satz ATSG [SR 830.1]; Art. 25 Abs. 5 AHVG in Verbindung mit Art. 49bis
Abs. 3 AHVV [SR 831.101]; BGE 142 V 226). Es stellt sich indessen die Frage
nach der Verwirkung der Rückforderung. Während das kantonale Gericht zu Recht
erkannt hat, die Waisenrenten für Januar und Februar 2011 könnten wegen Ablaufs
der fünfjährigen absoluten Verwirkungsfrist nicht mehr zurückverlangt werden,
stellt sich die Beschwerdeführerin auf den Standpunkt, die einjährige relative
Verwirkungsfrist gemäss Art. 25 Abs. 2 ATSG sei bereits verstrichen gewesen,
als die Ausgleichskasse ihre Rückerstattungsverfügung vom 15. Februar 2016
erliess. 
 
2.   
Gemäss Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG erlischt der Rückforderungsanspruch mit
dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis
erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der
Entrichtung der einzelnen Leistung. Bei den genannten Fristen handelt es sich
um Verwirkungsfristen (BGE 140 V 121 E. 2.1 S. 525 mit Hinweisen). 
Unter der Wendung "nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten
hat", ist der Zeitpunkt zu verstehen, in dem die Verwaltung bei Beachtung der
ihr zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass die Voraussetzungen
für eine Rückerstattung bestehen, oder mit andern Worten, in welchem sich der
Versicherungsträger hätte Rechenschaft geben müssen über Grundsatz, Ausmass und
Adressat des Rückforderungsanspruchs (BGE 140 V 121 E. 2.1 S. 525 mit
Hinweisen). Verfügt die Versicherung über hinreichende, aber noch
unvollständige Hinweise auf einen möglichen Rückforderungsanspruch, hat sie
allenfalls noch erforderliche Abklärungen (betreffend Grundsatz, Ausmass oder
Adressat) innert angemessener Zeit vorzunehmen. Unterlässt sie dies, ist der
Beginn der Verwirkungsfrist auf den Zeitpunkt festzusetzen, in welchem die
Verwaltung ihre unvollständige Kenntnis mit dem erforderlichen und zumutbaren
Einsatz so zu ergänzen im Stande gewesen wäre, dass der Rückforderungsanspruch
hätte geltend gemacht werden können (BGE 112 V 180 E. 4b S. 182; Urteil 9C_454/
2012 vom 18. März 2012 E. 4, nicht publ. in: BGE 139 V 106, aber in: SVR 2013
IV Nr. 24 S. 66; Urteil K 70/06 vom 30. Juli 2007 E. 5.1, nicht publ. in: BGE
133 V 579, aber in: SVR 2008 KV Nr. 4 S. 11). Mit der an einen anderen, nicht
rückerstattungspflichtigen Adressaten gerichteten Verfügung wird die Frist
nicht gewahrt (SVR 2004 ALV Nr. 5 S. 13, C 17/03 E. 4.3.2 in fine). 
 
3.   
Das kantonale Gericht gelangte zum Schluss, dass die einjährige
Verwirkungsfrist mangels Kenntnis der Ausgleichskasse über die "richtige"
Rückforderungsadressatin erst mit seinem früheren, die Rückerstattungspflicht
der Mutter verneinenden Entscheid vom 10. November 2015 zu laufen begann. Dies
steht im Widerspruch zur hievor dargelegten Rechtsprechung und verletzt somit
Bundesrecht. Die Ausgleichskasse hätte im Juni 2014 aufgrund der gegebenen
Aktenlage nicht einfach die Mutter der Beschwerdeführerin ins Recht fassen
dürfen. Vielmehr war sie verpflichtet, ohne Verzug ergänzende Abklärungen zur
Frage durchzuführen, ob es sich bei der Auszahlungsadressatin um die
tatsächlich Rückerstattungspflichtige oder aber um eine blosse Inkassostelle
handelt, von welcher die zu Unrecht ausbezahlten Rentenbetreffnisse nicht
zurückgefordert werden können (BGE 139 V 106 E. 7.2.2 in fine S. 106). Diese
Frage hätte innert Monatsfrist geklärt werden können, zumal die
Beschwerdeführerin von Beginn weg auf die blosse Inkassofunktion ihrer Mutter
hinwies und auch die Vorinstanz im erwähnten früheren Entscheid festhielt, es
sei den Akten nichts zu entnehmen, was gegen das Vorliegen eines reinen
Inkassoverhältnisses sprechen würde. Nach dem Gesagten wäre die Verwaltung bei
zumutbarem Einsatz spätestens Ende Juli 2014 in der Lage gewesen, die
Rückforderung der unrechtmässig bezogenen Waisenrenten gegenüber der
Beschwerdeführerin und damit gegenüber der zutreffenden Adressatin geltend zu
machen. Der Rückerstattungsanspruch war demnach zufolge Ablaufs der einjährigen
Verwirkungsfrist nach Art. 25 Abs. 2 ATSG bereits gänzlich erloschen, als die
Ausgleichskasse am 15. Februar 2016 die entsprechende Rückforderungsverfügung
erliess. 
 
4.   
Die Einwendungen der Beschwerdeführerin gegen die Verrechnung der gemäss
Tilgungsplan vom 10. Juli 2014 bereits geleisteten Rückzahlungen in Höhe von
Fr. 18'000.- sind bei diesem Verfahrensausgang gegenstandslos. 
 
5.   
Die im Sinne von Art. 109 Abs. 2 lit. b BGG offensichtlich begründete
Beschwerde ist im vereinfachten Verfahren gutzuheissen. 
 
6.   
Die Gerichtskosten werden der Ausgleichskasse als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
Der obsiegenden (unvertretenen) Beschwerdeführerin ist keine
Parteientschädigung zuzusprechen, weil ihr Arbeitsaufwand den Rahmen dessen
nicht überschritt, was der Einzelne üblicher- und zumutbarerweise nebenbei zur
Besorgung der persönlichen Angelegenheiten auf sich zu nehmen hat (Art. 68 BGG;
BGE 127 V 205 E. 4b S. 207; 110 V 72 E. 7 S. 82, 132 E. 4d S. 134). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 20. Juni 2017 und der Einspracheentscheid der
Ausgleichskasse der Aargauischen Industrie- und Handelskammer vom 16. August
2016 werden aufgehoben. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 6. September 2017 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Attinger 

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