Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 49/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_49/2017  
 
 
Urteil vom 5. März 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann. 
Gerichtsschreiber R. Widmer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Wydler, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St.
Gallen 
vom 21. Dezember 2016 (IV 2014/565). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1956 geborene A.________ war als Schlosser/Dreher berufstätig. Im September
2010 meldete er sich wegen körperlicher Beschwerden und einer Depression bei
der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Der Regionale Ärztliche Dienst
(RAD) gelangte zur Auffassung, dass die Depression das hauptsächliche Problem
zu sein scheine. Nach Einholung eines polydisziplinären Gutachtens bei der
asim, Universitätsspital Basel, vom 13. März 2013, das die Arbeitsfähigkeit
aufgrund des psychischen Leidens im bisherigen Beruf und in
Verweisungstätigkeiten auf 50 % schätzte, einer Behandlung des Versicherten in
der Tagesklinik B.________ vom 4. Juli bis 18. November 2013 und weiteren
Abklärungen lehnte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen den Anspruch auf eine
Invalidenrente mangels einer invalidisierenden gesundheitlichen
Beeinträchtigung im Rechtssinne ab (Verfügung vom 21. November 2014). 
 
B.   
Die von A.________ hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen teilweise gut, indem es ihm ab 1.
März 2011 bis 31. Januar 2013 eine ganze, vom 1. Februar bis 31. Oktober 2013
eine halbe, vom 1. November 2013 bis 28. Februar 2014 wiederum eine ganze und
ab 1. März 2014 eine halbe Invalidenrente zuerkannte (Entscheid vom 21.
Dezember 2016). 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Antrag, der kantonale Gerichtsentscheid vom 21. Dezember 2016 sei in
Bestätigung der Verfügung vom 21. November 2014 aufzuheben. 
Das Versicherungsgericht äussert sich in ablehnendem Sinne zur Beschwerde,
während der Versicherte auf deren Abweisung schliessen lässt und das Bundesamt
für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
D.   
Mit Eingabe vom 27. Februar 2017 ersucht der Versicherte um die Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (
Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem
sie den Anspruch auf eine Invalidenrente bejaht hat. Sie hatte die
diesbezüglich massgebenden Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt, namentlich
die Bestimmungen zu den Begriffen der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG, Abs. 4
Abs. 1 IVG) und der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) sowie zum Anspruch auf
eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 und 2 IVG). Darauf wird verwiesen. 
 
3.  
 
3.1. Nach der früheren Rechtsprechung wurde bei leichten bis mittelschweren
Störungen aus dem depressiven Formenkreis, seien sie im Auftreten rezidivierend
oder episodisch, angenommen, dass - aufgrund der nach gesicherter
psychiatrischer Erfahrung regelmässig guten Therapierbarkeit - hieraus keine
iv-rechlich relevante Einschränkung der Arbeitsfähigkeit resultiert. Den
leichten bis mittelschweren depressiven Erkrankungen fehle es, solange sie
therapeutisch angehbar sind, an einem hinreichenden Schweregrad der Störung, um
diese als invalidisierend anzusehen (vgl. BGE 140 V 193 E. 3.3 S. 196; Urteil
8C_753/2016 vom 15. Mai 2017). Nur in der - seltenen, gesetzlich verlangten
Konstellation mit Therapieresistenz - ist den normativen Anforderungen des Art.
7 Abs. 2 Satz 2 ATSG für eine objektivierende Betrachtungs- und Prüfungsweise
Genüge getan (BGE 141 V 281 E. 3.7.1 bis 3.7.3 S. 295 f.).  
 
3.2. In den zur Publikation bestimmten Urteilen 8C_130/2017 und 8C_841/2016 vom
30. November 2017 hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung geändert und
festgestellt, dass die Therapierbarkeit allein keine abschliessende evidente
Aussage über das Gesamtmass der Beeinträchtigung und deren Relevanz im
iv-rechtlichen Kontext zu liefern vermöge. Weiter hat es erkannt, dass
sämtliche psychischen Erkrankungen, namentlich auch depressive Störungen
leicht- bis mittelgradiger Natur, grundsätzlich einem strukturierten
Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 zu unterziehen seien, welches bislang bei
Vorliegen somatoformer Schmerzstörungen anhand eines Kataloges von Indikatoren
durchgeführt wird. Dieses bleibt entbehrlich, wenn im Rahmen beweiswertiger
fachärztlicher Berichte (vgl. BGE 125 V 351) eine Arbeitsunfähigkeit in
nachvollziehbar begründeter Weise verneint wird und allfälligen gegenteiligen
Einschätzungen mangels fachärztlicher Qualifikation oder aus anderen Gründen
kein Beweiswert beigemessen werden kann (Urteil 8C_841/2016 vom 30. November
2017).  
 
4.  
 
4.1. Gemäss früherem Verfahrensstandard eingeholte Gutachten verlieren nicht
per se ihren Beweiswert. Vielmehr ist im Rahmen einer gesamthaften Prüfung des
Einzelfalls mit seinen spezifischen Gegebenheiten und den erhobenen Rügen
entscheidend, ob ein abschliessendes Abstellen auf die vorhandenen
Beweisgrundlagen vor Bundesrecht standhält. In sinngemässer Anwendung auf die
materiell-beweisrechtlich geänderten Anforderungen ist in jedem einzelnen Fall
zu prüfen, ob die beigezogenen administrativen und/oder gerichtlichen
Sachverständigengutachten - gegebenenfalls im Kontext mit weiteren
fachärztlichen Berichten - eine schlüssige Beurteilung im Lichte der
massgebenden Indikatoren erlauben oder nicht. Je nach Abklärungstiefe und
-dichte kann zudem unter Umständen eine punktuelle Ergänzung genügen (BGE 141 V
281 E. 8 S. 309).  
 
4.2. Die asim hat im Gutachten vom 13. Mai 2013 u.a. eine mittelgradige
depressive Episode mit somatischem Syndrom, ein chronisches lumbovertebrales
Schmerzsyndrom, aktuell relativ beschwerdearm, diagnostiziert und dem
Versicherten für den Zeitraum ab Februar 2010 bis November 2013
Arbeitsunfähigkeitsperioden von wechselweise 50 % und 100 % bescheinigt, wobei
Dr. med. C.________ vom Regionalen Ärztlichen Dienst eine Steigerung der
Arbeitsfähigkeit bei einer Intensivierung der Behandlung für möglich hielt. Im
angefochtenen Entscheid wurde die Erheblichkeit des depressiven Leidens im
iv-rechtlichen Sinne bejaht, weil im Rahmen eines polymorbiden somatischen
Krankheitsbildes eine mehrjährige depressive Erkrankung ohne Remission
vorliege; diese habe sich von den belastenden psychosozialen und
soziokulturellen Faktoren verselbstständigt und würde auch bei deren Wegfall
nicht mehr verschwinden.  
 
4.3. Nachdem das Gutachten der asim vom 13. Mai 2013 eine Arbeitsunfähigkeit
aufgrund einer mittelgradigen depressiven Episode mit somatischem Syndrom
bejaht hat, ist im Lichte der Indikatoren zu prüfen, ob die bescheinigte
Arbeitsunfähigkeit auch rechtlich relevant ist.  
 
4.4. Bei Verlauf und Ausgang von Therapien handelt es sich um wichtige
Schweregradindikatoren (BGE 141 V 281 E. 4.3.1.2 S. 299), die bei der Prüfung
entscheidend in Anschlag gebracht werden dürfen (Urteile 9C_45/2017 E. 3.2 vom
7. Februar 2018; 8C_841/2016 vom 30. November 2017 E. 4.5.2). Aufgrund der
Expertise der asim vom 13. Mai 2013, auf welche die Vorinstanz Bezug nimmt,
steht fest, dass der Versicherte einer leitliniengerechten psychiatrischen
Behandlung unter Einbezug des gesamten biologischen und nicht biologischen
Spektrums bedarf, wobei laut Feststellungen des kantonalen Gerichts bereits bei
der Begutachtung in der asim gemäss Dr. med. D.________ eine stationäre
Behandlung im Raum stand, von welcher in der Folge zugunsten der
tagesstationären Behandlung abgesehen wurde. Entsprechend umfassende Therapien
sind offenbar bis heute nicht eingeleitet oder gar durchgeführt worden. Auch
dem Bericht der Tagesklinik B.________ vom 4. März 2014 lassen sich keine
Einzelheiten zu den nach Abschluss der tagesstationären Behandlung am 18.
November 2013 veranlassten psychiatrischen Therapien entnehmen. Im Bericht
empfohlen wurden lediglich eine ambulante psychiatrische Behandlung,
Psychotherapie sowie Psychopharmakotherapie. Die Akten lassen erkennen, dass
die starke subjektive Krankheitsüberzeugung im Vordergrund stand und steht. Von
einem hohen Leidensdruck kann sodann mit Blick auf den Behandlungsverlauf nicht
gesprochen werden (vgl. zum Verhältnis zwischen Inanspruchnahme therapeutischer
Optionen und tatsächlichem Leidensdruck BGE 141 V 281 E. 4.4.2 S. 304).
Demzufolge kann nicht für den hier zu beurteilenden Zeitraum auf die im
asim-Gutachten attestierte Arbeitsunfähigkeit abgestellt werden. Nach Abschluss
der Behandlung in der Tagesklinik B.________, welche vom 4. Juli bis 18.
November 2013 gedauert hatte, ist eine Arbeitsunfähigkeit, die eine
rentenbegründende Invalidität zu begründen vermöchte, wie bereits von 2011 bis
2013 nicht rechtsgenüglich ausgewiesen, auch wenn die Oberärztin der
Tagesklinik am 4. März 2014 aufgrund des psychischen Gesundheitsschadens ab
Dezember 2013 eine hälftige Arbeitsunfähigkeit in einer leidensangepassten
Erwerbstätigkeit bescheinigt hatte. Für das diagnostizierte Krankheitsgeschehen
bestanden noch therapeutische Optionen; eine Behandlungsresistenz war
ausgeschlossen (vgl. BGE 141 V 281 E. 4.3.1.2 S. 299).  
 
4.5. Mit Bezug auf den Indikator der Konsistenz (BGE 141 V 281 E. 4.4 S. 303)
zeigt das asim-Gutachten, dass Motivation, Compliance und Glaubwürdigkeit des
Beschwerdegegners bei der medizinischen Behandlung sowie auch im Rahmen eines
Eingliederungsversuches positiv hervorgehoben worden sind, was auf das
Vorliegen von Ressourcen hindeutet. Die zeitweiligen somatischen Komorbiditäten
(BGE 141 V 281 E. 4.3.1.3) wie insbesondere ein mittlerweile geheilter Tumor
und eine Rückenproblematik, die laut Gutachten beschwerdearm verläuft, sind
wohl zu beachten, führen jedoch nicht zu einer zusätzlichen erheblichen
Einschränkung des Leistungsvermögens.  
 
4.6. Das entscheidende psychische Leiden wurde mindestens in dem für die
gerichtliche Beurteilung massgeblichen Zeitraum bis zum Erlass der
Verwaltungsverfügung (21. November 2014) nicht adäquat behandelt. Eine den
Rentenanspruch begründende Invalidität lag bis zu jenem Zeitpunkt nicht vor.
Soweit das kantonale Gericht dem Beschwerdegegner für die erwerblichen Folgen
der aus psychiatrischer Sicht attestierten Teilarbeitsunfähigkeit in einer
angepassten erwerblichen Beschäftigung eine Invalidenrente zugesprochen hat,
verletzt der angefochtene Entscheid Bundesrecht (E. 1 hievor).  
 
5.   
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden
Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Da die gesetzlichen
Voraussetzungen für die unentgeltliche Rechtspflege erfüllt sind (Art. 64 Abs.
1 und 2 BGG), ist dem Gesuch des Beschwerdegegners um Bewilligung der
unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung stattzugeben. Der
Beschwerdegegner wird jedoch auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht. Danach
hat die Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu
in der Lage ist. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
In Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 21. Dezember 2016 aufgehoben. 
 
2.   
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt. 
3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen. 
4. 
Rechtsanwalt Markus Wydler wird aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 2400.-
entschädigt. 
5. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
zurückgewiesen. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 5. März 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer 

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