Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 491/2017
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

[displayimage]       
9C_491/2017            

 
 
 
Urteil vom 26. September 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann, 
Gerichtsschreiberin Oswald. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Zimmermann, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin, 
 
 Secunda Sammelstiftung, Täfernstrasse 31, 
5405 Baden. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente, Wiedererwägung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
24. Mai 2017 (VBE.2017.41). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1959 geborene A.________, zuletzt bis Januar 2000 bei der B.________ AG als
Plattenleger angestellt gewesen, bezog mit Wirkung ab 1. Dezember 2000 bei
einem Invaliditätsgrad von 100% eine ganze Invalidenrente (Verfügung der
IV-Stelle des Kantons Aargau [fortan: IV-Stelle] vom 5. November 2002). Der
Anspruch auf eine ganze Rente wurde von der IV-Stelle mehrfach bestätigt. 
Im Juni 2014 leitete die IV-Stelle ein weiteres Revisionsverfahren ein. In
dessen Verlauf veranlasste sie eine polydisziplinäre Begutachtung bei der PMEDA
AG Polydisziplinäre Medizinische Abklärungen, Zürich (fortan: PMEDA; Expertise
vom 24. Mai 2016). Gestützt darauf hob sie die Rente nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens mit Verfügung vom 25. November 2016 wiedererwägungsweise
per Ende Dezember 2016 auf, ausgehend von einem Invaliditätsgrad von 18%. 
 
B.   
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau mit Entscheid vom 24. Mai 2017 ab. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Antrag, der Entscheid vom 24. Mai 2017 sei aufzuheben und es sei ihm nach wie
vor eine ganze Rente auszurichten. Eventualiter seien ihm
Eingliederungsmassnahmen zuzusprechen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts durch die Vorinstanz nur, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (
Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von 
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Im angefochtenen Entscheid werden Anwendungsbereich und
Anwendungsvoraussetzungen der Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG) zutreffend
wiedergegeben. Darauf wird verwiesen. Zu wiederholen ist, dass zweifellose
Unrichtigkeit nach Art. 53 Abs. 2 ATSG in der Regel vorliegt, wenn die
notwendigen fachärztlichen Abklärungen überhaupt nicht oder nicht mit der
erforderlichen Sorgfalt durchgeführt wurden, oder wenn eine Leistung aufgrund
falscher Rechtsregeln bzw. ohne oder in unrichtiger Anwendung der massgeblichen
Bestimmungen zugesprochen wurde. Soweit ermessensgeprägte Teile der
Anspruchsprüfung vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage einschliesslich
der Rechtspraxis im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprache in
vertretbarer Weise beurteilt worden sind, scheidet die Annahme zweifelloser
Unrichtigkeit aus (BGE 141 V 405 E. 5.2 S. 414 f. mit Hinweisen). Eine auf
keiner nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung der massgeblichen
Arbeitsfähigkeit beruhende Invaliditätsbemessung ist nicht rechtskonform und
die entsprechende Verfügung zweifellos unrichtig im wiedererwägungsrechtlichen
Sinne (Urteil 9C_401/2014 vom 26. November 2014 E. 2 mit Hinweisen). 
Die Feststellungen, welche der Beurteilung der zweifellosen Unrichtigkeit
zugrunde liegen, sind tatsächlicher Natur und folglich nur eingeschränkt
überprüfbar (E. 1 hievor). Dagegen ist die Auslegung und Konkretisierung dieses
unbestimmten Rechtsbegriffs als Wiedererwägungsvoraussetzung eine Rechtsfrage,
die das Bundesgericht grundsätzlich frei prüft (Art. 95 lit. a BGG; Urteil
9C_309/2017 vom 13. Juli 2017 E. 2.2.2 mit Hinweisen). 
 
3.   
Die Vorinstanz erwog, die IV-Stelle habe bei der Rentenzusprache im
Wesentlichen auf den Bericht des Hausarztes dipl. med. C.________, Facharzt für
Allgemeine Innere Medizin, vom 15. April 2002 abgestellt, der zur Arbeits- und
Erwerbsfähigkeit Stellung genommen und eine ganze Rente für angezeigt erachtet
habe. Die von ihm gestellten Diagnosen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit
(ein chronisches cervicovertebrales Syndrom bei Discopathie C5/6, ein
chronisches Lumbovertebralsyndrom, Sensibilitätsstörungen und eine depressive
Entwicklung) zeugten von einem komplexen gesundheitlichen Geschehen und hätten
einer fachärztlichen Beurteilung bedurft. Eine solche fehle völlig,
insbesondere was das psychische Geschehen angehe. In komplexeren Fällen sei es
im Verfügungszeitpunkt bereits nicht mehr praxiskonform gewesen, die
Feststellung von Arbeitsunfähigkeit im Sinne von ATSG und IVG entscheidend auf
einen Kurzbericht des Hausarztes abzustellen, weshalb eine klare Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes bei der Rentenzusprache vorliege und die IV-Stelle
berechtigt gewesen sei, ihre Verfügung vom 5. November 2002 in Wiedererwägung
zu ziehen. 
Die beweiskräftige polydisziplinäre Expertise der PMEDA vom 24. Mai 2016
attestiere dem Beschwerdeführer in einer angepassten Tätigkeit eine volle
Arbeitsfähigkeit, womit nach dem unbestrittenen Einkommensvergleich ein
Invaliditätsgrad von 20% resultiere. Schliesslich gehe aus dem Gutachten klar
hervor, dass Eingliederungsmassnahmen nicht notwendig seien. Demnach sei -
trotz des langjährigen Rentenbezugs - die medizinisch attestierte
Arbeitsfähigkeit auf dem Weg der Selbsteingliederung verwertbar. 
 
4.  
 
4.1. Der Beschwerdeführer bestreitet die zweifellose Unrichtigkeit der
rentenzusprechenden Verfügung und macht geltend, entgegen der Vorinstanz habe
sich die IV-Stelle nicht nur auf den Bericht des Hausarztes vom 15. April 2002
gestützt, sondern hauptsächlich auf die diesem Bericht beigelegten
Konsiliarberichte. Die Verfügung sei aufgrund dieser zahlreichen fachärztlichen
Berichte und der bildgebend dokumentierten degenerativen Veränderungen der
Wirbelsäule erfolgt, mithin nach eingehender Abklärung des rechtserheblichen
Sachverhalts. Auch das Fehlen einer fachärztlichen psychiatrischen Abklärung
lasse die Verfügung vom 5. November 2002 nicht als zweifellos unrichtig
erscheinen, da er nie unter einer psychischen Erkrankung gelitten habe und auch
der RAD der einmaligen Erwähnung einer Depression keinerlei Gewicht zugemessen
habe.  
Diese Einwände verfangen nicht. Die Vorinstanz stellte - nicht offensichtlich
unrichtig und daher für das Bundesgericht verbindlich - fest, dass die
IV-Stelle eine volle Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit im Wesentlichen gestützt
auf den Bericht des Hausarztes annahm. Dies wird auch im von der IV-Stelle zum
Fall geführten Protokoll (Ausdruck per 31. Januar 2017) bestätigt. Im Eintrag
der Sachbearbeiterin vom 21. Mai 2002 steht: "Nach Durchsicht der umfangreichen
Krankengeschichte (Arztbericht vom 15.04.02) ist uns einerseits nicht klar,
weshalb dem Versicherten absolut keine Tätigkeiten mehr zumutbar sein sollen,
anderseits lässt die klare Haltung des Arztes keine andere Möglichkeit zu, als
eine 100%-ige Berentung zuzusprechen". Daraus erhellt nicht nur, dass die
IV-Stelle bei der Rentenzusprache zumindest massgeblich, wenn nicht sogar
ausschliesslich, auf die Arbeitsfähigkeitsschätzung des Hausarztes abstellte,
sondern auch, dass diese in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit in einer dem Leiden
angepassten Tätigkeit nicht nachvollzogen werden konnte. Die attestierte
gänzliche Arbeitsunfähigkeit in jedweder Tätigkeit lässt sich, entgegen dem
Beschwerdeführer, auch nicht anhand der Konsiliarberichte oder der übrigen
Aktenlage, wie sie sich im Zeitpunkt der Leistungszusprache darbot,
nachvollziehen. Bei bekanntermassen eher schwachen Kausalbeziehungen
degenerativer spinaler Bildbefunde mit klinischen Syndromen ergibt sie sich
insbesondere nicht allein aus den bildgebend dokumentierten degenerativen
Veränderungen der Wirbelsäule. Mithin basierte die Verfügung vom 5. November
2002 auf einer nicht schlüssigen, pauschalen hausärztlichen
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Auf eine solche Grundlage durfte aber bereits
im Zeitpunkt der Rentenzusprache nicht abgestellt werden (BGE 125 V 351 E. 3b/
cc S. 353; Urteil 9C_121/2014 vom 3. September 2014 E. 3.3.2 und 3.3.3, in: SVR
2014 IV Nr. 39 S. 137; je mit Hinweisen). Indem die IV-Stelle trotz der von der
Sachbearbeiterin bemängelten, fehlenden Nachvollziehbarkeit der hausärztlichen
Arbeitsfähigkeitsschätzung auf weitere medizinische Abklärungen verzichtete und
eine ganze Rente zusprach, verletzte sie den Untersuchungsgrundsatz und ist die
Verfügung vom 5. November 2002 zweifellos unrichtig. 
 
4.2. Nicht bestritten ist die im PMEDA-Gutachten ex tunc attestierte volle
Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers in einer angepassten Tätigkeit (E. 3
hievor), weshalb sich Weiterungen hierzu erübrigen.  
 
4.3. Eventualiter verlangt der Beschwerdeführer, es seien vor Aufhebung der
Rente Eingliederungsmassnahmen durchzuführen. Solche seien
rechtsprechungsgemäss angezeigt bei Personen, deren Rente nach mindestens 15
Jahren Bezugsdauer oder nach Zurücklegen des 55. Altersjahrs aufgehoben werde,
bis sie in der Lage seien, das medizinisch-theoretisch (wieder) ausgewiesene
Leistungspotenzial mittels Eigenanstrengung auszuschöpfen und erwerblich zu
verwerten. Der Beschwerdeführer sei 58 Jahre alt und habe während rund 16
Jahren eine Rente bezogen, weshalb es Bundesrecht verletze, ihm solche
Massnahmen zu verweigern, zumal das Versicherungsgericht nicht ausgeführt habe,
weshalb es von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung abweiche.  
Nach ständiger Rechtsprechung ist im Regelfall eine medizinisch attestierte
Verbesserung der Arbeitsfähigkeit auf dem Weg der Selbsteingliederung zu
verwerten. Bei Versicherten, die bei der revisions- oder wiedererwägungsweisen
Herabsetzung oder Aufhebung der Invalidenrente das 55. Altersjahrs vollendet
haben oder die eine Rentenbezugsdauer von mindestens 15 Jahren aufweisen, ist -
von Ausnahmen abgesehen - eine Selbsteingliederung grundsätzlich nicht zumutbar
(Urteil 9C_228/2010 vom 26. April 2011 E. 3 mit Hinweisen, in: SVR 2011 IV Nr.
73 S. 220; Urteil 9C_231/2015 vom 7. September 2015 E. 2; Zusammenstellung der
Rechtsprechung in: PETRA FLEISCHANDERL, Behandlung der Eingliederungsfrage im
Falle der Revision einer langjährig ausgerichteten Invalidenrente, in: SZS 2012
S. 360 ff.). 
Der Beschwerdeführer war bei Erlass der rentenaufhebenden Verfügung 57 Jahre
alt und hatte während knapp 16 Jahren eine ganze Rente bezogen. Gemäss
Expertise besteht in einer leidensangepassten Tätigkeit (körperlich leicht bis
mittelschwer, wechselbelastend oder überwiegend sitzend ausgeübt) eine volle
Arbeitsfähigkeit; medizinisch besteht keine Notwendigkeit für
Eingliederungsmassnahmen. Die IV-Stelle hat zur Festsetzung des
Invalideneinkommens Tätigkeiten gemäss der vom Bundesamt für Statistik
periodisch durchgeführten Lohnstrukturerhebung (LSE) 2014 herangezogen, welche
keine beruflichen Vorkenntnisse erfordern, weshalb der Beschwerdeführer nicht,
wie dies bei der Rückkehr in eine qualifizierte Tätigkeit notwendig sein kann,
vor dem Wiedereinstieg auf den aktuellen Stand des berufsspezifischen Wissens
und Könnens gebracht werden muss (vgl. z.B. Urteil 9C_254/2011 vom 15. November
2011 E. 7.2). Ferner setzen grundsätzlich in Betracht fallende
Eingliederungsmassnahmen eine subjektive Eingliederungsfähigkeit voraus: Der
Beschwerdeführer liess in der neuropsychologischen Testung jegliche
Anstrengungsbereitschaft vermissen. Ausserdem erhoben die Gutachter Hinweise
für eine bewusstseinsnahe aggravierende bis gänzlich verfälschende Präsentation
von Einschränkungen und Beschwerden. Es kommt hinzu, dass der Beschwerdeführer
weder in seinem gegen den Vorbescheid erhobenen Einwand noch im kantonalen
Beschwerdeverfahren auch nur ansatzweise zum Ausdruck gebracht hat, dass er
berufliche Massnahmen anbegehre (vgl. Urteil 9C_231/2015 vom 7. September 2015
E. 4.2). Insgesamt lässt das Verhalten des Beschwerdeführers dessen
Eingliederungsbereitschaft als mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht
gegeben erscheinen. Entsprechend verletzte die Vorinstanz kein Bundesrecht,
indem sie die Sache nicht zwecks Durchführung von Eingliederungsmassnahmen an
die IV-Stelle zurück wies (vgl. z.B. auch Urteil 9C_474/2013 vom 20. Februar
2014 E. 6.3; Urteil 9C_726/2011 vom 1. Februar 2012 E. 5.1; 9C_59/2017 vom 21.
Juni 2017 E. 3). 
 
5.   
Damit ist der angefochtene Entscheid im Ergebnis zu bestätigen. 
 
6.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, der Secunda Sammelstiftung, dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 26. September 2017 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Oswald 

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben