Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 466/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_466/2017  
 
 
Urteil vom 11. Juni 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber Grünenfelder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Sibylle Käser Fromm, Rechtsdienst Inclusion
Handicap, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich 
vom 15. Mai 2017 (IV.2016.01067). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1985 geborene A.________ leidet an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/
Hyperaktivitätsstörung (nachfolgend: ADHS). Anfang September 2015 ersuchte er
erneut um berufliche Massnahmen, nachdem die IV-Stelle des Kantons Zürich eine
erste Arbeitsvermittlung erfolglos abgeschlossen hatte (Verfügung vom 28. Juni
2013). Die Verwaltung veranlasste eine modulare Abklärung in der B.________.
Ferner übernahm sie die Kosten für verschiedene Basiskurse an der Schule
C.________, wo der Versicherte ab 1. März 2016 einen Ausbildungsplatz erhielt.
Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren wies die IV-Stelle das Gesuch um
Übernahme der Ausbildungskosten ab, da keine Anhaltspunkte bestünden, dass eine
angemessene reguläre Ausbildung invaliditätsbedingt unmöglich sei (Verfügung
vom 23. August 2016). 
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 15. Mai 2017 ab. 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit den Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei
festzustellen, dass grundsätzlich Anspruch auf berufliche Massnahmen bestehe.
Für die Ausbildung an der Hotelfachschule seien ihm Taggelder und das
notwendige Coaching zuzusprechen. Sodann beantragt A.________ die
unentgeltliche Rechtspflege. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (
Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer durch seine gesundheitliche
Beeinträchtigung (ADHS) daran gehindert wurde, eine reguläre berufliche
Ausbildung (vgl. Art. 16 Abs. 1 IVG) abzuschliessen. 
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze über die
Invalidität (Art. 7 f. ATSG) und die Annahme eines psychischen
Gesundheitsschadens (Art. 4 Abs. 1 IVG; Art. 6 und 3 Abs. 1 ATSG) zutreffend
dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen betreffend den Anspruch auf
berufliche Eingliederungsmassnahmen, insbesondere im Zusammenhang mit der
Kostenübernahme bei erstmaliger beruflicher Ausbildung und der - dieser gleich
gestellten - beruflichen Neuausbildung invalider Versicherter, die nach dem
Eintritt der Invalidität eine ungeeignete und auf die Dauer unzumutbare
Erwerbstätigkeit aufgenommen haben (Art. 8 in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1
sowie Abs. 2 lit. b IVG; Art. 5 IVV). Darauf wird verwiesen. 
 
3.   
Die Vorinstanz ist in Würdigung der medizinischen Akten und des Werdegangs des
Beschwerdeführers zum Schluss gelangt, es sei zwar möglich, aber nicht
überwiegend wahrscheinlich, dass die berufliche Ausbildung nach Abschluss des
Gymnasiums aufgrund eines invalidisierenden Gesundheitsschadens gescheitert
sei. Gestützt darauf hat sie die abweisende Verfügung der IV-Stelle vom 23.
August 2016 bestätigt. 
 
4.  
 
4.1. Der Beschwerdeführer will einen Zusammenhang zwischen der ADHS und der
fehlenden erstmaligen Berufsausbildung vorab anhand der Telefonnotizen der
Prof. Dr. med. D.________, Klinik K.________, vom 30. September 2016 und 23.
Juni 2017, des Berichts des Dr. phil. E.________ und der Dr. med. F.________,
psychiatrisch-psychotherapeutische Praxis G.________, vom 14. Oktober 2016,
sowie des Fragebogens zu Handen der Schule C.________ vom 22. April 2017
belegen.  
 
4.2. Die betreffenden Unterlagen gingen - bis auf den Bericht vom 23. Juni 2017
- erstmals am 19. Mai 2017 (Poststempel: 18. Mai 2017) bei der Vorinstanz ein.
Diese reagierte am 29. Mai 2017 auf die Beschwerdeergänzung und teilte dem
Versicherten mit, das Urteil sei bereits am 15. Mai 2017 ergangen. Daher
könnten die Eingaben für das abgeschlossene Beschwerdeverfahren nicht mehr
berücksichtigt werden. Hierbei legte das kantonale Gericht insbesondere
zutreffend dar, dass bereits mit Verfügung vom 18. Januar 2017 ein zweiter
Schriftenwechsel als entbehrlich erachtet worden sei. Sachbezogene Eingaben
hätten demnach innert nützlicher Frist erfolgen müssen (BGE 138 III 252 E. 2.2
S. 255), was unterblieben ist. Der Beschwerdeführer liess sich im Gegenteil
während rund fünf Monaten nicht zur Sache vernehmen. Folglich durfte das
kantonale Gericht ohne Weiteres von einem Verzicht auf das Replikrecht (Art. 29
Abs. 1 und 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK) ausgehen, liegt ein solcher doch
praxisgemäss bereits nach Ablauf von zwanzig Tagen seit dem Ende des
ordentlichen Schriftenwechsels vor (Urteil 9C_193/2013 vom 22. Juli 2013 E. 2.1
mit Hinweis). Der Beschwerdeführer rügt denn auch zu Recht nicht, er sei nicht
zur Replik zugelassen worden.  
Im bundesgerichtlichen Verfahren stellen die nachgereichten Berichte und
Stellungnahmen (E. 4.1) neue Beweismittel dar (vgl. Art. 99 Abs. 1 BGG). Der
Beschwerdeführer begründet weder, weshalb diese Unterlagen im vorinstanzlichen
Verfahren nicht (rechtzeitig) hätten vorgelegt werden können, noch legt er dar,
inwiefern erst der angefochtene Entscheid Anlass zu deren Einreichung gegeben
haben soll (vgl. BGE 143 V 19 E. 1.2 S. 22 f.). Sie sind daher als unechte
Noven unzulässig und bleiben unbeachtlich. Gleiches gilt für den Bericht vom
23. Juni 2017, der ohnehin nach dem angefochtenen Urteil datiert und ein echtes
Novum darstellt. 
 
5.  
 
5.1. Wenn in der Beschwerde aus materieller Sicht vorgebracht wird, die
fehlende Konstanz an den in der Vergangenheit angetretenen Stellen und die
Lücken im Curriculum Vitae könnten mit der ADHS begründet werden, überzeugt
dies nicht. Der Beschwerdeführer vermag insbesondere nicht aufzuzeigen, dass
nach Abschluss der Mittelschule ein Zusammenhang zwischen der ADHS-Problematik
und seinen "Gang"-Aktivitäten bestand (zum erforderlichen Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit vgl. statt vieler: BGE 138 V 218 E. 6 S. 221).
Jedenfalls ist die vorinstanzliche Feststellung, wonach invaliditätsfremde
Faktoren dafür verantwortlich gewesen seien, dass er unmittelbar nach der
Matura keine Ausbildung absolvierte, mit Blick auf die massgebliche Aktenlage
(vgl. E. 4) nicht offensichtlich unrichtig. Überdies hat das kantonale Gericht
durchaus berücksichtigt, dass der Versicherte bei seinen bisherigen Tätigkeiten
nur geringe Einkommen erzielte. Entscheidend ist jedoch (vgl. vorinstanzliche
Erwägung 4.3.2), dass er verschiedentlich in der Lage war, eine berufliche
Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt auszuüben. Arbeitete der Beschwerdeführer
nach eigenen Angaben - abgesehen von einem Praktikum beim H.________ und
verschiedenen Freelancer-Tätigkeiten - insbesondere anderthalb Jahre lang (vom
1. März 2011 bis 30. August 2012) zu 100 % als Redaktor bei I.________, so
spricht dies klar gegen einen invalidisierenden Gesundheitsschaden im Sinne von
Art. 16 IVG.  
 
5.2. Was sodann die guten Behandlungsmöglichkeiten und die gute medikamentöse
Compliance betrifft, auf welche das kantonale Gericht weiter Bezug genommen
hat, trat nach Aussage des behandelnden Psychotherapeuten Dr. phil. E.________
in den Jahren 2014/15 eine gesundheitliche Stabilisierung ein. Diese habe es
dem Versicherten ermöglicht, seine Tagesstruktur sinnvoller auch in beruflichen
Tätigkeiten umzusetzen (Bericht vom 20. November 2015). Indes war der
Beschwerdeführer offenkundig bereits vorher fähig, sich zumindest teilweise in
den Arbeitsprozess zu integrieren (E. 5.1). Davon kann umso mehr ausgegangen
werden, wenn mittlerweile eine adäquate medikamentöse und psychotherapeutische
Behandlung besteht, wie dies die Vorinstanz willkürfrei (E. 1) festgestellt
hat. Die Eingliederungsabklärung im B._________ ergab denn auch, dass der
Beschwerdeführer trotz seiner unstrukturierten und unordentlichen Arbeitsweise
imstande sei, im administrativen und handwerklich-technischen Bereich eine
verwertbare Arbeitsleistung zu erbringen (Schlussbericht vom 25. Februar 2015,
S. 6). Inwiefern diese Angaben nicht nachvollziehbar sein sollen, ist -
entgegen den Ausführungen in der Beschwerde - nicht ersichtlich. Der Umstand,
dass aufgrund der krankheitsbedingten Absenzen (Grippe) keine abschliessende
Empfehlung abgegeben werden konnte, vermag daran nichts zu ändern. Schliesslich
überzeugt auch der Einwand nicht, der Beschwerdeführer habe seine Lehrstelle an
der Hotelfachschule nur mit der Unterstützung seines Coaches gefunden, zumal
von keiner Seite in Abrede gestellt wird, dass er bei seinen früheren
Anstellungen (E. 5.1 in fine) noch keine professionelle Hilfe in Anspruch nahm.
Wohl mag es für die Ausbildung an der Hotelfachschule hilfreich sein, dass der
Versicherte seit April 2015 auf ein Coaching zurückgreift. Dieses wurde aber
aus medizinischer Sicht nicht als Voraussetzung für eine erstmalige Ausbildung
genannt (vgl. Stellungnahme des Regionalen Ärztlichen Dienstes vom 4. August
2016). Rückschlüsse auf einen Zusammenhang zwischen der ADHS und dem Fehlen
einer erstmaligen Berufsausbildung können daraus folglich nicht gezogen werden.
 
Bei diesem Ergebnis kann offen bleiben, ob die Ausbildung im Hotelfach eine
erfolgreiche Eingliederung sicherstellen kann, was die Vorinstanz in ihrer
Eventualbegründung verneint hat. Die Beschwerde ist unbegründet. 
 
6.   
Ausgangsgemäss hat grundsätzlich der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (Art.
64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202) kann jedoch entsprochen werden. Es wird
indes ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach er der
Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später dazu in der Lage
ist. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen, und es wird dem
Beschwerdeführer Rechtsanwältin Sibylle Käser Fromm als Rechtsbeiständin
beigegeben. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.   
Rechtsanwältin Sibylle Käser Fromm wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 11. Juni 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder 

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