Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 463/2017
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

[displayimage]       
9C_463/2017            

 
 
 
Urteil vom 21. September 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino, 
Gerichtsschreiberin Oswald. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Monika Friedli, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, 
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung 
(Wiedererwägung; Invalideneinkommen), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern 
vom 16. Mai 2017. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1980 geborene A.________, zuletzt bei der B.________ AG als Assistentin
angestellt gewesen, erlitt am 18. April 2003 eine Kleinhirnblutung mit schwerem
cerebellärem Syndrom, Ataxie, motorischem Hemisyndrom und psychomotorischer
Verlangsamung. Gemäss Verfügung der IV-Stelle Bern (fortan: IV-Stelle) vom 26.
Juni 2006 bezog sie bei einem ermittelten Invaliditätsgrad von 93 % mit Wirkung
ab dem 1. April 2004 eine ganze Rente der Invalidenversicherung. Diesen
Anspruch bestätigte die IV-Stelle revisionsweise mit Mitteilung vom 21. Oktober
2009. 
Im Rahmen eines weiteren, im Juli 2014 eingeleiteten, Revisionsverfahrens
führte die IV-Stelle erwerbliche und medizinische Abklärungen durch und holte
insbesondere ein polydisziplinäres Gutachten beim Zentrum für Medizinische
Begutachtung, Basel (fortan: ZMB; Expertise vom 8. Juli 2015), sowie einen
Abklärungsbericht Haushalt (Bericht vom 19. Februar 2016) ein. Gestützt darauf
hob sie die Rente nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens mit Verfügung vom
14. November 2016 per Ende Dezember 2016 revisionsweise auf. 
 
B.   
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, am 16. Mai 2017 mit der
substituierten Begründung der Wiedererwägung ab, nachdem es der Versicherten
Gelegenheit gegeben hatte, sich hierzu zu äussern. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Antrag, der Entscheid vom 16. Mai 2017 sei aufzuheben und es sei ihr die
bisherige ganze Invalidenrente weiterhin zu entrichten. 
Die IV-Stelle beantragt Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts durch die Vorinstanz nur, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (
Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von 
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Im angefochtenen Entscheid werden die Bestimmungen und Grundsätze zur
Beweiswürdigung und zum Beweiswert ärztlicher Berichte zutreffend
wiedergegeben. Ebenfalls richtig sind die Ausführungen zu Anwendungsbereich und
-voraussetzungen von Revision (Art. 17 ATSG) und Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2
ATSG). Darauf wird verwiesen. 
Zu ergänzen ist, dass zweifellose Unrichtigkeit nach Art. 53 Abs. 2 ATSG in der
Regel vorliegt, wenn die notwendigen fachärztlichen Abklärungen überhaupt nicht
oder nicht mit der erforderlichen Sorgfalt durchgeführt wurden, oder wenn eine
Leistung aufgrund falscher Rechtsregeln bzw. ohne oder in unrichtiger Anwendung
der massgeblichen Bestimmungen zugesprochen wurde. Soweit ermessensgeprägte
Teile der Anspruchsprüfung vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage
einschliesslich der Rechtspraxis im Zeitpunkt der rechtskräftigen
Leistungszusprache in vertretbarer Weise beurteilt worden sind, scheidet die
Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus (BGE 141 V 405 E. 5.2 S. 414 f. mit
Hinweisen). 
Die Feststellungen, welche der Beurteilung der zweifellosen Unrichtigkeit
zugrunde liegen, sind tatsächlicher Natur und folglich nur eingeschränkt
überprüfbar (E. 1 hievor). Dagegen ist die Auslegung und Konkretisierung dieses
unbestimmten Rechtsbegriffs als Wiedererwägungsvoraussetzung eine Rechtsfrage,
die das Bundesgericht grundsätzlich frei prüft (Art. 95 lit. a BGG; Urteil
9C_309/2017 vom 13. Juli 2017 E. 2.2.2 mit Hinweisen). 
 
3.   
Die Vorinstanz erwog im Wesentlichen, die Verfügung vom 26. Juni 2006 sei
gestützt auf die Annahme erfolgt, die Versicherte sei in jedwelcher Tätigkeit
vollständig arbeitsunfähig, weshalb denn auch als Invalideneinkommen der
Verdienst am geschützten Arbeitsplatz berücksichtigt worden sei. Nach damaliger
Aktenlage sei dies jedoch nicht zutreffend gewesen. So habe der Hausarzt in
seinem Bericht vom 24. Februar 2006 angegeben, intellektuelle Bürotätigkeiten
seien zu sechs Stunden täglich bei wahrscheinlich vermindertem Arbeitstempo
zumutbar. Auch die in der Stiftung C.________ für berufliche Integration
durchgeführten beruflichen Massnahmen hätten ein Leistungsvermögen von rund 30
% aufgezeigt. Dass dort eine Eingliederung "in die allgemeine Wirtschaft" als
nicht möglich erachtet worden sei, ändere nichts, da für die
Invaliditätsbemessung gemäss Art. 16 ATSG nicht der reale, sondern der
ausgeglichene hypothetische Arbeitsmarkt massgebend sei. Indem die Verwaltung
dies bei der Rentenzusprache nicht beachtete, habe sie Bundesrecht verletzt.
Die rentenzusprechende Verfügung sei demnach als zweifellos unrichtig
wiedererwägungsweise aufzuheben und der Rentenanspruch ex nunc et pro futuro
frei zu überprüfen um erstmalig einen rechtskonformen Zustand herzustellen. 
 
4.   
Die Beschwerdeführerin rügt eine unvollständige und damit bundesrechtswidrige
Sachverhaltsfeststellung sowie unrichtige Rechtsanwendung durch die Vorinstanz.
Das kantonale Gericht lasse ausser Acht, dass die IV-Stelle vor der
Rentenzusprache umfassend versucht habe, sie einzugliedern, was durch die
berufsberaterischen Bemühungen sowie die mehrmonatigen Aufenthalte in den
Stiftungen C.________ und D.________ belegt sei. Aktenkundig sei die Rente
verfügt worden, da es trotz fachgerechter Bemühungen nicht gelang, sie in den
Arbeitsprozess zu integrieren. Daran ändere weder die Prognose des Hausarztes,
wonach in einer Bürotätigkeit eine maximale Leistungsfähigkeit von 50 %
erreicht werden könne, noch die Leistungsfähigkeitsschätzung von 30 % in der
Stiftung C.________ etwas, zumal erstere widersprüchlich sei (gleichzeitig sei
von einer Leistungsfähigkeit im Umfange von sechs Stunden die Rede) und sich
letztere ausschliesslich auf Tätigkeiten im geschützten Rahmen beziehe. Bedingt
durch ihre erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen infolge Hirnblutung sei
sie auch nicht in der Lage gewesen, eine einjährige berufliche Umschulung in
geschütztem Rahmen umzusetzen. Folglich könne die Verfügung vom 26. Juni 2006
nicht als unvertretbar bezeichnet werden. 
 
5.  
 
5.1. In seinem Schlussbericht vom 30. Januar 2006 hielt der Berufsberater der
Invalidenversicherung fest, die Versicherte könne in Anbetracht der niedrigen
Gesamtleistung während des Arbeitstrainings in der Stiftung C.________ vom 28.
Februar 2005 bis zum 27. Februar 2006 und der verschiedenen Defizite sowohl
körperlicher als auch mentaler Art (im Wesentlichen: Gleichgewichtsprobleme und
Schwindel, wenig Kraft in Armen und Händen, motorische Störungen der linken
Hand, Sehprobleme im Sinne eines eingeschränkten Sehfeldes v.a. bei
Bildschirmarbeiten, Ermüdung gegen Mittag, verwaschene Aussprache, reduzierte
Konzentrationsfähigkeit und rasche geistige Ermüdung) vorderhand nicht in die
offene Wirtschaft eingegliedert werden, sondern benötige eine weitere
Stabilisierung und Training. Behinderungsbedingt geeignet seien - nach
gescheiterter Umschulung in Richtung Buchhaltung und Rechnungswesen -
Tätigkeiten, die eher praktisch, handwerklich und mittelmotorisch ausgerichtet
seien und auch Anteile von Administration enthalten könnten. Als neues Ziel
wurde eine bürotechnische Schulung mit praktisch-handwerklichen Einsatzgebieten
wie Logistik, Verpackung und ähnlichem genannt. Die Stiftung C.________ könne
der Versicherten einen geeigneten Arbeitsplatz im Halbtagespensum in der
Logistik anbieten.  
In der rentenzusprechenden Verfügung hielt die IV-Stelle einerseits fest, die
Beschwerdeführerin gelte in allen Tätigkeiten als zu 100 % arbeitsunfähig;
gleichzeitig vermerkte sie, dass diese mit einem Wochenpensum von 20 Stunden in
der Abteilung Logistik der Stiftung C.________ arbeite und berücksichtigte
ihren dort erzielten Lohn als Invalideneinkommen. Damit ging sie offensichtlich
- entgegen ihrer missverständlichen Formulierung - von einer gewissen
Restarbeitsfähigkeit aus. Dass sie im Verfügungszeitpunkt eine solche aufwies,
bestreitet denn auch die Beschwerdeführerin nicht. Von keiner Seite bestritten
sind auch die damals bestehenden und festgestellten funktionellen
Einschränkungen. 
 
5.2. Soweit die Vorinstanz auf die Einschätzung des Hausarztes Dr. med.
E.________ vom 24. Februar 2006 verweist, blendet sie folgende Tatsachen aus:
Abgesehen davon, dass dieser seine Angaben bloss als wahrscheinlich bezeichnet
- im Sozialversicherungsrecht gilt der Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (BGE 141 V 15 E. 3.1 S. 20; Urteil 9C_179/2016 vom 11.
August 2016 E. 4.2.1; je mit Hinweisen) -, sind sie, wie die Beschwerdeführerin
zu Recht einwendet, auch widersprüchlich. So spricht er einerseits von einer
bleibenden Erwerbstätigkeit für (intellektuelle) Bürotätigkeiten von 50 %,
anderseits hält er solche während täglich sechs Stunden für zumutbar. Letzteres
Pensum liess sich auf die Dauer klar nicht durchhalten, wie dem Schlussbericht
des Berufsberaters entnommen werden kann. Es darf denn auch nicht ausser Acht
gelassen werden, dass die Einschätzung des Dr. med. E.________ zwar vom 17.
Februar 2006 datiert. Als letzte Untersuchung gab er aber den 14. Oktober 2005
an.  
Dass die Beschwerdeführerin bei der Stiftung C.________ eine effektive
Leistungsfähigkeit von rund 30 % (bei einem Pensum von rund 50 %) erreichte,
eine Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt aber als vorderhand nicht
realisierbar bezeichnet wurde, kann nicht mit dem Hinweis abgetan werden, für
die Invaliditätsbemessung sei der ausgeglichene hypothetische Arbeitsmarkt
massgebend. Die Vorinstanz übersieht, dass dem nur so gewesen wäre, wenn sich
die Beurteilung des Berufsberaters, der die konkret durchgeführten beruflichen
Massnahmen zugrunde liegen, als unhaltbar herausgestellt hätte, weil auf dem
ersten Arbeitsmarkt sehr wohl dem gegebenen Zumutbarkeitsprofil entsprechende
Stellen vorhanden waren (vgl. statt vieler Urteil 9C_277/2016 vom 15. März 2017
E. 4.1). Zwar ist gemäss Rechtsprechung (grundlegend: BGE 107 V 17 E. 2b S. 20)
die Arbeitsfähigkeit in erster Linie gestützt auf die ärztlichen Befunde zu den
gesundheitlichen Beeinträchtigungen und den daraus folgenden
körperlich-funktionellen Belastbarkeitsgrenzen festzustellen. Indes waren die
(unbestrittenen) Hauptprobleme der Versicherten - rasche Ermüdung, allgemeine
Verlangsamung - auch dem Hausarzt nicht verborgen geblieben. Das kantonale
Gericht begründet nicht einmal ansatzweise, weshalb die Evaluation bei der
Stiftung C.________ nicht zu überzeugen vermag und zwingend ergänzende
Untersuchungen angezeigt gewesen wären. Mithin kann in Bezug auf den
ursprünglichen Verfügungszeitpunkt vom 26. Juni 2006 weder ein Ermessensfehler
der IV-Stelle noch eine durch diese klar begangene Rechtsverletzung ausgemacht
werden. Von zweifelloser Unrichtigkeit kann demnach nicht die Rede sein. 
 
5.3. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde begründet.  
 
6.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern vom 16. Mai 2017 und die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 14.
November 2016 werden aufgehoben. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 21. September 2017 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Oswald 

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben