Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 462/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_462/2017  
 
 
Urteil vom 14. Mai 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann. 
Gerichtsschreiber Williner. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Christian Haag, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin, 
 
 AXA Stiftung Berufliche Vorsorge, General-Guisan-Strasse 40, 8400 Winterthur. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
17. Mai 2017 (VBE.2016.741, VBE.2017.143). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1972 geborene A.________, Mutter von vier Kindern, war zuletzt bis
Juni 2005 als Unterhaltsreinigerin bei der B.________ GmbH tätig gewesen. Im
Mai 2006 meldete sie sich wegen einer Erschöpfungsdepression bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau
wies das Leistungsbegehren gestützt auf das psychiatrische Gutachten der MEDAS
Inselspital vom 12. Dezember 2008 ab (Invaliditätsgrad 30 %; Verfügung vom 23.
Juni 2009).  
 
Im Januar 2010 meldete sich die Versicherte unter Hinweis auf einen
verschlechterten Gesundheitszustand erneut zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle
holte bei der Frauenklinik am C.________ den Bericht vom 27. Januar 2010
betreffend eine Hospitalisation vom 23. November bis zum 25. Dezember 2009 ein.
Gestützt darauf sowie auf eine Stellungnahme des Regionalen Ärztlichen Dienstes
(RAD) vom 17. Februar 2010 wies sie das Leistungsbegehren wiederum ab
(Verfügung vom 7. Mai 2010). Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 21. Juni 2011
teilweise gut und wies die Sache zur weiteren Abklärung und Neuverfügung an die
Verwaltung zurück. Diese veranlasste abermals verschiedene Abklärungen in
erwerblicher und medizinischer Hinsicht; namentlich ordnete sie eine
psychiatrische Begutachtung bei Dr. med. dipl. psych. E.________, FMH
Psychiatrie und Psychotherapie, an (Gutachten vom 23. Juni 2012). Gestützt
darauf sprach die IV-Stelle A.________ rückwirkend ab dem 1. Juli 2010 eine
ganze Rente zu (Invaliditätsgrad 70 %; Verfügung vom 20. Februar 2013). 
 
A.b. Im Rahmen einer im August 2014 eingeleiteten Rentenüberprüfung veranlasste
die IV-Stelle ein psychiatrisches Gutachten bei Dr. med. F.________, FMH
Psychiatrie und Psychotherapie (Expertise vom 2. Mai 2015). Aufgrund der
Ergebnisse dieser Begutachtung liess sie A.________ im Zeitraum zwischen dem 2.
Juli und dem 15. Dezember 2015 durch die Firma G.________ AG observieren
(Ermittlungsbericht vom 28. Dezember 2015) und danach nochmalig (unter Einbezug
der Observationsergebnisse) psychiatrisch begutachten (Expertise von Dr. med.
H.________, FMH Psychiatrie und Psychotherapie, vom 21. August 2016). Gestützt
darauf stellte die IV-Stelle in Aussicht, die Rente rückwirkend per 1. Juli
2010 aufzuheben. Daran hielt sie mit Verfügung vom 16. November 2016 fest. Mit
Verfügung vom 3. Februar 2017 forderte sie zudem Fr. 200'822.- an zu viel
bezahlten Leistungen zurück, davon Fr. 177'519.20 auf A.________ entfallend.  
 
B.   
Die beiden dagegen erhobenen Beschwerden hiess das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau teilweise gut. Es änderte die Verfügungen vom 16. November 2016
und vom 3. Februar 2017 dahingehend ab, dass es die ganze Invalidenrente
rückwirkend per 31. Juli 2015 aufhob und die Versicherte zur Rückerstattung der
zwischen dem 1. August 2015 und dem 30. September 2016 unrechtmässig bezogenen
Leistungen in der Höhe von Fr. 34'398.- verpflichtete. Im Übrigen wies es die
Beschwerden ab (Entscheid vom 17. Mai 2017). 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, es sei ihr unter Aufhebung der Verfügungen vom 16. November
2016 und vom 3. November 2016 (recte: 3. Februar 2017) sowie des
vorinstanzlichen Entscheids eine ganze Rente auszurichten. Die IV-Stelle habe
die Observationsunterlagen, das Besprechungsprotokoll vom 18. Januar 2016, das
darauf gestützte Gutachten von Dr. med. H.________ vom 21. August 2016 sowie
den folgenden Bericht des RAD vom 23. August 2016 zu vernichten. Ferner sei ihr
eine Genugtuung in der Höhe von Fr. 8'600.- auszurichten. 
 
Am 8. August und am 14. August 2017 lässt die Beschwerdeführerin unaufgefordert
zwei weitere Eingaben betreffend den zwischenzeitlich ergangenen BGE 143 I 377
einreichen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG
). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
1.2. Die Beschwerde hat unter anderem die Begehren und deren Begründung zu
enthalten, wobei in der Begründung in gedrängter Form - unter Bezugnahme auf
und in Auseinandersetzung mit den entscheidenden vorinstanzlichen Erwägungen -
darzulegen ist, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG). Dabei gilt in Bezug auf die Sachverhaltsfeststellung und
Beweiswürdigung durch die Vorinstanz wie auch in Bezug auf die Verletzung von
Grundrechten eine qualifizierte Begründungspflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; Urteil
9C_306/2016 vom 4. Juli 2016 E. 1.1 mit Hinweis auf BGE 130 I 258 E. 1.3 S. 261
und Urteil 9C_619/2014 vom 31. März 2015 E. 2.2).  
 
1.3. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG
). Indes prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht
der Beschwerde (vgl. E. 1.2 vorne), grundsätzlich nur die geltend gemachten
Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE
141 V 234 E. 1 S. 236).  
 
2.  
 
2.1. Der Rentenaufhebung liegt unter anderem die psychiatrische Expertise der
Dr. med. H.________ vom 21. August 2016 zugrunde, welche unter Einbezug des
Ermittlungsberichts vom 28. Dezember 2015 erging. Die Beschwerdeführerin macht
geltend, Überwachung und Gutachten beruhten auf einer ungenügenden gesetzlichen
Beweisgrundlage und dürften deshalb nicht berücksichtigt werden.  
 
2.2. In BGE 143 I 377 E. 4 S. 384 entschied das Bundesgericht, dass es trotz 
Art. 59 Abs. 5 IVG auch im Bereich der Invalidenversicherung an einer
ausreichenden gesetzlichen Grundlage fehlt, die die Observation umfassend klar
und detailliert regelt. Folglich verletzen solche Handlungen, seien sie durch
einen Unfallversicherer oder durch eine IV-Stelle veranlasst, Art. 8 EMRK
beziehungsweise den einen im Wesentlichen gleichen Gehalt aufweisenden Art. 13
BV.  
 
2.3. Was die Verwendung des im Rahmen einer widerrechtlichen Observation
gewonnenen Materials anbelangt, richtet sich diese allein nach schweizerischem
Recht. Das Bundesgericht erkannte in E. 5.1.1 des erwähnten Urteils im
Wesentlichen, dass die Verwertbarkeit der Observationsergebnisse (und damit
auch der gestützt darauf ergangenen weiteren Beweise) grundsätzlich zulässig
ist, es sei denn, bei einer Abwägung der tangierten öffentlichen und privaten
Interessen würden diese überwiegen. Mit Blick auf die gebotene
Verfahrensfairness brachte es sodann in derselben Erwägung (mit Hinweisen) eine
weitere Präzisierung an: Eine gegen Art. 8 EMRK verstossende Videoaufnahme ist
verwertbar, solange Handlungen der versicherten Person aufgezeichnet werden,
die sie aus eigenem Antrieb und ohne äussere Beeinflussung machte, und ihr
keine Falle gestellt worden war. Ferner erwog es, dass von einem absoluten
Verwertungsverbot wohl immerhin insoweit auszugehen ist, als es um
Beweismaterial geht, das im nicht öffentlich frei einsehbaren Raum
zusammengetragen wurde (E. 5.1.3; Urteil 8C_192/2017 vom 25. August 2017 E.
5.4.1 mit Hinweisen; zum öffentlich einsehbaren Raum: BGE 137 I 327).  
 
3.  
 
3.1. Mit Blick auf diese Rechtsprechung war die streitbetroffene Observation
unzulässig, weshalb eine Verletzung von Art. 8 EMRK und Art. 13 BV
festzustellen ist. Es bleibt zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine
Verwertung erfüllt sind.  
 
3.2. Dr. med. F.________ wies im Gutachten vom 2. Mai 2015 darauf hin,
differenzialdiagnostisch müsse auf Grund der Gesamtschau aller Befunde auch
eine Aggravation und das bewusste Vortäuschen bzw. Simulieren einer psychischen
Störung in Betracht gezogen werden. Er begründete dies unter anderem mit den
Diskrepanzen in den Schilderungen der Versicherten, mit ihrem frühzeitigen
Austritt aus der Klinik C.________ (Bericht vom 27. Januar 2010) sowie mit dem
Fehlen einer weiterführenden bzw. einer beendeten
psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung. Mit diesen gutachterlichen
Ausführungen bestanden ausgewiesene Zweifel betreffend die Leistungs (un)
fähigkeit der Beschwerdeführerin. Gegenstand der Observation bildeten
ausschliesslich im öffentlichen Raum aufgenommene (unbeeinflusste) Handlungen
der Versicherten, weshalb kein Fall absoluter Unverwertbarkeit vorliegt (vgl.
E. 2.3 hievor). Daran ändern die Einwände der Beschwerdeführerin in der Eingabe
vom 8. August 2017 zu den Videosequenzen auf dem Balkon ihrer Wohnung nichts.
Wie sich aus dem Ermittlungsbericht vom 28. Dezember 2015 ergibt und die
Beschwerdeführerin nicht bestreitet, ist ihr Balkon von der Strasse aus
öffentlich frei einsehbar. Es sind keine Gründe ersichtlich oder substanziiert
dargetan, welche diese Aufnahmen (konkret wurde die Versicherte während zwei
Minuten beim Aufspannen und Zurechtlegen von Wäsche und während drei Minuten
bei einer Unterhaltung mit ihrem Ehemann, dem Rauchen einer Zigarette sowie dem
Einnehmen eines Getränks gefilmt) unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zum
öffentlich einsehbaren Raum (vgl. dazu Urteil 8C_830/2011 vom 9. März 2012 E.
6.3 mit Hinweis auf BGE 137 I 327 E. 6.2) als unzulässig erscheinen liessen.
Die IV-Stelle observierte die Beschwerdeführerin an insgesamt 10 Tagen im
Zeitraum zwischen dem 16. Juli und dem 15. Dezember 2015 während jeweils
mehreren Stunden pro Tag. Von den 10 Tagen konnte die Versicherte an den ersten
1.5 Tagen gar nicht angetroffen werden. An den übrigen 8.5 Tagen konnte sie
insbesondere bei verschiedenen Einkaufstouren sowie beim Führen verschiedener
Fahrzeuge beobachtet werden. Soweit die Beschwerdeführerin in ihrer Eingabe vom
8. August 2017 einwendet, der Eingriff bezogen auf die Gesamtdauer und die
Anzahl der Überwachungstage wiege schwerer als im Sachverhalt, wie er BGE 143 I
377 zu Grunde lag, lässt sie ausser Acht, dass sie dennoch weder einer
systematischen noch ständigen Überwachung ausgesetzt war (vgl. dazu auch die
Urteile 8C_570/2017 vom 6. Februar 2018 E. 3.2.2, 8C_235/2017 vom 23. November
2017 E. 4.5 und 9C_261/2017 vom 14. November 2017 E. 4.1). Damit und mit Blick
auf die aufgezeichneten (sehr) alltäglichen Verrichtungen und Handlungen kann
insgesamt nicht von einer schweren Verletzung der Persönlichkeit gesprochen
werden.  
 
3.3. Wird diesem relativ bescheidenen Eingriff in die grundrechtliche Position
der Beschwerdeführerin das erhebliche und gewichtige öffentliche Interesse an
der Verhinderung des Versicherungsmissbrauchs entgegengestellt, ergibt sich,
dass die Observationsergebnisse sowie sämtliche Akten, die darauf Bezug nehmen
(insbesondere das erwähnte Folgegutachten der Dr. med. H.________ vom 21.
August 2016), in die Beweiswürdigung miteinbezogen werden können und müssen (
BGE 143 I 377 E. 5.1.2 S. 386).  
 
4.  
 
4.1. Die Beschwerdeführerin bringt nicht vor, die rückwirkende Rentenaufhebung
per Ende Juli 2015 sei bei Verwertbarkeit der Observationsergebnisse und des
Gutachtens der Dr. med. H.________ vom 21. August 2016 nicht rechtens. Ebenso
wenig stellt sie für diesen Fall Bestand und Höhe der Rückforderung in Frage.
Folglich erübrigen sich Weiterungen dazu (vgl. E. 1 hievor).  
 
4.2. Dasselbe gilt in Bezug auf den geltend gemachten Anspruch auf Genugtuung.
Die Beschwerdeführerin setzt sich nicht ansatzweise mit den diesbezüglichen
Ausführungen in E. 2 des angefochtenen Entscheids auseinander. Offensichtlich
nichts zu ihren Gunsten abzuleiten vermag sie aus dem stattdessen vorgebrachten
Hinweis auf den Art. 41 EMRK, wonach der EGMR bei Konventionsverletzungen eine
gerechte Entschädigung zusprechen kann, sofern das innerstaatliche Recht nur
eine unvollkommene Wiedergutmachung gestattet. Die Beschwerdeführerin verkennt,
dass sich diese Norm an den EGMR richtet und vor einem innerstaatlichen Gericht
nicht direkt anwendbar ist (vgl. Mark E. Villiger, Handbuch der Europäischen
Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1999, Rz. 237).  
 
5.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, der AXA Stiftung Berufliche Vorsorge, dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 14. Mai 2018 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Williner 

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