Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 43/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_43/2017  
 
 
Urteil vom 29. Januar 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber Williner. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch die Soziale Dienste der Stadt Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 29. November 2016 (IV.2016.00410). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1979 geborene A.________, ausgebildete Fachfrau Hauswirtschaft, war zuletzt
bis September 2011 in der Wäscherei des Altersheims B.________ tätig. Im April
2012 meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die
IV-Stelle des Kantons Zürich ordnete eine Abklärung in der Beruflichen
Abklärungsstelle C.________ an (Abschlussbericht vom 22. August 2013) und
erteilte Kostengutsprache für eine Umschulung zur Elektronikverdrahterin
(Mitteilung vom 20. August 2013). Diese Massnahme brach A.________ im September
2014 ab. Die Verwaltung veranlasste eine rheumatologisch-psychiatrische
Expertise bei Dr. med. D.________, FMH Innere Medizin und Rheumatologie, und
Prof. Dr. med. E.________, FMH Neurologie sowie Psychiatrie und Psychotherapie.
Gestützt auf deren Gutachten vom 10. September 2015 verneinte die IV-Stelle den
Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung (Verfügung vom 14. März
2016). 
 
B.   
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hiess die dagegen erhobene
Beschwerde gut und sprach A.________ in Aufhebung der Verfügung vom 14. März
2016 eine ganze Rente der Invalidenversicherung ab dem 1. Oktober 2012 zu
(Entscheid vom 29. November 2016). 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt, es sei die Verfügung vom 14. März 2016 unter Aufhebung des
angefochtenen Entscheids zu bestätigen. 
 
A.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde und ersucht um unentgeltliche
Prozessführung. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf
eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Rente der
Invalidenversicherung. Die hierfür massgeblichen Rechtsgrundlagen gibt der
angefochtene Entscheid zutreffend wieder. Darauf wird verwiesen. 
 
2.1. Die Vorinstanz hat dem bidisziplinären Gutachten vom 10. September 2015
Beweiskraft beigemessen, wonach die Versicherte (mit Einfluss auf die
Arbeitsfähigkeit) an einer schweren kombinierten Persönlichkeitsstörung (ICD-10
Ziff. F61), einer rezidivierenden depressiven Störung im Verlauf wechselnden
Ausmasses (aktuell remittiert; ICD-10 Ziff. F33) sowie unspezifischen
Rückenschmerzen leidet. Gestützt auf diese Expertise stellte das kantonale
Gericht fest, die Versicherte sei seit Herbst 2011 in sämtlichen Tätigkeiten zu
100 % arbeitsunfähig. Sie habe deshalb Anspruch auf eine ganze Invalidenrente
ab Oktober 2012.  
 
2.2. Die IV-Stelle bestreitet das Vorliegen einer Erwerbsunfähigkeit und damit
einer Invalidität mit der Begründung, die Versicherte unterziehe sich keiner
adäquaten Therapie, namentlich keiner Psychotherapie, wie sie von Prof. Dr.
med. E.________ (mit guter Prognose) empfohlen worden sei. Zudem werde die in
der Expertise gestellte Diagnose einer schweren kombinierten
Persönlichkeitsstörung, deren Schweregrad mit Blick auf die Ausbildungs- und
Sozialanamnese der Versicherten ohnehin fraglich sei, nicht begründet.
Insbesondere fehle es an einer gutachterlichen Auseinandersetzung mit den
Kriterien gemäss ICD-10.  
 
3.  
 
3.1. Das Bundesgericht hat mit dem zur Publikation vorgesehenen Urteil 8C_130/
2017 vom 30. November 2017 erkannt, dass grundsätzlich sämtliche psychischen
Erkrankungen einem strukturierten Beweisverfahren nach Massgabe von BGE 141 V
281 zu unterziehen sind. Im ebenfalls zur Publikation vorgesehenen Urteil
8C_841/2016 mit demselben Datum hielt es im Speziellen in Bezug auf leichte bis
mittelschwere depressive Störungen fest, eine invalidenversicherungsrechtlich
relevante psychische Gesundheitsschädigung sei nicht mehr mit dem Argument der
fehlenden Therapieresistenz auszuschliessen. Dabei bekräftigte das
Bundesgericht in E. 4.2.1 seine Rechtsprechung gemäss BGE 127 V 294 E. 4c S.
298, wonach die Therapierbarkeit eines Leidens dem Eintritt einer
rentenbegründenden Invalidität nicht absolut entgegenstehe. In der
Folgeerwägung hielt es fest, diese Grundsätze stünden im Einklang mit der
Rechtsprechung zu den psychosomatischen Leiden gemäss BGE 141 V 281, wonach die
grundsätzlich gegebene Therapierbarkeit (als Indiz) in die gesamthaft
vorzunehmende allseitige Beweiswürdigung miteinzubeziehen sei.  
 
3.2. Nach dem Gesagten kann zwar die IV-Stelle einzig aus dem Einwand, es
bestünden noch zumutbare therapeutische Möglichkeiten, nichts Entscheidendes zu
ihren Gunsten ableiten. Vielmehr ist diesem Umstand im Rahmen des
strukturierten Beweisverfahrens nach Massgabe von BGE 141 V 281 Rechnung zu
tragen. Ein solches ist aber bisher nicht durchgeführt worden.  
 
3.2.1. Prof. Dr. med. E.________ verneinte im Rahmen seiner Erhebung des
Psychostatus grobe Störungen des Bewusstseins und der Orientierung, des
Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit, des Denkens, der Intelligenz sowie der
Affektivität. Einzig in Bezug auf die Persönlichkeit der Versicherten wies er
darauf hin, klinisch fänden sich "Hinweise" auf eine kombinierte
Persönlichkeitsstörung mit vorherrschend unreifen, ängstlich vermeidenden und
abhängigen Anteilen. Zudem bestünden emotional-instabile und histrionische
"Komponenten". Nähere Ausführungen zu diesen Hinweisen und Komponenten finden
sich in der Expertise nicht. Weiter verneinte der Gutachter eine aktuell
bestehende depressive Symptomatik. Dennoch diagnostizierte er eine solche (mit
Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit) unter Hinweis auf die blosse Möglichkeit, es
könne bei der geschilderten Form der kombinierten Persönlichkeitsstörung zu
depressiven Einbrüchen kommen. Damit allein ist eine fachärztlich einwandfrei
diagnostizierte Gesundheitsschädigung mit anspruchserheblicher Einschränkung
der Leistungsfähigkeit nicht ausgewiesen (vgl. BGE 141 V 281 E. 2.1 S. 285 mit
Hinweis).  
 
3.2.2. Selbst unter Annahme einer solchen ist eine schlüssige Beurteilung der
Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit anhand der Standardindikatoren gemäss BGE 141 V
281 nicht möglich: Es fehlen in der psychiatrischen Expertise schlüssige
Ausführungen zu den persönlichen Ressourcen der Versicherten. Gebeten um eine
diesbezügliche Schilderung, führte der Gutachter aus, intellektuelle Parameter
würden die Ausbildungs- und Arbeitsfähigkeit nicht beeinträchtigen. Weitere
Angaben zu vorhandenen oder fehlenden Ressourcen finden sich nicht. Dem
Gutachten mangelt es auch an Informationen zur Prüfung der Konsistenz. Es
betrifft dies insbesondere den Umstand, dass die Versicherte im privaten Umfeld
- anders als im beruflichen - keine wesentlichen Einschränkungen beklagt.
Gegenteils beschreibt das Gutachten ein absolut intaktes soziales Umfeld,
verschiedene Hobbies und generell einen geschäftigen Tagesablauf. Der Gutachter
erklärte diese diskrepanten Einschränkungen allein damit, die Versicherte könne
sich privat mit an ihre Leiden adaptierten Personen umgeben. Wie die IV-Stelle
richtig einwendet, ist den gutachterlichen Ausführungen nicht zu entnehmen,
weshalb dies nicht ebenso an einem Arbeitsplatz möglich sein sollte, wo die
Versicherte mit einem gewissen sozial üblichen Entgegenkommen des Arbeitgebers
rechnen könnte (vgl. dazu Urteil 9C_254/2017 vom 21. August 2017 E. 5 mit
Hinweis auf 8C_602/2010 vom 30. August 2010 E. 4.4.2).  
 
3.3. Daher ist ein neues Gutachten einzuholen, das die Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit im Einklang mit der geltenden Rechtslage nach Massgabe der im
Regelfall heranzuziehenden Standardindikatoren ermöglicht. Zu diesem Zweck ist
die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen.  
 
4.  
 
4.1. Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung oder an die Vorinstanz zu
weiteren Abklärung (mit noch offenem Ausgang) oder neuer Entscheidung gilt für
die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten als vollständiges Obsiegen im
Sinne von Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG, unabhängig davon, ob sie
überhaupt beantragt oder ob das entsprechende Begehren im Haupt- oder
Eventualantrag gestellt wird (vgl. BGE 137 V 210 E. 7.1 S. 271).  
 
4.2. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin zu überbinden. Ihrem Gesuch um unentgeltliche Prozessführung
kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG). Sie hat der Bundesgerichtskasse
Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 29. November 2016 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 14. März 2016 werden aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Zürich
zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Der Beschwerdegegnerin wird die unentgeltliche Prozessführung gewährt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 29. Januar 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Williner 

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