Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 424/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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9C_424/2017            

 
 
 
Urteil vom 8. September 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber R. Widmer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle Bern, 
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.A.________, 
vertreten durch Rechtsdienst Inclusion Handicap, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern 
vom 4. Mai 2017. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1987 geborene, aus Bolivien stammende A.A.________ leidet an einer
pränatalen Retinopathie und einer dadurch bedingten schweren Sehbehinderung
beidseits. Im Dezember 2003 reiste sie in die Schweiz ein. Im Mai 2007
verheiratete sie sich mit B.A.________. Am 22. Juni 2007 meldete sie sich bei
der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Am 6. Februar 2008 lehnte die
IV-Stelle Bern das Leistungsgesuch verfügungsweise ab, weil die
versicherungsmässigen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Am 22. Oktober 2009
stellte die Versicherte ein neues Leistungsgesuch, auf welches die IV-Stelle
mit Verfügung vom 16. Dezember 2009 nicht eintrat. Am 27. Juli 2010 meldete
sich A.A.________ erneut bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an,
wobei sie eine Verschlechterung der Sehkraft geltend machte. Mit Verfügung vom
10. November 2010 sprach ihr die IV-Stelle ab 1. August 2010 eine Entschädigung
für leichte Hilflosigkeit zu. Soweit das Gesuch den Invalidenrentenanspruch
betraf, trat die IV-Stelle darauf nicht ein (Verfügung vom 19. November 2010).
Im Juli 2011 erteilte die IV-Stelle Kostengutsprache für berufliche
Eingliederungsmassnahmen, welche die Versicherte vorzeitig abbrach. Mit
Verfügung vom 27. Januar 2016 eröffnete die IV-Stelle der Versicherten, dass
sie keinen Anspruch auf eine Invalidenrente habe. Der Versicherungsfall sei
bereits vor der Einreise in die Schweiz eingetreten. 
 
B.   
A.A.________ liess Beschwerde einreichen mit dem Rechtsbegehren, unter
Aufhebung der Verfügung vom 27. Januar 2016 sei ihr eine ausserordentliche
Invalidenrente zuzusprechen. Mit Entscheid vom 4. Mai 2017 hiess das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern die Beschwerde teilweise gut, hob die
angefochtene Verfügung auf und wies die Sache an die IV-Stelle zurück, damit
sie, nach Vornahme der Abklärungen im Sinne der Erwägungen, über den
Rentenanspruch neu verfüge. 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Rückweisungsentscheide mit verbindlichen Vorgaben zur neuen Beurteilung stellen
für die betroffene Behörde rechtsprechungsgemäss einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG dar, mit der
Folge, dass diese selbstständig beim Bundesgericht angefochten werden können
(BGE 140 V 282 E. 4.2 S. 285, 133 V 477 E. 5.2.4 S. 484 f.). Der
vorinstanzliche Entscheid, welcher die IV-Stelle zur Vornahme bestimmter
Abklärungen verpflichtet, kann daher von dieser selbstständig angefochten
werden. 
 
2.  
 
2.1. Die Vorinstanz hielt zunächst fest, die in Rechtskraft erwachsenen
früheren Verfügungen präjudizierten die erneute Geltendmachung des
Rentenanspruchs nicht. Mit Bezug auf die Mindestbeitragsdauer von drei Jahren
sei zu beachten, dass die Beschwerdegegnerin seit Mai 2007 verheiratet und ihr
Ehemann erwerbstätig ist. Es sei daher zu prüfen, ob das Erfordernis unter dem
Gesichtswinkel des Art. 3 Abs. 3 lit. a AHVG, wonach die eigenen Beiträge
nichterwerbstätiger Ehegatten von erwerbstätigen Versicherten als bezahlt
gelten, sofern der Ehegatte Beiträge von mindestens der doppelten Höhe des
Mindestbeitrages bezahlt hat, erfüllt ist. Hinsichtlich des Zeitpunkts, in
welchem die Invalidität eingetreten ist, sei auf die Einschätzung des
Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) abzustellen; danach sei seit September
2012 von einem stabilen Gesundheitszustand auszugehen. Zwischen 2007 und 2012
sei eine Verschlechterung eingetreten, die in der Erblindung endete. Die
Versicherte habe ferner ab April 2011 eine von der Invalidenversicherung
unterstützte berufliche Abklärung, verbunden mit einer sehbehinderten
technischen Grundschulung, absolviert. Am 22. Juli 2011 habe die IV-Stelle
Kostengutsprache für berufliche Massnahmen gewährt. Nach der Erblindung auch
auf dem linken Auge habe die Versicherte die Eingliederungsmassnahmen
abgebrochen. Nachdem bis Januar 2012 Eingliederungsmassnahmen durchgeführt
wurden, sei die Auffassung, die Invalidität habe bereits bei der Einreise in
die Schweiz bestanden, verfehlt. Vielmehr habe der Versicherungsfall
Invalidenrente nicht vor Abschluss der Eingliederungsmassnahmen eintreten
können. Es spreche nichts dagegen, den allfälligen Eintritt der
rentenspezifischen Invalidität frühestens auf September 2012 festzusetzen. Bis
zu diesem Zeitpunkt sei der Beschwerdegegnerin die Erfüllung der dreijährigen
Beitragszeit grundsätzlich möglich gewesen; sofern die übrigen
Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind, bestehe grundsätzlich Anspruch auf eine
ordentliche Rente. Zu prüfen sei schliesslich, ob die Versicherte mindestens zu
40 % invalid ist.  
 
2.2. Die IV-Stelle wendet ein, sie habe mit Verfügung vom 6. Februar 2008 das
Leistungsgesuch der Beschwerdegegnerin abgelehnt. Dieses habe auch den
Invalidenrentenanspruch betroffen. Damit habe sie den Rentenanspruch der
Versicherten infolge Nichterfüllens der versicherungsmässigen Voraussetzungen
rechtskräftig abgewiesen. Indem die Vorinstanz festgehalten habe, dass die
vormaligen in Rechtskraft erwachsenen Verfügungen die erneute Geltendmachung
des Rentenanspruchs nicht präjudizieren, habe sie den allgemeinen
Rechtsgrundsatz der res iudicata missachtet. Auch liege kein zweiter
Versicherungsfall vor. Zur Gesundheitsbeeinträchtigung, die bei Einreise in die
Schweiz bestanden hat, sei keine völlig neue hinzu getreten, die zu einer
Erhöhung des Invaliditätsgrades führen würde.  
 
3.  
 
3.1. Soweit die IV-Stelle rügt, die Vorinstanz habe die Rechtskraft der den
Anspruch auf eine Invalidenrente verneinenden Verfügung missachtet, ist auf die
Rechtsprechung zu verweisen. Gemäss BGE 136 V 369 E. 3.1.2 S. 374 muss für die
Umschreibung der Rechtskraft und der damit verbundenen Rechtsbeständigkeit
eines den Anspruch auf eine Dauerleistung verneinenden negativen Entscheids auf
die Begründungselemente zurückgegriffen werden.  
In der Begründung der hier interessierenden Verfügung vom 6. Februar 2008
führte die IV-Stelle aus, die versicherungsmässigen Voraussetzungen seien für
sämtliche beantragten Leistungen nicht erfüllt. Weiter wurde im Verfügungstext
festgehalten, dass die Versicherte "keine Rente sondern Berufsberatung,
Hilfsmittel, Eingliederungsmassnahmen" beantrage. Die IV-Stelle erachtete
demnach die versicherungsmässigen Voraussetzungen für diese Leistungen als
nicht erfüllt. Hingegen betraf diese Verfügung entgegen den Vorbringen der
Beschwerdeführerin nicht den Anspruch auf eine Invalidenrente. Die Auffassung
der Vorinstanz, wonach die Verfügung vom 6. Februar 2008 die Verfügung vom 27.
Januar 2016 nicht präjudiziert, trifft daher zu. 
 
3.2. Des Weiteren macht die IV-Stelle geltend, die Feststellung der Vorinstanz,
wonach der Eintritt der rentenspezifischen Invalidität frühestens auf September
2012 festzusetzen sei, sei nicht korrekt. Damit und mit ihren weiteren
Ausführungen, insbesondere der Behauptung, bei der Versicherten handle es sich
um eine Frühinvalide, die bei Erreichen des 18. Altersjahres nicht in einer
Eingliederungsmassnahme gestanden hat, setzt sie sich nicht mit den Erwägungen
des kantonalen Gerichts auseinander. Dieses hatte die Vereinbarung eines
Eingliederungsplans im Jahre 2011 sowie die Möglichkeit beruflicher Massnahmen
erwähnt und auf eine Verschlechterung bzw. Stabilisierung des
Gesundheitszustandes erst im September 2012 hingewiesen. Indem die IV-Stelle
lediglich behauptet, bei der Versicherten handle es sich um eine frühinvalide
Person, ohne auf die Feststellungen der Vorinstanz hinsichtlich Natur und
Auswirkungen des Gesundheitsschadens Bezug zu nehmen, ist ihre Rüge nicht
hinreichend begründet und vermag insbesondere keine offensichtlich unrichtige
Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz darzutun (Art. 97 Abs. 1 BGG
).  
 
4.   
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 8. September 2017 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer 

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