Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 423/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_423/2017        

Urteil vom 10. Juli 2017

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber Williner.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Felix Barmettler,
Beschwerdeführer,

gegen

Bundesverwaltungsgericht,
Kreuzackerstrasse 12, 9000 St. Gallen,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung (unentgeltliche Rechtspflege),

Beschwerde gegen die Zwischenverfügung
des Bundesverwaltungsgerichts
vom 4. Mai 2017.

Sachverhalt:

A. 
Der 1949 geborene A.________ bezog eine halbe Rente der Invalidenversicherung.
Mit Verfügung vom 15. Januar 2014 wurde diese durch die Schweizerische
Ausgleichskasse SAK in eine ordentliche Altersrente überführt. Am 17. Juli 2015
teilte die SAK A.________ mit, gemäss den zur Verfügung stehenden Akten besitze
er die Staatsangehörigkeit des Kosovo und habe Wohnsitz ausserhalb der Schweiz.
Er habe deshalb keinen Anspruch auf eine Altersrente. Aufgrund einer
Besitzstandsgarantie für kosovarische IV-Rentner bestehe indessen Anspruch auf
Weiterausrichtung der bisherigen Invalidenrente. Bezugnehmend auf dieses
Schreiben forderte die IV-Stelle für Versicherte im Ausland (IVSTA) mit
Verfügung vom 1. September 2015 Fr. 7'245.- zu Unrecht ausbezahlter Leistungen
zurück.

B. 
A.________ erhob dagegen Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Gleichzeitig
stellte er ein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und
Verbeiständung, welches das Bundesverwaltungsgericht mit Verfügung vom 4. Mai
2017 mangels Bedürftigkeit abwies.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
es sei ihm unter Aufhebung der Verfügung vom 4. Mai 2017 ab dem Zeitpunkt der
Beschwerdeeinreichung beim Bundesverwaltungsgericht vom 9. Oktober 2015 die
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren, eventuell die Sache
zur Neubeurteilung an dieses zurückzuweisen. Für das Verfahren vor
Bundesgericht ersucht er ebenfalls um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung.

Erwägungen:

1. 
Eine selbständig eröffnete Verfügung, mit welcher im vorinstanzlichen Verfahren
ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung abgewiesen wird,
stellt praxisgemäss einen Zwischenentscheid dar, der geeignet ist, einen nicht
wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zu
bewirken (BGE 133 IV 335 E. 4 S. 338). Auf die Beschwerde gegen die Verfügung
vom 4. Mai 2017 ist daher einzutreten.

2. 
Zu prüfen ist, ob die Vorinstanz das Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung
der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung zu Recht wegen fehlender
prozessualer Bedürftigkeit abgewiesen hat.

2.1. Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat
Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht
aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat
sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand (Art. 29 Abs. 3 BV).
Eine Person ist bedürftig, wenn sie nicht in der Lage ist, für die
Prozesskosten aufzukommen, ohne dass sie Mittel beanspruchen müsste, die zur
Deckung des Grundbedarfs für sie und ihre Familie notwendig sind (BGE 128 I 225
E. 2.5.1 S. 232; 127 I 202 E. 3b S. 205). Die prozessuale Bedürftigkeit
beurteilt sich nach der gesamten wirtschaftlichen Situation des Rechtsuchenden
im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs (BGE 124 I 1 E. 2a S. 2; Urteil 9C_26/
2016 vom 25. Februar 2016 E. 9.1). Dazu gehören einerseits sämtliche
finanziellen Verpflichtungen, andererseits die Einkommens- und
Vermögensverhältnisse (Urteil 9C_380/2015 vom 17. November 2015 E. 5.1 mit
Hinweisen). Bei der Beurteilung der Bedürftigkeit ist das Einkommen beider
Ehegatten zu berücksichtigen (BGE 115 Ia 193 E. 3a S. 195; 108 Ia 9 E. 3 S. 10;
103 Ia 99 E. 4 S. 101; Urteil 9C_780/2014 vom 2. Juni 2015 E. 5).

2.2. Das Bundesverwaltungsgericht verneinte die prozessuale Bedürftigkeit. Es
erwog, dem monatlichen Einkommen von Fr. 2'540.35 stünden anrechenbare Auslagen
von Fr. 1'359.60 gegenüber. Mit dem resultierenden Überschuss von Fr. 1'180.75
sei der Beschwerdeführer in der Lage, die Prozesskosten innert eines Jahres zu
tilgen.

2.3. Der Beschwerdeführer wendet dagegen ein, das Bundesverwaltungsgericht habe
sich bei der Prüfung der prozessualen Mittellosigkeit auf offensichtlich
unrichtige und willkürliche Annahmen in Bezug auf die Lebenshaltungskosten im
Kosovo gestützt (vgl. nachfolgend E. 3). Zudem habe die Vorinstanz Art. 65 Abs.
1 und 2 VwVG sowie Art. 29 Abs. 3 BV verletzt, weil sie über das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege nicht nach dessen Einreichung, sondern erst
eineinhalb Jahre später und insbesondere nach Durchführung weiterer
kostenaufwändiger Verfahrensschritte befunden habe (vgl. nachfolgend E. 4).

3. 
Das Bundesverwaltungsgericht hat mit der Verneinung der Bedürftigkeit kein
Bundesrecht verletzt, woran die Einwände des Beschwerdeführers nichts ändern:

3.1. Insofern der Beschwerdeführer behauptet, die im gemeinsamen Haushalt mit
ihm und seiner Ehefrau wohnenden erwachsenen Kinder (Jahrgänge 1982 und 1984)
sowie die Schwiegertochter (Jahrgang 1986) seien allesamt arbeitslos und
verfügten über keinerlei Einkünfte, handelt es sich um blosse Behauptungen, die
nicht belegt sind. Unbehelflich ist in diesem Zusammenhang auch der Verweis auf
die gesetzliche Unterstützungspflicht gemäss Art. 328 ZGB, ist diesbezüglich im
vorliegenden Fall doch einzig das kosovarische Recht massgebend.

3.2. In Bezug auf die geltend gemachten Auslagen für die Autoversicherung hat
bereits die Vorinstanz darauf hingewiesen, dass diese im Grundbetrag enthalten
seien. Dass sie deshalb die geltend gemachten Auslagen um die gesamte
Jahresprämie von 300 Euro (und nicht bloss um den monatlichen Anteil von 25
Euro) gekürzt hat, liegt daran, dass der Beschwerdeführer selbst in seinem
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege fälschlicherweise die gesamte
Jahresprämie pro Monat in Abzug gebracht hat. Dasselbe gilt im Übrigen - was
die Vorinstanz ausser Acht liess - in Bezug auf die geltend gemachten
jährlichen Steuerauslagen in der Höhe von 124 Euro. Der Beschwerdeführer hat
auch diese fälschlicherweise als monatliche Auslage deklariert. Wird
diesbezüglich lediglich der korrekte Betrag von 10.3 Euro pro Monat in Abzug
gebracht, resultieren anrechenbare Auslagen in Höhe von 408.30 Euro bzw. Fr.
457.10.

3.3. Allfällige tiefere Lebenshaltungskosten sind bei der Berechnung der
Bedürftigkeit zu berücksichtigen, wobei auf offizielle, im Internet publizierte
Indexe (Kaufkraftparitäts- oder Preisniveauindizes) abgestellt werden kann. Das
Bundesverwaltungsgericht hat in Ermangelung konkreter statistischer Aussagen
über die Kaufkraft und das Preisniveau im Kosovo auf den Mittelwert
(Preisniveau 38 %) der Städte Bukarest und Sofia abgestellt. Willkür ist in
diesem Vorgehen nicht zu erblicken, erfordert die Annahme einer solchen doch,
dass der Entscheid nicht nur in der Begründung, sondern auch im Ergebnis
willkürlich ist (vgl. BGE 142 V 513 E. 4.2 S. 517 mit weiteren Hinweisen).
Einen aussagekräftigen Preisniveauindex für den Kosovo vermochten weder das
Bundesverwaltungsgericht noch der Beschwerdeführer vorzulegen. Immerhin
bestreitet dieser nicht, dass das Preisniveau im Kosovo wesentlich tiefer ist
als in der Schweiz. Bereits gestützt darauf ist der vorinstanzliche Schluss auf
das Fehlen einer Bedürftigkeit nicht abwegig. Aus der Gegenüberstellung von
Einnahmen (Fr. 2'540.35) und anrechenbaren Auslagen (Fr. 457.10; vgl. E. 3.2
hievor) resultierte selbst dann ein kleiner Überschuss in der Höhe von Fr.
43.25, wenn - den unbestritten bestehenden wesentlichen Unterschieden beim
Preisniveau nicht Rechnung tragend - der ungekürzte Grundbetrag von Fr. 1'700.-
sowie ein ungekürzter prozessualer Zuschlag von 20 % berücksichtigt würde.
Dass die vorinstanzliche Lösung zumindest im Ergebnis nicht willkürlich ist,
ergibt sich spätestens mit Blick auf die vom Bundesamt für Statistik
veröffentlichten Preisniveauindizes im internationalen Vergleich für das Jahr
2015. Gemäss diesen Erhebungen lag der tatsächliche Individualverbrauch im
Vergleich zwischen der Schweiz und den erfassten jugoslawischen
Nachfolgestaaten Kroatien, Slowenien, Montenegro, Mazedonien und Albanien in
einem Verhältnis von 172 zu 54.6 ([62+79+48+42+42]/5). Der tatsächliche
Individualverbrauch lag somit in diesen mit dem Kosovo vergleichbaren Staaten
unter einem Drittel des Schweizerischen Verbrauchs. Konkrete Anhaltspunkte,
dass sich dies in der Zwischenzeit geändert hat, sind nicht ersichtlich.

4.

4.1. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die Beurteilung eines
Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege zusammen mit dem Endentscheid bzw. im
Rahmen der Kostenregelung in denjenigen Fällen nicht zu beanstanden, in denen
das Gesuch mit der Eingabe in der Hauptsache verbunden wird und keine weiteren
Vorkehren des Rechtsvertreters erforderlich sind. Anders verhält es sich aber,
wenn der Rechtsvertreter nach Einreichung des Gesuchs gehalten ist, weitere
Verfahrensschritte zu unternehmen. In diesen Fällen ist es unabdingbar, dass
die Behörden über das Gesuch umgehend entscheiden, damit Klient und
Rechtsvertreter sich über das finanzielle Verfahrensrisiko Klarheit verschaffen
können, bevor der Gesuchsteller weitere, in erheblichem Masse Kosten
verursachende prozessuale Schritte unternimmt (vgl. Urteil 8C_911/2011 vom 4.
Juli 2012 E. 6.1 mit Hinweisen). Diese Grundsätze gelten sinngemäss auch, wenn
die Vorinstanz das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege nicht erst zusammen
mit dem Endentscheid beurteilt, indessen erst nachdem sie die versicherte
Person zu weiteren Verfahrensschritten aufgefordert hat.

4.2. Ohne vorgängig über das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege entschieden
zu haben, forderte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführer am 10.
Dezember 2015 auf, sich im Rahmen einer Replik zur Vernehmlassung der IVSTA vom
23. Oktober 2015 sowie zu den vom Gericht aufgeworfenen formellrechtlichen und
materiellrechtlichen Fragen zu äussern und weitere Beweismittel einzureichen
bzw. gegebenenfalls die Beschwerde zurückzuziehen. Nachdem der Beschwerdeführer
eine serbische Staatsangehörigkeit geltend gemacht und mit einer
Identitätskarte zu beweisen versucht hatte, gab die Vorinstanz diesem am 27.
Oktober 2016 sowie am 31. März 2017 zwei weitere Male Gelegenheit zur
Stellungnahme. Soweit somit die unentgeltliche Verbeiständung für die Aufwände
nach dem Zeitpunkt des Einreichens der Beschwerde - nicht aber für die
Beschwerdeschrift selbst - bis zur Zwischenverfügung vom 4. Mai 2017 verweigert
wurde, ist dies im Lichte des Ausgeführten nicht zulässig.

5. 
Auf die Erhebung von Gerichtskosten wird umständehalber verzichtet (Art. 66
Abs. 1 Satz 2 BGG). Das Bundesverwaltungsgericht bzw. die Schweizerische
Eidgenossenschaft hat dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren eine reduzierte Parteientschädigung auszurichten
(Art. 68 Abs. 1 BGG). Insofern wird das - vor Bundesgericht eingereichte -
Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung gegenstandslos.
Soweit der Beschwerdeführer mit seiner Beschwerde unterliegt, ist es
gutzuheissen, weil die Bedürftigkeit Thema des vorliegenden Entscheids war und
diese nicht mittels Zwischenentscheids materiell vorweggenommen werden konnte.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Mai 2017 wird insofern aufgehoben, als die
Bestellung von Rechtsanwalt Felix Barmettler zum unentgeltlichen
Rechtsvertreter vollumfänglich abgewiesen wurde. Die Sache wird an das
Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen, damit dieses über den Anspruch des
Beschwerdeführers auf unentgeltliche Verbeiständung im vorinstanzlichen
Verfahren im Sinne der Erwägungen neu verfüge. Im Übrigen wird die Beschwerde
abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
wird gutgeheissen, soweit es nicht gegenstandslos geworden ist. Rechtsanwalt
Felix Barmettler wird als unentgeltlicher Anwalt des Beschwerdeführers
bestellt.

3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4. 
Die Schweizerische Eidgenossenschaft hat den Rechtsvertreter des
Beschwerdeführers für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'400.- zu
entschädigen.

5. 
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 1'400.- ausgerichtet.

6. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der IV-Stelle für Versicherte im Ausland IVSTA
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 10. Juli 2017
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Pfiffner

Der Gerichtsschreiber: Williner

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